„Die Geisteswissenschaften müssen in Anbetracht der Klimakrise die zivilisatorischen Prozesse neu beschreiben.“ – Interview mit Andrea Günter zu „Gerechtigkeit und die Ökologie des Ökonomischen“

Interview mit Andrea Günter zu " Gerechtigkeit und die Ökologie des Ökonomischen. Ökofeminismus, Klimaethik, Feministische Geldtheorie"

Warum muss Klimapolitik auch ein Bewusstsein für die Kategorie Geschlecht haben und was genau ist feministische Geldtheorie? Wir haben ein Interview mit Autorin Andrea Günter zu ihrem neuen Buch Gerechtigkeit und die Ökologie des Ökonomischen. Ökofeminismus, Klimaethik, Feministische Geldtheorie geführt.

 

Interview mit Andrea Günter

 

Liebe Andrea Günter, worum geht es in Gerechtigkeit und die Ökologie des Ökonomischen?

Das Buch hat drei Schwerpunkte, nämlich Ökofeminismus, Klimaethik und Feministische Geldtheorie. Diese Kombination scheint auf den ersten Blick zufällig. Die drei Themenfelder haben jedoch einen gemeinsamen Bezugspunkt: die Gerechtigkeit.
So fordert der Klimawandel dazu heraus, neu über Gerechtigkeit nachzudenken: Wie müssen Menschen, wie die Dinge, wie Menschen und die Dinge neu miteinander in Beziehung gesetzt werden, wenn sich das Verhältnis der Dinge durch Extremwetterereignisse verändert und dadurch die Grundlagen des menschlichen Lebens gefährdet sind? – Wie im Ahrtal sind etwa Hausbesitzer*innen weltweit mit Hochwasserereignissen konfrontiert. Sie brauchen neue Schutzvorkehrungen, was die Sicherheit ihrer Wohnsituationen betrifft. Durch die Schäden, die das Wetter hervorbringt, verändern sich Bauweisen, die Infrastrukturen müssen abgesichert, neue müssen erfunden werden, usw.
Zusammen mit der Beziehung zwischen den Dingen verändert sich zugleich auch das Verhältnis der Menschen zu diesen und letztlich ihr Verhältnis zueinander: das Schutzbedürfnis wird größer und die Sorgetätigkeiten müssen intensiviert werden. Diesem Prozess gegenüber braucht es eine tragfähige Haltung. Der Reflexionshorizont der Gerechtigkeit erlaubt es, eine solche Haltung zu präzisieren, um Anpassungsmaßnahmen und neue Abhängigkeiten bejahen zu können. In diesem Buch versuche ich, die ethischen Weichenstellungen dafür zu umreißen.
Klimagerechtigkeit zu entwickeln, geht damit einher, Ökonomiekonzepte zu befragen. Diese Sichtweise verfolge ich im ersten Teil, indem ich Ariel Sallehs Kriterien für einen Ökofeminismus aufgreife, allem voran ihre Kritik an der Logik des ökonomisch Einen. Um dieser Logik die vielschichtige Verflochtenheit des Ökonomischen entgegenzusetzen, zeige ich das Ökonomische als ein spezifisches ökologisches Gefüge auf, das zugleich als ein Teilgefüge des umfassenderen Gefüges „menschliches Leben auf dem Planeten Erde“ verstanden werden muss.
Hierzu rekonstruiere ich Aristoteles‘ Idee des Ökonomischen, die immer noch die Grundfigur vieler ökonomischer Konzepte bildet. Diese Rekonstruktion lässt sich einerseits mit einer Patriarchatskritik verbinden. Andererseits kann mit Hannah Arendts Paradigma der Gebürtigkeit und Sallehs ökofeministischen Kriterien das Ökonomische als ein umfassendes generationengebundenes Geflecht bestimmt werden. Salleh, aber auch Bruno Latour und Nikolaj Schultz sprechen von einer gesellschaftspolitischen, nämlich ökologischen Klasse, die sich derart konstituiert.

 

Wie kamen Sie auf die Idee, dieses Buch zu schreiben? Gab es einen „Stein des Anstoßes“?

Es gab gleich mehrere Anstoßsteine. Erstens ist Sallehs Konzept des Ökofeminismus kaum weiterentwickelt worden, was ihre zentralen Kritikpunkte an einer patriarchalen Ökonomiekultur betrifft.
Dann zeigt zweitens der öffentliche Diskurs über Klimapolitik, vor allem der ständige Vorwurf gegenüber den Grünen, sie wollten eine Verbotspolitik, wie unaufgeklärt unsere Gesellschaft ist, was ethische Reflexionsmöglichkeiten betrifft. Die Möglichkeiten der Reflexionskompetenz Gerechtigkeit und ihre Bedeutung für Klimadiskurse stelle ich darum im zweiten Teil vor. Mein Schwerpunkt liegt dabei auf der Wichtigkeit der Gemeingüter und fokussiert, wie Individuelles und Allgemeines auf neue Weise miteinander verbunden werden kann. Ein wesentlicher Anker dafür ist eine tugendpolitische Ethik, ebenso eine Infrastrukturethik. Wir müssen die Sorge für die Infrastrukturen, die in städtischen und industriellen Kontexten den geteilten „Fischteich“ bilden, zu einem zentralen Aspekt der Klimaethik und -politik erheben.
Der dritte Anstoß ist, dass in der Feministischen Ökonomiekritik das Thema Geld kaum behandelt wird, was im Kontext einer zunehmenden Geldwirtschaft fatal ist. Mir ist es hierbei wichtig, die Wirkungen einer zunehmenden Geldwirtschaft nicht vorschnell mit denen des Kapitalismus zu identifizieren. Vielmehr kann Geld als ein Medium im Geflecht von Menschen und Dingen verstanden werden, das einen wesentlichen Transformationsfaktor für Klima- und Geschlechterpolitik darstellt, rückt man seine Gerechtigkeitsgebundenheit in den Vordergrund.

 

Sie schreiben, wenn in der Klimapolitik nachhaltige ökonomische Konzepte entwickelt werden sollen, müssen sie die Kategorie Geschlecht berücksichtigen und Klimaverhältnisse gendersensibel analysieren. Gibt es diesbezüglich bereits Ansätze?

Sei es die Subsistenz-, die Care- oder die Postwachstumsperspektive (um nur einige wenige zu nennen), dass die Kategorie Geschlecht berücksichtigt und Klimaverhältnisse gendersensibel analysiert werden müssen, ist in den unterschiedlichen feministischen Klimadiskursen Common Sense. Die jeweiligen Diskurse unterscheiden sich darin, wie sie das Verhältnis von Geschlecht und Klimaverhältnissen jeweils situieren, und ergänzen sich immer wieder.
Was nun meine eigene Herangehensweise in diesem Buch betrifft, so gehe ich über eine feministische Kritik an vorhandenen ökonomischen Strukturen hinaus. Am besten bringt meine Perspektive die folgende Erklärung von Bruno Latour und Nikolaj Schultz auf den Punkt: Die Geisteswissenschaften müssen in Anbetracht der Klimakrise die zivilisatorischen Prozesse neu beschreiben – die Prozesse also, mit denen Gesellschaften sich „reproduzieren“.
Um zivilisatorische Prozesse neu zu beschreiben, dafür muss gesichtet werden, wie Geschlechterverhältnisse mit der „Reproduktion“ der Gesellschaft zusammenhängen. Es drängt sich regelrecht auf, hier Salleh und Arendt zu folgen. Statt „dem Vater“ kann die Gebürtigkeit, die Klasse der „mütterlich Tätigen“ (Salleh) und die Vielgestaltigkeit der generativen Sorge für die Welt stark gemacht werden.
Da zugleich die Verarbeitungsweisen des Faktors Gerechtigkeit zum Zivilisationsprozess gehören, ist es notwendig, die Schnittstelle von Ökonomie und Gerechtigkeit zu bearbeiten. Das ist eine Voraussetzung dafür, den Patriarchalismus gesellschaftlicher Natur-, Geschlechter- und Ökonomieverhältnisse zu überwinden.

 

In Ihrem Buch erörtern Sie eine feministische Geldtheorie. Was zeichnet diese aus?

Es hat mich gereizt, Geld als Aspekt von Gerechtigkeit sowie als Abstraktionsleistung zu rekonstruieren. Und dafür die patriarchalen Strukturmomente in den Geschlechter-Geld-Verhältnissen zu analysieren. Das eröffnet wichtige Perspektiven für eine feministische Ökonomietheorie und für Klimaökonomiepolitik. Zugleich präzisiert diese Sichtweise auf Geld das Verständnis von Gerechtigkeit.

 

Darum bin ich Autorin bei Budrich

Ich habe schon bei meiner ersten Budrich-Veröffentlichung „Philosophie und Geschlechterdifferenz. Auf dem Weg eines genealogischen Geschlechterdiskurses“ sehr gute Erfahrungen mit dem Verlag gemacht und freue mich darüber, dass auch bei diesem Buch die Zusammenarbeit sachkundig, verbindlich und unkompliziert ist.

 

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Gerechtigkeit und die Ökologie des Ökonomischen. Ökofeminismus, Klimaethik, Feministische GeldtheorieAndrea Günter:

Gerechtigkeit und die Ökologie des Ökonomischen.

Ökofeminismus, Klimaethik, Feministische Geldtheorie

Leseprobe

 

 

 

Die Autorin: Andrea Günter

Andrea GünterPrivatdozentin für Philosophie, u.a. an der Universität Freiburg; freischaffende Autorin und Referentin in der beruflichen Fort- und Weiterbildung; Coaching-, Teamentwicklungs- und Moderation. Website: https://andreaguenter.de/.

 

 

Über das Buch

Frauen sind besonders vom Klimawandel betroffen: Die durch die Veränderungen ausgelösten Krisen drängen sie in überkommene Geschlechterverhältnisse. Darum muss Klimapolitik nicht nur eine Neukonzeption des Ökonomischen vorantreiben, sondern auch mit einer Patriarchatskritik einhergehen, die bis in die Konzepte von Gerechtigkeit hineinwirkt. Wenn nachhaltige ökonomische Konzepte entwickelt werden sollen, müssen sie die Kategorie Geschlecht berücksichtigen und Klimaverhältnisse gendersensibel analysieren. Für eine neue Sichtweise werden Ariel Sallehs Konzept des Ökofeminismus und Hannah Arendts Vita activa herangezogen. Die Güter- und Tugendethik wird klimaethisch aktualisiert und eine Feministische Geldtheorie erörtert.

 

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© Foto Andrea Günter: privat | Titelbild gestaltet mit canva.com