Deutsch-Können im Hinblick auf Kafkas organisationstheoretische Rezeption

ZDfm – Zeitschrift für Diversitätsforschung und -management 2-2022: Mit Kafka die dark side schulischer Verfahren verstehen: Deutsch-Können und neoliberale Ökonomisierung

Mit Kafka die dark side schulischer Verfahren verstehen: Deutsch-Können und neoliberale Ökonomisierung

Natascha Khakpour

ZDfm – Zeitschrift für Diversitätsforschung und -management, Heft 2-2022, S. 135-147.

 

Zusammenfassung
Mit Bezug auf „Deutsch-Können“ werden Schüler:innen in ein Vergleichsverhältnis zu einander gesetzt und formale wie symbolische Ein- und Ausschlüsse reguliert. Hiermit verbundene schulische Verfahren, in denen Schüler:innen unterschieden und sortiert werden, erhalten besondere Relevanz im Rahmen von Migrations- und Ökonomisierungsprozessen. In diesem Kontext wird im Spiegel der Erfahrungen von Jugendlichen ausgearbeitet, wie und mit welchen Konsequenzen schulische Verfahren differenzieren und positionieren, wenn Deutsch-Können relevant gesetzt wird. Den analytischen Zugang stellen Franz Kafka und seine organisationstheoretische Rezeption dar.

Schlagwörter: Kafka, Deutsch-Können, Migration, schulische Verfahren, neoliberale Ökonomisierung

 

Using Kafka to understand the dark side of school procedures: German proficiency and neoliberal economisation

Abstract
With reference to “German proficiency”, students are placed in comparative relation to one another and formal and symbolic inclusions and exclusions are regulated. Corresponding school procedures, in which students are differentiated and sorted, become particularly relevant in the context of migration and economization processes. Against this background, reflecting the experiences of former students, the paper elaborates how and with what consequences school procedures differentiate and position when German proficiency is made relevant. The analytical approach is based on Franz Kafka and his reception in organizational theory.

Keywords: Kafka, German proficiency, migration, school procedures, neoliberal economisation

 

1. Einleitung

Die Straße, auf der K. ging, „führte nicht zum Schloßberg, sie führte nur nahe heran, dann aber wie absichtlich bog sie ab und wenn sie sich auch vom Schloß nicht entfernte, so kam sie ihm doch auch nicht näher.“ (Franz Kafka: Das Schloß)

Das sprachliche Repertoire der Schüler:innenschaft steht im Fokus des Interesses von Eltern, die für ihre Kinder eine Schulwahl treffen (können) (Dean 2018: 38). Die Daten zum Anteil von Schüler:innen „nichtdeutscher Herkunftssprache“1 und damit zur vermuteten migrationsgesellschaftlichen Zusammensetzung der Schüler:innen werden gerne herangezogen, um Rückschlüsse auf eine angemessene Gestaltung der Lernumgebung oder die Qualität der Schule zu ziehen (Karakayalı/zur Nieden 2013: 68). Die Kategorie Sprache hat, so lässt sich beobachten, jene der „Ausländer:in“ abgelöst (ebd.: 70) und erlangt als Chiffre für an Rassekonstruktionen anschließende Unterscheidungspraktiken größere Sagbarkeit (Khakpour 2016: 218). Dies könnte damit zusammenhängen, dass Sprachkenntnisse als vermeintlich objektiv messbare und damit neutrale Größe inszeniert werden2, die ein faires und transparentes In-Beziehung-Setzen von Schulstandorten ermöglichen. Deutschkenntnisse werden herangezogen, um Schüler:innen in der weiterhin konzeptuell monolingual deutschsprachigen Schule (Dirim 2015: 25f.) in ein Vergleichsverhältnis zu setzen und damit formale wie symbolische Ein- und Ausschlüsse zu regulieren. Dabei kommt schulischen Verfahren, in denen institutionell autorisiert Schüler:innen unterschieden und sortiert werden, eine zentrale Legitimationsfunktion zu. Dies erhält besondere Relevanz in der gegenwärtigen ökonomisierten Schule (Hartong et al. 2018), wobei das Attribut ökonomisiert gerade nicht meint, dass es zuvor ökonomiefreie (Bildungs)Institutionen gegeben hätte. Vielmehr ist darunter ein analytischer Einsatz zu verstehen, der sucht, die „ökonomische […] Indienstnahme von Bildung“ (Merkens 2002, o.S.) in ihrer Vielschichtigkeit beschreibbar zu machen. Der vorliegende Beitrag hat zum Gegenstand, wie und mit welchen Konsequenzen schulische Verfahren differenzieren und positionieren, wenn Deutsch-Können relevant gesetzt wird. Deutsch-Können wird hierbei als kontingente Signifikationspraxis verstanden, die ihre Bedeutung durch und in migrationsgesellschaftliche(n) Differenzordnungen erhält. Dies wird im Spiegel der erzählten Erfahrungen ehemaliger Schüler:innen bearbeitet, die im jugendlichen Alter als Deutschlernende in die konzeptionell deutschsprachigen Schulen Deutschlands und Österreichs eingeschult wurden.3 Der analytische Zugang zu Erfahrungen in und mit schulischen Verfahren4 wird im Anschluss an Franz Kafka und seine organisationstheoretische Rezeption entwickelt – dies ermöglicht besondere Aufmerksamkeit auf die Machtbeschaffenheit von bürokratisierten Verfahren und den durch diese nahegelegten Subjektivierungsweisen. Kafka bietet eine analytische Brille, mit der beschreibbar wird, was vielleicht im Vollzug unsichtbar bliebe: die dunklen, aussschließenden, beängstigenden Seiten schulischer Verfahren. In der so sensibilisierten Interpretation eines Interviewausschnitts wird im Spiegel erzählter Erfahrungen, Temporalisierung als Modus modelliert, in dem in schulischen Verfahren formale Teilnahme als auch symbolische Zugehörigkeit reguliert wird (Mecheril 2003: 125ff.).

2. Neoliberale Ökonomisierung von Schule

Im Sinne einer Kontextualisierung sollen zunächst gegenwärtige Ökonomisierungsprozesse von Schule umrissen werden. Ökonomisierung als Beschreibung jüngerer und jüngster Transformationsprozesse in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen eröffnet einen breiten analytischen Horizont, in dem die Befasstheit mit Schule in den letzten Jahren vermehrt eingebettet wird (Engartner 2020; Hartong et al. 2018). Bei Ökonomisierung handelt es sich jedoch um keinen völlig neuen Prozess, so als habe es bisher restlos ökonomiefreie Sphären und Bereiche von Gesellschaft gegeben (Ptak 2018: 39). Vielmehr verlangt jene Perspektive einen zeitdiagnostischen Bezug auf aktuelle Konjunkturen und damit Besonderheiten der Gesellschaftsformation, durch die sich die Beschaffenheit von Ökonomisierungsprozessen bestimmen lässt. Die neoliberale Spielart des Kapitalismus beschränkt sich nicht auf eine marktoptimistische Wirtschaftslehre, sondern sieht eine Marktgesellschaft vor, die bedingt ist durch individualisierte Konkurrenz und Wettbewerb und die einer neoliberalen Evolutionstheorie folgend ideologisch als Ergebnis eines Zivilisationsprozess umgedeutet wird. Formen von Egalität oder Kollektivität werden als schwach oder rückständig geframed (Ptak 2008: 72f.). Die Perspektive auf die Ökonomisierung von Schule verweist dabei grundlegend „auf ein sich wandelndes Verhältnis von Staat/Politik, Ökonomie, (Zivil-)Gesellschaft und Bildung“ (Höhne 2015: 4) und rückt neue Formen der Vermittlung wie der Steuerung in den Fokus der Analysen (ebd.). Das bedeutet bei aller Erodierung von Sozialstaat und zunehmender Kommodifizierung von (formaler) Bildung nicht, dass der Staat bei der Betrachtung von Schule gänzlich außen vor gelassen werden kann. Organisiert durch Ministerien und abgesichert durch staatliche Curricula verfügt der Staat auch weiterhin über das Monopol der Verleihung und Anerkennung von formalen Bildungsabschlüssen. Diese Prozesse selbst sind jedoch nicht rein technischer oder neutraler Natur. Vielmehr ist die politische Etablierung, Rahmung und Steuerung von Schule ein Kompromiss, der auf längere und kürzere Sicht im Rahmen gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse beeinflusst und konflikthaft ausgetragen wird (Khakpour 2021: 127f.). Schule hinsichtlich neoliberaler Ökonomisierung(-sprozesse) in den Blick zu nehmen, bezieht sich auf die Dekonstruktion vorherrschender Legitimationsnarrative, in denen strukturelle Ungleichheiten individualisiert und damit weiter verschärft werden, wie das etwa mit Bezug auf PISA geschieht (Budde 2012: Abs. 39ff., Kollender 2021: o.S.). Dies wurde hinsichtlich der Konstruktion eines individuellen Bemühens einer meritokratischen Leistungslogik (Freytag 2008; Solga 2005) sowie jenes einer individuellen Eignung eines schulischen begabungsideologischen Diskurses (Gomolla 2012) eindrücklich dargelegt.

Ökonomisierung zeigt sich in der zunehmenden Output-Orientierung von schulischer Bildung, der Etablierung von Wettbewerbspolitiken, in denen Schulstandorte über choice policies, wie der freieren Schulwahl, zueinander in ein (Wettbewerbs-)Verhältnis gesetzt werden. Dies gilt auch in Bezug auf eine verstärkte Schul-„Autonomie“, in der Schulen angehalten sind, in der Gestaltung von Curricula aber auch Finanz- und Personalpolitiken, ihr Marktpotenzial auszuschöpfen sowie wie in der zunehmenden Marktorientierung von Bildungsinhalten (Kollender 2020: 54f.). Dies korreliert mit einer neoliberalen Umgestaltung schulischer Verfahren – es kommt zunehmend eine zentralisierte, datenbasierte Steuerung über Indikatoren und Standardisierung zum Einsatz, oftmals vor dem Hintergrund des Ziels von Effizienz- oder Effektivitätssteigerung (Höhne 2015: 14). Dabei findet jedoch eine soziale „Ent-Standardisierung“ statt, in der „Gleichheit und Gerechtigkeit gegeneinander ausgespielt und Gerechtigkeit auf den Aspekt individualisierter Leistungsgerechtigkeit reduziert“ (ebd.) werden. Dass so neoliberale Ökonomisierungsprozesse mit Prozessen der strukturellen und institutionellen (rassistischen) Diskriminierung einhergehen (können), darauf weist u.a. auch Ellen Kollender (2020: 324) hin. Schulischen Verfahren, so ließe sich zusammenfassen, kommen in der ungleichen Verteilung von Bildungs- und Lebenschancen, in denen institutionell autorisiert Schüler*innen differenziert und sortiert werden, eine zentrale Legitimationsfunktion zu. Schulische Verfahren dienen nicht nur zur Verteilung von (zukünftiger) Arbeitskraft entlang ökonomischer Verwertbarkeit und Interessen; sie werden auch selbst zunehmend neoliberal bürokratisiert.

3. Mit Kafka die dark side schulischer Verfahren verstehen

Das Adjektiv kafkaesk wird gemeinhin verwendet, um eine undurchsichtige, latent bedrohliche sowie absurde Lage, einen solchen Zustand oder ein Verfahren zu bezeichnen – genau genommen, um „dysfunktionale Begegnungen mit Bürokratien verschiedener Art zu beschreiben“ (Warner 2007: 1019 Übers. NK). Neben der alltagssprachlichen Verwendung des Begriffs, besteht in organisationstheoretischen Debatten eine langjährige Faszination und Auseinandersetzung mit dem Autor Franz Kafka und seinem Werk (Clegg et al. 2017: 157). Besonders interdisziplinäre Zugänge, wie etwa in der Organisationssoziologie und Rechtsphilosophie (Costas 2019; Fischer-Lescano 2019; Huber 2019), heben auf Kafkas Literatur als Zugang zum Verständnis von Organisationen, Bürokratien und der Frage nach den (Entmächtigungs-)Erfahrungen der darin situierten Subjekte ab. Der spezifische Blick auf Organisationen ist daran interessiert, wie „Gewalt nicht trotz des Rechts, sondern im Namen des Rechts oder, mit Agamben, an der Schwelle von Recht und Unrecht stattfindet“ (Costas 2019: 134). Damit wird insbesondere the Dark Side of Organization zum Gegenstand (Linstead et al. 2014). Der Organisationsforscher Darren McCabe etwa, widmet sich den dunklen Seiten von Managementprozessen mit Kafka, „weil seine Darstellungen eine von oben nach unten gerichtete Sichtweise der Macht in Frage stellen“ (2014: 255). Unter dieser Metapher werden Themen und Aspekte in kritischer Absicht behandelt, die sonst eher übersehen, ignoriert oder unterdrückt werden (Linstead et al. 2014).

„Kafkas Der Proceß fordert uns auf, nach den schmutzigen ‚Rumpelkammern‘ (Kafka 1994) von Organisationen zu suchen, die sich mit einem Mal auftun und die ansonsten saubere, ruhige Aura von Organisationen überschatten können.“ (Costas 2019: 134f.)

1 In einem online einsehbaren Schulverzeichnis des Berliner Senats werden Schulporträts dargestellt, in denen der prozentuale Anteil an Kindern „nichtdeutscher Herkunftssprache“ angegeben wird. Dies wurde durchaus kritisch hinsichtlich diskriminierender Aspekter der Zuordnungspraxis diskutiert (Dean 2018) und soll mit dem kommenden Semester eingestellt werden. In Niedersachsen etwa findet „ndH“ weiterhin Verwendung.
2 Ein Beispiel für solch eine Inszenierung ist das Legitimieren von segregierender Beschulung mit dem Rekurs auf Deutschkenntnisse und deren partei- und bildungspolitischen Betrachtung „abseits der ideologischen Brille“, wie eine damalige Regierungspartei die Einführung der Deutschförderklassen in Österreich 2018 in einer Presseaussendung lobte (ausführliches Zitat und dessen Einordnung: Khakpour/Dirim 2022: 325ff.).
3 Der Beitrag stellt eine Weiterführung meiner Auseinandersetzungen auf der Datengrundlage meiner Dissertationsstudie dar. Deren Gegenstand und Anlage skizziere ich weiter unten.
4 Der Verfahrensbegriff, der hier zum Einsatz kommt, speist sich zum einen aus meiner hegemonietheoretischen Perspektive auf Schule und demnach der Konzeption, dass Verfahren und Gesetze zwar staatlich abgesichert, aber ebenso kontingent und Gegenstand wie Terrain sozialer Auseinandersetzungen um Hegemonie sind (Khakpour 2021: 95). Zum anderen liegt dem eine praktikentheoretische Grundierung zugrunde, in der sich „Struktur und Handlung, einer Regel und ihrer Anwendung“ (Schäfer 2016: 11) trennen lassen. Jedoch wird keine Rekonstruktion von schulischen Verfahren selbst angestrebt, vielmehr geht es darum, welche positionierenden Effekte im Spiegel der erzählten Erfahrungen von ihnen ausgehen.

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