„Gerechtigkeit und die Ökologie des Ökonomischen“: Leseprobe

Leseprobe Günter Gerechtigkeit und die Ökologie des Ökonomischen

Was braucht es, damit Klimapolitik geschlechtergerecht gestaltet wird? Eine Leseprobe aus Gerechtigkeit und die Ökologie des Ökonomischen. Ökofeminismus, Klimaethik, Feministische Geldtheorie von Andrea Günter.

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I. Gerechtigkeit und die Ökologie des Ökonomischen. Ökofeminismus, Klimaethik, Feministische Geldtheorie

Die Menschen wissen, dass sie eine andere Erde bewohnen. (Bruno Latour und Nikolaj Schultz)

Der Klimawandel erfordert eine Neukonzeption des Ökonomischen – über diese Erkenntnis verfügt die Welt seit dem Bericht des Club of Rome zur Lage der Menschheit im Jahr 1972. Ebenso ist es unverkennbar, dass Frauenweltweit am stärksten vom Klimawandel betroffen sind.1 Dies wiederum zeigt, dass überkommene Geschlechterverhältnisse nach wie vor reproduziert werden. Um nachhaltige ökonomische Konzepte entwickeln zu können, müssen daher die Kategorie Geschlecht berücksichtigt und Klimaverhältnisse gendersensibel analysiert werden.2

Klimapolitik geht unweigerlich mit Geschlechterpolitik einher. Die Frage ist, mit welcher. Um dies zu präzisieren, muss Klimapolitik von einer Patriarchatskritik flankiert werden, die bis in die Konzeption von Gerechtigkeit hineinreicht.

Gerade für die Geisteswissenschaften beinhaltet die Auseinandersetzung mit Klimawandel und Klimapolitik eine umfangreiche Aufgabenstellung. Als Herausforderung für die Konzeption von Klimapolitik formulieren Bruno Latour und Nikolaj Schultz daher:

Das Neue Klimaregime verlangt, die Prozesse der Zivilisation neu zu beschreiben, kraft derer die Gesellschaften sich reproduzieren und weiterbestehen.3

Zu dem Projekt, die Prozesse der Zivilisation neu zu beschreiben, wollen die Ausführungen dieses Buch beitragen. Dass die Prozesse, mit denen Gesellschaften sich reproduzieren, neu beschrieben werden müssen, ist geradewegs eine Folge davon, dass politische und ökonomische Zusammenhänge zusammen mit Naturbeziehungen patriarchal geprägt sind. Eine solche Neubeschreibung fordert dazu heraus, Alternativen zur patriarchalen Verfasstheit der Welt zu entwickeln. Dies betrifft die Vorstellungen von Generationen- und Geschlechterverhältnissen, Politik, Ökonomie, Naturbeziehungen und zuletzt die Vorstellung vom Ethischen.

Die drei Schwerpunktthemen dieses Buches, I. Die Ökologie des Ökonomischen und Ökofeminismus, II. Klimaethik und III. Feministische Geldtheorie widmen sich diesem Projekt.

Die Zusammenstellung der drei Schwerpunkte mag auf den ersten Blick zufällig erscheinen. Ihren gemeinsamen Nenner bildet die Kategorie, die seit der Antike als höchste der Tugenden betrachtet wird, weil sie eine der komplexesten ethischen Reflexionskompetenzen erfordert: die Gerechtigkeit.

Die Orientierungsmöglichkeiten der Suche nach mehr Gerechtigkeit zu rekonstruieren, führt dazu, zivilisatorische Prozesse neu zu beleuchten. Denn das Streben nach Gerechtigkeit will Unrecht überwinden. Das aber zielt auf die Transformation von Praktiken der Generationen- und Geschlechterverhältnisse, der Politik, der Ökonomie, des Geldes, der Ethik, der Naturbeziehungen sowie der Verschränkung all dieser Faktoren.

Das Schwerpunktthema I. Ökofeminismus greift hierzu Ariel Sallehs Kritik an einer ökonomischen Theorie auf, die der Logik des Einen folgt. Salleh kritisiert nämlich an Marx, dass er das Ökonomische auf „Produktion“ reduziere und dieser lediglich die „Reproduktion“ entgegensetze. Spätestens mit Marx wird das Ökonomische über die ökonomische Kategorisierung „Produktion“ definiert.

Um die öko-feministische Bedeutung der Kritik an der ökonomischen Logik des Einen zu erschließen, bietet es sich an, die Vorgeschichte von Marx und darum das Ökonomiekonzept des Aristoteles zu rekonstruieren. Denn Aristoteles zieht explizit die Verbindung von Patriarchat, Naturbeziehungen und Ökonomie. Er konzipiert jenen ideellen Patriarchalismus, der die politischen und ökonomischen Geschlechterverhältnisse seit Jahrtausenden prägt. Um dieses Gefüge nunmehr zu gründen, erhebt Aristoteles eine einzelne Figur des menschlichen Beziehungsgefüges zum Definitionspunkt der Gesamtkonstellation: den (Haus-)Vater. Die Logik des Einen hat in der Gründungsfigur „Hausvater“ ihre metaphysische Grundlage, auch für den Bereich des Ökonomischen.

Andererseits kann entlang der beiden aristotelischen Schriften Nikomachische Ethik und Politik ein Diskurs über das Ökonomische fruchtbar gemacht werden, der die Wechselbeziehungen der drei grundlegenden ökonomischen Bereiche „Haushalt“, „Handwerk“ und „Handel“ in den Blick nimmt. Aristoteles thematisiert dabei das autopoetische Moment des Ökonomischen: dessen „natürliche Selbstgenügsamkeit“ (I.3).4 Verfolgt man diese Sichtweise, wird das Ökonomische als ein ökologisches Gefüge erkennbar. Das Konzept der „Ökologie des Ökonomischen“ lässt sich als Alternative zur „Ökonomie des Einen“ ausarbeiten.

Für Aristoteles stellt dabei Gerechtigkeit den leitenden zwischenmenschlichen Faktor dar, der das Ökonomische strukturiert. Allerdings vernachlässigt er die genauere Erörterung dieser Dimension in seiner Schrift Politik. Die Verbindung von Ökonomie und Gerechtigkeit kann jedoch genauer geklärt werden, geht man seinen Hinweisen in der Politik auf seine Schrift Nikomachische Ethik nach. Den Zusammenhang zwischen beiden Schriften zu rekonstruieren, erlaubt es auch, den Patriarchalismus aufzudecken, der sogar sein Gerechtigkeitskonzept leitet.

Des Weiteren kann mit der Kritik an Aristoteles’ ökonomischen Patriarchalismus die Bedeutsamkeit von Sallehs zweiten, auf den ersten Blick vielleicht eher irritierenden Impuls erfasst werden, nämlich ihre Empfehlung, die „mütterliche Klasse“ als politische Kraft zu profilieren (I.2; I.6). Um die Relevanz dieses Impulses richtig einzuschätzen, ist es notwendig, „mütterliches Tun“ nicht länger im Horizont patriarchalischer Mutterbilder zu verstehen. „Mütterliches Tun“ muss regelrecht neu verankert werden. Hierzu werden systematisch Hannah Arendts Ausführungen zur Gebürtigkeit herangezogen.

Im Horizont von Gebürtigkeit wird deutlich, dass Menschen in Form von Generationenbeziehungen zusammenleben und tätig sind. Dies stellt die zwischenmenschliche Bedingung dar, vor der sich die zivilisatorischen Prozesse und folglich auch jedes ökonomische Handeln rechtfertigen muss. Ein neues Verständnis von den Charakteristika des „mütterlichen Tuns“ kann dazu beitragen, das ökologisch-genealogische Gefüge von Menschen, dem Politischen, dem Ökonomischen und Naturbeziehungen neu zu profilieren.

Arendts Ausführungen in ihrer Schrift Vita Activa sind aber auch aus weiteren Gründen aufschlussreich. Zwar übernimmt Arendt Aristoteles’ dreiteilige Unterscheidung der ökonomischen Sphären als Arbeiten, Herstellen und Handel. Allerdings ersetzt sie den „Handel“ durch das „Handeln“. Wie zu zeigen sein wird, setzt sie damit „Gerechtigkeit“ als dritte, nämlich politische Grundtätigkeit des menschlichen Lebens wieder direkt als ökonomischen Faktor ein. Die von Aristoteles unterschiedenen drei Grundtätigkeiten werden derart als Verschränkung von Ökonomie, Politik und (Gerechtigkeits-)Ethik erkennbar. Seine konzeptionelle Separation von Ökonomie und Politik bzw. von Ökonomie und Ethik wird hinfällig.

Vor diesem Hintergrund erschließt sich das zweite Schwerpunktthema dieses Buches: die Klimaethik. Gerechtigkeit auf neue Weise öko-politisch zu verstehen, erweist sich als entscheidend für klimapolitische Diskurse und politische Entwürfe. Zwar scheint die Herstellung des Zusammenhangs zwischen Klimapolitik und „Klimagerechtigkeit“ beinahe selbstverständlich. Allerdings wird der Faktor Klimagerechtigkeit viel zu eng gefasst, wenn diskutiert wird, dass die Anpassungsvorgänge an neue Klimasituationen „sozial verträglich“ gestaltet werden sollen und dieser Aspekt zugleich als „aber“ formuliert wird: „Mehr Klimaschutz – aber sozialverträglich“ (Tagesschau, 03. 08. 2023). Denn wie zu zeigen sein wird, muss der Faktor Gerechtigkeit als wesentliches Strukturelement des Ökonomischen auf eine Weise sichtbar werden, die verdeutlicht, dass die Notwendigkeit einer Klimapolitik eine direkte Folge von zwischenmenschlichen Ungerechtigkeiten ist und diese darum als Ursache des Klimawandels deklariert werden müssen.

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1 In feministischen Analysen herrscht hierzu Einmütigkeit, vgl. Alber u. a., Geschlechtergerechtigkeit und Klimapolitik, 40–47; Çağlar, Varela, Schwenken, Geschlecht – Macht – Klima, 7–23.; Hofmeister, Katz, Mölders, Geschlechterverhältnisse und Nachhaltigkeit, a.a.O.; Röhr, Alber, Göldner: Gendergerechtigkeit als Beitrag zu einer erfolgreichen Klimapolitik, TEXTE 23/2018.; Röhr, Alber, Geschlechterverhältnisse und Klima im Wandel, 112–127.

2 Friedrich, Mit uns die Zukunft, 154–159.

3 Latour, Schultz, Zur Entstehung einer ökologischen Klasse, 20.

4 In den Ausführungen dieses Buches werden alle Quellen, auf die diese Einleitung Bezug nimmt, genau eingeführt, zitiert und nachgewiesen. Darum wird darauf verzichtet, schon hier die Einzelnachweise aufzuführen.

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3D Cover Andrea Günter Gerechtigkeit und die Ökologie des Ökonomischen 150 pxAndrea Günter:

Gerechtigkeit und die Ökologie des Ökonomischen. Ökofeminismus, Klimaethik, Feministische Geldtheorie

Interview mit der Autorin

 

 

 

Die Autorin

Andrea GünterPD Dr. phil. Dr. theol. Andrea Günter, Privatdozentin für Philosophie, u.a. an der Universität Freiburg; freischaffende Autorin und Referentin in der Beruflichen Fort- und Weiterbildung; Coaching-, Teamentwicklungs- und Moderationsprojekte. Website: https://andreaguenter.de/.

 

 

 

 

Über „Gerechtigkeit und die Ökologie des Ökonomischen“

Frauen sind besonders vom Klimawandel betroffen: Die durch ihn ausgelösten Krisen drängen sie in überkommene Geschlechterverhältnisse. Darum muss Klimapolitik nicht nur eine Neukonzeption des Ökonomischen vorantreiben, sondern auch mit einer Patriarchatskritik einhergehen, die bis in die Konzepte von Gerechtigkeit hineinwirkt. Wenn nachhaltige ökonomische Konzepte entwickelt werden sollen, müssen sie die Kategorie Geschlecht berücksichtigen und Klimaverhältnisse gendersensibel analysieren. Für eine neue Sichtweise werden Ariel Sallehs Konzept des Ökofeminismus und Hannah Arendts Vita activa herangezogen. Die Güter- und Tugendethik wird klimaethisch aktualisiert und eine Feministische Geldtheorie erörtert.

 

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© Foto Andrea Günter: privat | Titelbild: gestaltet mit canva.com