Erziehung im Kontext der Erwachsenenbildung

Bücherei

Erziehung: Eine (zu) dunkle Seite der Erwachsenenbildung

Henning Pätzold

Debatte. Beiträge zur Erwachsenenbildung, Heft 1-2023, S. 30-39.

 

Zusammenfassung
Im vorliegenden Beitrag wird untersucht, warum es schwierig ist, den Begriff der Erziehung in der Erwachsenenbildung zu verwenden. Hierbei wird kritisch auf die überkommene anthropologische Tradition der Bestimmung des Erziehungsverhältnisses eingegangen. Im Weiteren geht es darum, warum es umso wichtiger ist, die Tatsache der Erziehung auch im Kontext der Erwachsenenbildung zu thematisieren, und welche Chancen und Risiken es birgt, diesbezüglich den Begriff Erziehung zu verwenden. Eine besondere Rolle spielt dabei das Konzept der Freiwilligkeit. Im Zusammenhang mit dem Beitrag von Holzer belegt diese Replik darüber hinaus die Möglichkeit, die Robustheit einer Aussage durch deren Begründung entlang unterschiedlicher theoretischer Zugänge zu prüfen.

Erziehung · Erwachsen · Kind · Freiwilligkeit

 

1. Einleitung

Auch in der Erwachsenenbildung findet Erziehung statt. Dieser Einsicht kann man sich kaum verschließen. Selbst wenn man Erziehung als „Handlungen zwischen Erwachsenen und Unerwachsenen“ (Münchmeier 2017, 278) definiert und damit das Generationenverhältnis in den Mittelpunkt stellt (zum Überblick Oelkers 2004), müsste man anerkennen, dass in erwachsenenpädagogischen Situationen zumindest Jugendliche anzutreffen sind, die also per Definition der „unerwachsenen“ Seite dieses Verhältnisses zuzurechnen wären. Es soll deshalb im Folgenden nicht darum gehen, zu klären, ob in der Erwachsenenbildung erzogen wird, sondern wie diese Seite von Erwachsenenbildung beschrieben und gestaltet werden kann und was es für die Disziplin bedeutet.

Meine Antwort auf den Themenbeitrag von Daniela Holzer wird wenig grundlegende „Einsprüche“ (Holzer 2022, 97) formulieren, aber, so hoffe ich, einige Angebote zu „Erweiterungen und Ausdifferenzierung“ (ebd.) machen. Ich argumentiere im Folgenden auch unter Rückgriff auf Niklas Luhmanns Theorie sozialer Systeme: dessen Frage nach dem Medium der Erziehung lenkt unter anderem den Blick darauf, in welch vielfältigen Perspektiven insbesondere Kind als Bezeichnung und Bezeichnetes eine Funktion in der Theorie der Erziehung übernimmt (Abschnitt 2)1. Im dritten Abschnitt geht es dann um das Potenzial des Begriffs Erziehung in der Erwachsenenbildung. Vor allem kann dieser benennbar machen, was sonst zwar auch stattfindet, aber nicht recht adressiert werden kann, wie auch schon Holzer klar herausarbeitet. Konkretisiert wird dies im vierten Abschnitt über das Konzept der Freiwilligkeit. In einem kurzen Fazit (Abschnitt 5) soll noch einmal das Potenzial angedeutet werden, dass m. E. darin liegt, wenn theoretisch unterschiedlich angelegte Betrachtungen eines Sachverhalts unterschiedliche Aspekte des Terrains beleuchten und doch auch zu konvergierenden Ergebnissen kommen.

2. Erziehung als Grenzlinie zwischen Kind und Erwachsenem

Das Verständnis von Erziehung als Handlungsform, die auf einer hierarchischen Differenz beruht, reicht weit zurück und ist in der Kulturgeschichte, zumindest in der europäisch-abendländischen (Oelkers 2004, 303), fest verankert. Dabei wird durchaus die Eigenständigkeit derjenigen anerkannt, die man mitunter als ‚Zöglinge‘ bezeichnet hat, so bei dem Barockpädagogen Christian Gotthilf Salzmann, der Erziehung als die „Entwicklung und Übung der jugendlichen Kräfte“ (Salzmann 1996 [1806], 37; H. n. i. O.) bezeichnet – und eben nicht als deren Erschaffung oder Ähnliches. Diejenigen, die erzogen werden (dürfen, sollen oder müssen), weisen also bereits Merkmale dessen auf, was das Ziel der Erziehung ist, sie haben diese aber noch nicht in ausreichendem Maße realisiert. Diese Differenz zwischen Erziehenden und Erzogenen, die man in heutiger Begrifflichkeit als ‚Kompetenzunterschied‘ beschreiben könnte, wird in der Erziehungstheorie bis heute überlagert vom oben bereits genannten Generationenverhältnis, das sie auf je unterschiedliche Lebensabschnitte projiziert: Erwachsene erziehen, „Unerwachsene“ (Münchmeier 2017, 278) werden erzogen. Die Frage ist nun allerdings: Wird Erziehung tatsächlich ursächlich über das Generationenverhältnis begründet? Oder stellt dieses nur eine Art zusammenfassenden Indikator bzw. eine ‚Chiffre‘ dar, mit der eine nicht genau bestimmte Vielfalt von Merkmalen (z. B. Wissens-, Macht-, Statusunterschiede u. v. a. m.) bezeichnet wird, die die eine Seite des Erziehungsverhältnisses von der anderen unterscheidet?

Für Ersteres sprechen insbesondere biologische Argumentationen, die auch heute noch gelegentlich vertreten werden: Die Idee der „Instinktoffenheit“ (ebd., 278) etwa schließt an ältere Vorstellungen an, nach denen sich Erziehung beim Menschen aus einer Sonderstellung im Vergleich zu (anderen) Tieren als möglich und notwendig ableite. Der Mensch verfüge über eine vergleichsweise geringe Instinktausstattung, komme besonders unfertig zur Welt und wäre besonders lange an sorgende Eltern gebunden (Schröder 1995, 37–42). Dass die hier zugrunde liegenden biologischen Vorstellungen vielfach überholt oder zumindest zu unpräzise sind (so wird der Begriff Instinkt als Fachbegriff in der Ethologie entweder gar nicht mehr oder sehr viel differenzierter verwendet (Richards 2022, 3571)), ist lange bekannt (Scheunpflug 2001, 46). Auch deshalb wirken entsprechende Argumentationen aus der Allgemeinen Pädagogik, gerade auch dort, wo sie sich auf vermeintlich sichere biologische Argumente beziehen (z. B. Kaiser & Kaiser 2001, 10–26), eher als der nicht sehr überzeugende Versuch, einem historisch gewordenen Konzept von Erziehung nachträglich durch entsprechende Gewährsleute (und -disziplinen) mehr Gewicht zu verleihen.

Sollte dieser Eindruck zutreffen, spricht vieles für die zweite Interpretation eines erzieherischen Generationenverhältnisses: Die Grenze der Erziehung wird zwischen Kind und Erwachsenem gezogen, weil mit dem Begriffscontainer Kind all das aufgehoben werden kann, was benötigt wird, um die strukturelle und mit viel Macht aufgeladene Differenz zwischen Erziehendem und Erzogenem zu begründen. Dabei hilft es, dass es unzweifelhaft beobachtbare Unterschiede zwischen (typischen) Kindern und (typischen) Erwachsenen (Westphal 2021, 179) gibt, die teilweise auch geeignet sind Erziehungsverhältnisse zu plausibilisieren; allerdings wird dann immer noch nicht ein Kind erzogen, weil es ein Kind ist, sondern weil ihm Merkmale der Erziehungsbedürftigkeit und Erziehbarkeit zugeschrieben werden – und natürlich wird dieser Unterschied immer nur dann bedeutsam, wenn entweder bestimmte Kinder diese Eigenschaften nicht aufweisen, oder sie bei Adressat*innen festgestellt werden, die keine Kinder sind. Eine solche formale Funktion des Begriffs Kind findet sich vermutlich am konsequentesten in Luhmanns Vorschlag genutzt, „[d]as Kind als Medium der Erziehung“ (Luhmann 1991) zu definieren, um so das Konzept Erziehung im Rahmen seiner Theorie sozialer Systeme besser handhabbar zu machen. Sehr verkürzt gesprochen, stellt Luhmann in dem so betitelten Artikel unter anderem dar, dass aus einer gesellschaftstheoretischen Sicht nicht das Kind der Erziehung bedarf, sondern dass vielmehr ein Erziehungssystem zu seiner Konstitution das Kind braucht, und zwar als abstraktes Konzept.

Sowohl bei der Variante einer überkommenen pädagogischen Anthropologie2 als auch bei der systemtheoretischen Perspektive auf das zu erziehende Kind steht die Legitimation von Erziehung im Vordergrund: Betrachtet man den Menschen als „physiologische Frühgeburt“ (so eine oft wiederholte Formulierung Adolf Portmanns, hier zit. n. Schröder 1995, 39), dann ist der Bedarf an Erziehung, als Ausgleich zur vorgängigen Unterausstattung des Menschen, evident. Und versteht man das Kind als „eine semantische Einheit […], die man von den Organismen und den psychischen Eigentümlichkeiten der nachwachsenden Menschen unterscheiden muß“ (Luhmann 1991, 24), dann gewinnt man damit eine abstrakte Adressatin bzw. einen Adressaten, die bzw. der bereits durch die Semantik, mit der sie bzw. er aufgeladen ist, als erziehungsbedürftig ausgewiesen ist. Damit kommt vor allem zum Ausdruck: Erziehung ist die notwendige Reaktion auf ein Defizit. Auch die etwas positiveren Befunde, die Schröder „philosophisch-anthropologischer Ansatz“ betitelt (Schröder 1995, 42), ändern daran nichts. Letztlich ist Erziehungsbedürftigkeit damit eine Defizitbeschreibung. Und in dem Moment, in dem Erziehung nicht nur als Möglichkeit, sondern als Notwendigkeit formuliert wird, das Defizit also bearbeitet werden muss, ist der Empfang von Erziehung stigmatisierend (wie Thalheim (2023), in Bezug auf die Hilfen zur Erziehung sehr plastisch nachzeichnet). Zweifellos liegt ein Grund für die Zurückweisung des Erziehungsbegriffs in dieser stigmatisierenden Konnotation, sei es in der Erwachsenenbildung oder auch schon in der Antipädagogik. Sie soll deshalb im Folgenden genauer betrachtet werden.

In Luhmanns Zugang wird Stigmatisierung als Problem erkannt: In seiner früheren, durchaus etwas provokativen Argumentation wird herausgearbeitet, dass das Medium Kind u. a. notwendig ist, damit die Profession Pädagogik ihre Bedeutung belegen kann. Man könne „junge Menschen bilden, allerdings nur mit professioneller Assistenz“ (Luhmann 1991, 28)3; Kindern Erziehungsbedürftigkeit zu attestieren mag also angehen, das Gleiche über Erwachsene zu sagen wäre ungleich schwieriger. Die systemtheoretische Argumentation macht deutlich: Eine Profession, die sich der Bewältigung eines Defizits verschreibt, benötigt Begriffe, mit denen das Defizit und die, die es aufweisen, bezeichnet werden. So kann sie ihre Arbeit legitimieren. Deshalb kann sie die Stigmatisierung als Nebenwirkung des eigenen Handelns nie gänzlich aufheben.

1 Es ginge natürlich, wie so oft bei Theorieentscheidungen, vermutlich auch ohne (s. a. Abschnitt 5); gleichwohl ist mir nicht verständlich, warum systemtheoretisches Argumentieren in Holzers Beitrag mehrmals mit explizitem Bedauern zur Kenntnis genommen wird (ebd., 106–107) – ohne dass sie irgend­wie erläutern würde, was denn daran eigentlich so grundlegend schlecht sei.
2 So wird inzwischen zu Recht die mangelnde Reflexivität dieser anthropologischen Beiträge kritisiert: „Pädagogische Anthropologie dieser Jahre [ca. 1950-1970] reflektierte die historischen und gesellschaftli­chen Bedingungen ihrer Konstitution nicht genügend“ (Wulf & Zirfas 2014a, 32). Es ist das Verdienst einer umfassenden, historisch reflektierten Neubetrachtung der pädagogischen Anthropologie (s. a. Wulf & Zirfas 2014b; Noack Napoles, Schemmann & Zirfas 2021), hier (und auch in manch anderer Hinsicht) wei­terzugehen. Allerdings kann und möchte eine derart neu gefasste Anthropologie damit auch nicht mehr so etwas wie Erziehungsbegründungen mit überzeitlichem Geltungsanspruch liefern.
3 Es ist auffällig, dass Luhmann in dem zitierten Artikel die Begriffe Erziehung und Bildung nicht scharf voneinander trennt. Möglicherweise rührt das daher, dass er hier insgesamt in der Denktradition der Er­ziehung des Kindes bleibt und Aspekte wie Erwachsenenbildung nicht anspricht.

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