Extremismusprävention in der schulischen politischen Bildung

Politisches Lernen 3+4-2023: In der Schule gegen jeden Extremismus? Zur Extremismusprävention in Lehrplänen und Schulbüchern am Beispiel Nordrhein-Westfalen

In der Schule gegen jeden Extremismus? Zur Extremismusprävention in Lehrplänen und Schulbüchern am Beispiel Nordrhein-Westfalen

David Ostertag, Dominik Feldmann

Politisches Lernen, Heft 3+4-2023, S. 32-35.

 

Zusammenfassung

Extremismusprävention ist in der schulischen politischen Bildung in NRW inzwischen fest verankert. Dies wird in einer Lehrplan- und einer Schulbuchstudie belegt. Dabei wird untersucht, wie umstrittene Annahmen des Extremismuskonzepts in die schulische Bildung einfließen, und es werden die empirischen Befunde mit demokratietheoretischen und -praktischen Problemen der Extremismusprävention verknüpft und das Verhältnis zur politischen Bildung geprüft.

 

In NRW ist die Extremismusprävention ein fächerübergreifendes Handlungsfeld von Schulen. Die Qualitäts- und UnterstützungsAgentur – Landesinstitut für Schule NRW (QUA-LiS NRW) begründet das Vorhaben, Kinder und Jugendliche vor der Adaption extremistischer Einstellungen zu bewahren, damit, dass extremistische Gruppierungen in „der [Phase der] Adoleszenz und Identitätsfindung […] eine große Anziehungskraft und Faszination“ (QUA-LIS 2023) ausübten. Außerdem verweist das Institut auf die Verfassungsschutzämter, die die Gefahren des Extremismus für die „Grundprinzipien unserer Verfassungsordnung und die Grundwerte der freiheitlichen Demokratie“ (ebd.) hervorheben.

Extremismusprävention gewinnt seit den neunziger Jahren zunehmend an Bedeutung für die politische Bildungslandschaft in ganz Deutschland. Vom „Aktionsprogramm gegen Aggression und Gewalt“ bis „Demokratie leben“ und weiteren Programmen fördern Bund und Länder extremismuspräventive Demokratiebildung. Extremismuslogische Deutungen sind in den politischen Bildungsstrukturen inzwischen „vorherrschend“ (Bürgin 2021, S. 42). Während einschlägige Studien dies für die außerschulische Bildung bestätigen, ist der Status quo von Extremismusprävention in der Schule kaum erforscht. Jedoch finden sich Formulierungen für die Extremismusprävention als Querschnittsaufgabe aller Schulfächer in den meisten Bundesländern. Ferner ist der Extremismusbegriff inzwischen fester Bestandteil fast aller Lehrpläne für Fächer mit politischen Anteilen in Deutschland. Dies kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Kritiken am Konzept so alt sind wie dieses selbst (vgl. Feldmann, S. 10, 68–104, 244–276).

Grundlegend für das vergleichende Extremismuskonzept ist die Annahme, dass Demokratie und Staat durch die politischen Ränder des politischen Spektrums bedroht würden – Demokratie und Extremismus also antithetisch gegenüberzustellen seien. Demokratie würde daher dadurch geschützt, dass staatliche Apparate extremistische Einstellungen, Handlungen und Akteure bekämpfen. Dies geschieht eben nicht nur durch antiextremistische Sicherheitspolitik, sondern auch durch eine als Extremismusprävention konzipierte politische Bildung. Aber wird Demokratie so tatsächlich geschützt? Im Folgenden sollen Auszüge aus einer Lehrplan- und einer Schulbuchstudie1 mit einem Fokus auf NRW vorgestellt werden, um zu zeigen, dass eine am Antiextremismus orientierte politische Bildung demokratietheoretische und andere Defizite vorzuweisen hat.

Vor allem gegen Rechtsextremismus – oder doch nicht?

Beide Studien zeigen eine eindeutige Präsenz extremismustheoretischer Ideen in den untersuchten Materialien. In den für den sozialwissenschaftlichen Unterricht in NRW zugelassenen Schulbüchern finden sich ausnahmslos diskursive Bezüge zum Extremismuskonzept. Die Begriffe Extremismus und extremistisch werden durchgängig wörtlich verwendet und an keiner Stelle kontrovers eingeordnet. Mit teilweise unterschiedlichem Fokus wird mit den so definierten Formen des rechten und linken Extremismus sowie des Islamismus gearbeitet (vgl. Ostertag 2022, S. 54 f.). Dies ist wohl auch eine Konsequenz dessen, dass in allen Lehrplänen für Fächer mit politischen Anteilen der Sekundarstufe I in NRW klare Verweise anzutreffen sind, das Thema Extremismus im Unterricht zu behandeln. So heißt es bspw. für das Fach Gesellschaftslehre an Sekundar- und Gesamtschulen in den Inhaltsfeldern „Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg“ sowie „Sicherung und Weiterentwicklung der Demokratie“, dass „die Schülerinnen und Schüler Ursachen, Merkmale und Erscheinungsformen von Extremismus, Antisemitismus und gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit“ (MSB NRW 2020a, S. 55, 76) erläutern können sollen. Ferner sollen sie Gefährdungspotentiale durch Extremismus, „insbesondere durch Rechtsextremismus“ (ebd.) beurteilen können.

Dabei sind zwei Aspekte hervorzuheben: Erstens erscheint der Begriff Extremismus in den genannten Lehrplänen in einer Aufzählung, womit suggeriert wird, dass Extremismus eine von mehreren Bedrohungen der Demokratie sei. Den Antisemitismus erwähnen die Bestimmungen gesondert, obwohl dieser nach gängiger extremismustheoretischer Lesart einen Bestandteil der verschiedenen Extremismen darstellt (vgl. Stein 2017, S. 343). Mit der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit greifen die Lehrpläne wiederum auf ein Konzept zurück, mittels dessen eine Einteilung des politischen Raums in demokratisch und extremistisch nicht zwingend vorgenommen werden muss. Stattdessen können mit dem Konzept demokratiefeindliche Haltungen bzw. Ideologien der Ungleichwertigkeit in der gesamten Gesellschaft und auch in staatlichen Apparaten festgestellt werden. Dass entsprechende Einstellungen nicht nur an den politischen Rändern – und bei religiös motivierten Extremismen – anzutreffen sind, belegen unterschiedliche Studiendesigns seit vielen Jahren immer wieder (bspw. Decker et al. 2022 und Zick / Küpper 2021). Auf die Kategorie Extremismus müssen sich Lehrkräfte in der Bildungspraxis daher nicht zwingend reduzieren, um eine Auseinandersetzung mit gegenwärtiger Demokratiegefährdung anzustoßen. Dies zeigt sich auch in den Schulbüchern, z. B. wenn „Sowi NRW“ ein Kapitel den begrifflich paradoxen „extremistische[n] Tendenzen in der Mitte der Gesellschaft“ widmet (Baumann et al. 2018, S. 241 ff.; vgl. Ostertag 2022, S. 61). Wenn der Extremismus auch ein Phänomen der Mitte ist, widerspricht sich das Konzept partiell selbst, da Extremismus ja eigentlich im Kontrast zur gemäßigten Mitte konstruiert wird. Dies dürfte auch ein Grund sein, warum die Urheber des Konzepts Backes und Jesse den Extremismus der Mitte als „modisches Schlagwort“ (2005, S. 157) abtun. Die Mixtur verschiedener Begriffe und Variationen des Extremismuskonzepts stehen wohl auch für dessen Grenzen, mittels einer strikten Einteilung der politischen Sphäre in extremistisch und demokratisch politische Realitäten zu beschreiben.

Zweitens heben die genannten Lehrpläne und das Curriculum für das Fach Politik an Realschulen den Rechtsextremismus als Gegenstand schulischer politischer Bildung besonders hervor (vgl. MSB NRW 2020b, S. 23 f.). Für das vergleichende Extremismuskonzept ist prinzipiell das Äquidistanzprinzip maßgeblich, nach dem einseitige Abgrenzungen zu einer spezifischen Form des Extremismus zu vermeiden seien (vgl. Jesse 2007, S. 15 f.). Dieses Prinzip wird abgemildert, sofern der Rechtsextremismus in den Lehrplänen eine exponiertere Rolle gegenüber anderen Phänomenbereichen erhält, was als Abweichung vom gängigen Extremismuskonzept gedeutet werden könnte. Dagegen spricht, dass an anderen Stellen der Lehrpläne undifferenziert von „dem“ Extremismus die Rede ist. Gerade diese mangelnde Differenzierung des Antiextremismus erschwert einen realistischen Blick auf das politische Spektrum. So ist bspw. danach zu fragen, inwiefern die Äquidistanz einer „Lähmung des Kampfes gegen rechts“ (Seidel 2019, S. 87) Vorschub leistet. Die Geschichte des NSU deutet darauf hin, dass genau dies geschehen kann, indem der Verfassungsschutz, dessen Arbeitsgrundlage als antiextremistisch charakterisiert werden kann, „[n]icht trotz, sondern mit dem Extremismuskonzept […] neonazistische Strukturen finanziert, aufklärungsrelevantes Wissen zurückgehalten und die Aufklärung […] blockiert“ (Bürgin 2021, S. 26) hat. Sicherlich ist die primäre Aufgabe schulischer politischer Bildung nicht, einen „Kampf gegen rechts“ zu organisieren. Allerdings sollte sie auch nicht neutral sein und sich an „demokratischen Grundrechten und Menschenrechten orientier[en]“ (Hentges / Lösch 2021, S. 147). Wie dies mit dem extremismustheoretischen Prinzip der Äquidistanz in Einklang zu bringen ist, bleibt zweifelhaft.

1 Es handelt sich hier um einen Auszug aus einer Lehrplanstudie, die alle politisch bildenden Fächer der Sekundarstufe I in der Bundesrepublik berücksichtigte (vgl. Feldmann 2023). Die Schulbuchstudie (unveröffentlichtes Manuskript) führte David Ostertag für seine Masterarbeit an der Universität zu Köln im Jahr 2022 durch.

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