Fortschritt, Kontingenz, Dissipation: Zukunftskonzepte in Erwachsenenbildungsorganisationen
Julia Elven, Jörg Schwarz
Debatte. Beiträge zur Erwachsenenbildung, Nr. 8 (1-2022), S. 6-22.
Zusammenfassung
Die Erwachsenenbildung ist ihrer pädagogischen Kernidee nach der individuellen und kollektiven Zukunft verpflichtet – der konkrete Umgang mit Zukunft aber realisiert sich in Organisationen, wo ihre prinzipielle Unbestimmbarkeit auf die Notwendigkeit von Planung trifft. Der Beitrag differenziert drei übergreifende gesellschaftliche Zukunftskonzepte (Fortschritt, Kontingenz und Dissipation) und untersucht diese als latente, konkurrierende Orientierungen organisationaler Planungspraktiken.
Schlagwörter: Erwachsenenbildung/Weiterbildung · Zukunftspraktiken · Planung und Programme in Organisationen · Utopie · Dystopie
1. Einleitung
Eine wesentliche Funktion der Erwachsenenbildung besteht darin, gesellschaftlichen Wandel in individuelles Lernen zu übersetzen bzw. Zusammenwirken und Interferenz der beiden Prozesse zu strukturieren (Schäffter 1993). Bei der dazu notwendigen bildungskonzeptionellen bzw. -programmatischen Ausgestaltung und Organisation spielt eine entscheidende Rolle, wie Zukunft und der temporale Prozess des Eintretens, Entwickelns, Emergierens etc. des Künftigen gedacht und praktisch konzeptualisiert werden. Zeit- und Zukunftskonzepte sind sozial geteilte, teils explizierte, zumeist aber implizit bleibende Vorstellungen davon, nach welchen Prinzipien Künftiges gegenwärtig wird. Als intersubjektiv geteilte Wissensbestände existieren Zukunftskonzepte nicht nur in den Körpern der Akteur*innen, sondern durchziehen auch Institutionen, Konventionen und die materielle Umwelt. Auch wenn sie zumeist implizit bleiben, entfalten sie hohe Relevanz bei der Hervorbringung sozialer Praxis – etwa bei der Prospektion und Reflexion von Berufslaufbahnen, bei der Entscheidung für einen Bildungsweg, beim Weiterbildungsverhalten, aber auch bei der Planung und Durchführung von Angeboten in Erwachsenenbildungsorganisationen.
Für moderne Gegenwartskulturen sind zwei Begriffe von zentraler Bedeutung für die Vorstellung von Zukunft: Fortschritt verweist auf eine lineare Entwicklung hin zum Besseren, Kontingenz betont die prinzipielle Offenheit und Unbestimmtheit des Zukünftigen. Aktuell mehren sich nun aber die Hinweise darauf, dass zu diesen beiden konkurrierenden Zukunftskonzepten ein drittes hinzutritt, welches durch eine Dissipation der Zukunft gekennzeichnet ist, eine zunehmende Auflösung von Zukunftsvorstellungen und eine Zerstreuung gesellschaftlicher Entwicklungsentwürfe. Im vorliegenden Beitrag untersuchen wir diese drei Zukunftskonzepte als konkurrierende Modelle im gesellschaftlichen Diskurs und gehen der Frage nach, was diese für die gesellschaftliche Institution der Erwachsenenbildung und ganz konkret: für den Umgang mit Zukunft in Erwachsenenbildungsorganisationen bedeuten. Obgleich wir davon ausgehen, dass grundsätzlich sämtliche organisationalen Prozesse durch zugrundeliegende (implizite) Zukunftskonzepte bedingt sind, greifen wir in diesem Beitrag die Programmplanung als einen zentralen Prozess in Weiterbildungsorganisationen beispielhaft heraus, da sie in besonders exponierter Weise an der Schnittstelle gesellschaftlicher Zukunftskonzepte und organisationaler Zukunftspraktiken operiert.
Im Folgenden stellen wir zunächst die Zukunftskonzeption des Fortschritts (2.) und der Kontingenz (3.) vor und beziehen sie jeweils auf die Praxis der Programmplanung in Erwachsenenbildungsorganisationen. Abschließend wird ihnen die dritte, beständig an Relevanz gewinnende Zukunftskonzeption der Dissipation zur Seite gestellt (4.), deren Implikationen für die Organisationen der Erwachsenenbildung wir im Ausblick diskutieren (5.).
2. Zukunftskonzeption des Fortschritts
Zwar weist die Vorstellung von Zukunft als Fortschritt durchaus Variationsbreite auf, der aufklärerisch-moderne Grundgedanke bezieht sich jedoch auf die allgemeine, insbesondere erkenntnis- und technikbasierte Verbesserung menschlicher Seinsbedingungen.1 Immanuel Kant setzt den „Fortschritt vom Schlechteren zum Besseren“ (Kant 1964[1786], 92) als Menschheitsbestimmung voraus, die allerdings durch rationale Verstandesarbeit, technische Innovation etc. aktiv realisiert werden muss. Diese Dualität einer mehr oder weniger zwingenden (anthropologischen, evolutionistischen, sozialontologischen, geschichtsphilosophischen etc.) Fundierung der Steigerungsbewegung einerseits und deren Erzeugungs- bzw. Bearbeitungsnotwendigkeit andererseits ist konstitutiv für die moderne Fortschrittsidee (Koselleck 2004 [1975]). Fortschritt und Kontingenz schließen sich also nicht aus: Innovationen können fehlschlagen oder sich in ihr Gegenteil verkehren, Rückschritte auf dem Fortschrittsweg sind immer möglich. Insofern wird die Zukunftskonzeption des Fortschritts erst durch eine spezifisch modernistische, fortschrittsoptimistische Praxis katalysiert, in deren Kontext die Möglichkeit eines Rückschritts zwar nicht ausgeschlossen, jedoch als weniger wahrscheinlich eingehegt wird (siehe z. B. Nassehi 2003).
Gesellschaftlich weithin wirksame, zumeist implizit bleibende modernistische Vorstellungen, etwa die Annahme einer universellen Rationalität, die lineare Fortschrittsentwicklungen evoziert (Elven 2020), vor allem aber die Kultur einer organisierten Moderne (Wagner 1995) mit ihrer ausgeprägten Konventionalisierung und Institutionalisierung von Lebensverläufen, Gesellschaftsbereichen und sozialen Positionen trug bis Mitte des 20. Jahrhunderts zur praktischen Verringerung von Kontingenzerfahrung bzw. zur Invisibilisierung von Kontingenz bei. Das Bildungssystem, nicht zuletzt auch die organisierte Erwachsenenbildung, dient dabei als Treibriemen zwischen persönlicher und gesellschaftlicher Entwicklung und gilt insofern als wesentlicher Motor der Fortschrittsbewegung (Parsons 1971). In der organisierten Moderne kumuliert daher auch eine klassische Utopie erziehungswissenschaftlichen Denkens:
„Die Verbesserung der Welt wird abhängig gemacht von der richtigen Erziehung. […] Die Attribuierung ist nicht limitierbar, jede neue Idee des Guten kann zum Gegenstand pädagogischer Erwartungen gemacht und es muß nur vorausgesetzt werden, die richtige Erziehung sei möglich und sie sei das Transportband des Guten.“ (Oelkers 1990, 2).
2.1 Programme als Inkarnation des organisationalen Umgangs mit einer planbaren Zukunft
Organisationen bearbeiten die Offenheit der Zukunft, indem sie gegenwärtig Entscheidungen treffen. Die aufklärerisch-moderne Zukunftskonzeption des Fortschritts betont dabei die Möglichkeit, zukünftige Entwicklungen absehbar, durch sorgfältige Planung beherrschbar und vor allem auch verwertbar zu machen. Organisationen haben vor diesem Hintergrund einen besonderen Zugang zum Umgang mit Zukunft entwickelt, der sich regelhaft planvoll-reflexiv vollzieht und spezifische Verfahren und Technologien zum Einsatz bringt. Im klassischen Managementprozess leiten sich erst aus den Entscheidungen der (strategischen) Planung sequenziell sämtliche Folgeentscheidungen in den Bereichen Organisation, Personal, Führung und Kontrolle ab (Schreyögg & Koch 2020). Planung stellt damit die zentrale Form des organisationalen Umgangs mit Zukunft im 20. Jahrhundert dar (van Laak 2008).
Eine ähnlich grundlegende Bedeutung kommt in Organisationen der Erwachsenenbildung der Programmplanung zu, die zugleich eine der zentralen Spezifika der Zukunftskonstitution darstellt, denn das Programm kann als ein in die Zukunft gerichtetes „Leistungsversprechen“ (Nolda 2018, 293) der Erwachsenenbildungsorganisation aufgefasst werden. Programme sind an der Grenze von Erwachsenenbildungsorganisationen und ihrer gesellschaftlichen Umwelt verortet und stellen den Dreh- und Angelpunkt zwischen organisationalen Praktiken der Zukunftsbearbeitung und der Realisierung des utopischen Kerns der Erwachsenenbildung in konkreten Bildungsangeboten dar. Deshalb wird die Programmplanung im Folgenden als ein Beispiel dafür fokussiert, wie sich latente Zukunftskonzeptionen in organisationalen Zukunftspraktiken zeigen.
2.2 Planung zwischen Zielprojektion und Suchbewegung
In den Debatten zur Programmplanung der 1970er Jahre tritt der Bezug auf eine übergreifende Zukunftskonzeption im Sinne gesellschaftlichen Fortschritts deutlich hervor:
„Selbstverständlich wird man schrittweise vorgehen, wenn man Innovationen des Bildungswesens anstrebt. Diese Schritte werden aber unsicher und zufällig sein, wenn keine Zukunftsvorstellungen vorhanden sind und zur Geltung kommen. Soll es nicht um taktisch bedingte Aktivitäten gehen, sondern um Verbesserungen auf lange Sicht, dann genügt es nicht, auf die Ausgangsbedingungen zu reagieren, dann muß an Zielprojektion orientiert geplant werden. Sie müssen allerdings erkennen lassen, von welchen Annahmen darüber ausgegangen wird, wie unsere Gesellschaft strukturiert ist, wie sie sich voraussichtlich entwickeln wird, was uns als wünschenswert, d.h. menschwürdig erscheint, auf welchen Wegen und mit welchen Schritten die Ziele erreicht werden sollen.“ (Tietgens 1970, 83)
Diese unmittelbare Bindung des Erwachsenenbildungssystems an Fortschritt im Sinne eines kollektiven Prozesses der Modernisierung setzt seinerseits die Betonung der grundsätzlichen Gestaltbarkeit von Zukunft voraus, die Bildungsprozesse insofern erforderlich macht als „der hohe Grad des Veränderlichen zu einem hohen Grad des Bewußtseins vom Veränderbaren herausfordert“ (ebd., 21; H. i. O.). Das Individuum erkennt also vor allem im Verhältnis zu einer sich dynamisch fortentwickelnden Gesellschaft das eigene Potenzial, den Fortschritt auch aktiv mitzugestalten. Die hierzu notwendige Wissensgrundlage vermittelt wiederum die Erwachsenenbildung, wobei gerade das „Überschußwissen als dynamisches Potential“ (ebd.) dient: Die Planung von Angeboten dürfe sich gerade nicht darauf beschränken, nur jene Bedürfnisse zu befriedigen, die den Adressat*innen „von den Umständen aufgenötigt“ (ebd.) werden, sie solle bei ihnen vielmehr ein „Potenzial spontaner Selbstgestaltung“ (ebd.) aufbauen. In der Gegenüberstellung von subjektiven Bedürfnissen der Adressat*innen und objektiven Bedarfen des gesellschaftlichen Fortschritts wird eine dynamische Leerstelle ausgemacht, die zu füllen den Organisationen der Erwachsenenbildung obliegt.
Programmplanung als reine Ableitung gesellschaftlicher Entwicklungsziele birgt hingegen Probleme, weil sie Gefahr läuft, die Zukunftsgestaltung der Definitionsmacht aktueller Politik zu unterstellen. In Auseinandersetzung mit Konzepten des Club of Rome, die dem Bildungssystem eine zentrale Rolle in der Bewältigung der Nachhaltigkeitskrise zusprechen (Peccei 1979), macht Horst Siebert deutlich, dass mit der Zuweisung der Aufgabe gesellschaftlicher Krisenbewältigung an die Erwachsenenbildung eine Problemverschiebung und gefährliche Pädagogisierung einhergeht, bei der die Erwachsenenbildung Gefahr laufe, zur „sozial-therapeutischen Reparaturwerkstatt instrumentalisiert zu werden“ (Siebert 1983, 220). Gleichzeitig zeigt sich jedoch im öffentlichen Diskurs eine Kritik an mangelnder Zukunftsorientierung der Programmgestaltung in Erwachsenenbildungsorganisationen; bemängelt wird, dass „die Einrichtungen der Erwachsenenbildung auf gesellschaftliche Entwicklungen mit einer zeitlichen Verzögerung reagieren und kaum eine Schrittmacherrolle wahrnehmen, indem sie Themen ‚von morgen‘ aufgreifen“ (ebd., 223).
Zukunftspraktiken der Programmplanung können sich also zunächst verwirklichen als eine Ermöglichung von Fortschritt: Diese vollzieht sich im Spannungsfeld von allgemeinen, insbesondere durch die professionelle Gemeinschaft geleisteten gesellschaftlichen Entwicklungsdiagnosen und den individuellen Bedürfnislagen der Adressat*innen. Der vollständigen curricularen Festschreibung muss deshalb eine Absage erteilt und an ihre Stelle eine in konsequenter Teilnehmendenorientierung sich realisierende Zukunftsbearbeitung in Form der Hans Tietgens’schen Suchbewegung gesetzt werden.
1 Hierzu existiert eine lange Diskurstradition, u. a. auch zu ebenfalls modernen Gegenpositionen wie Niedergang oder zur Fortschrittskritik, die wir hier nicht näher aufarbeiten können (siehe z. B. Koselleck 2004 [1975]).
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