Intersektionales Zusammenspiel von Ableismus und Rassismus im Schulkontext

Zeitschrift für erziehungswissenschaftliche Migrationsforschung (ZeM) 2-2023: Rassifizierte Fähigkeitsregime. Eine raumtheoretische Perspektive auf die ‚Deutschförderklasse‘

Rassifizierte Fähigkeitsregime. Eine raumtheoretische Perspektive auf die ‚Deutschförderklasse‘

Tobias Buchner, Yalız Akbaba

Zeitschrift für erziehungswissenschaftliche Migrationsforschung (ZeM), Heft 2-2023, S. 140-155.

 

Zusammenfassung: Welchen Beitrag können raumtheoretische Konzepte des Spacings und der Syntheseleistungen für die Analyse des intersektionalen Zusammenspiels ableistischer und rassistischer Ordnungen in der Schule leisten? Dieser Frage gehen wir im Beitrag nach, indem wir ableistische und rassistische Ordnungen theoretisch mit einem relationalen Verständnis von Raum verknüpfen – und diese Folie für die Analyse eines Interviews mit einer Lehrerin einer Deutschförderklasse nutzen. So zeichnen wir die im Sprachhandeln subtil bleibenden Praktiken nach, über die ein verräumlichtes Zusammenspiel von fähigkeitsbezogenen und rassistischen Ordnungen hervorgebracht und institutionell bestehende reproduziert werden, jeweils mit dem Resultat der Herstellung von Räumen der Verunfähigung. Theoriegenerierendes Ergebnis ist die konzeptionelle Annäherung an rassifizierte Fähigkeitsregime. Methodologisch wollen wir zum Weiterdenken darüber beitragen, wie und mit welchen Analyseinstrumenten Intersektionalität zum Forschungsgegenstand gemacht werden kann.

Schlüsselwörter: Ableism, Rassismus, Intersektionalität, Raum, Schule, Linguizität, Bildung, Deutschförderklasse

 

Title: Racialized Regimes of Ability. A Spatial-Theoretical Perspective on the ‘German Language Support Class’

Abstract: How can spatial theoretical concepts of spacing and synthezising contribute to analyzing the intersectional interplay of ableist and racist orders in schools? In our article, we link ableist and racist orders to a relational understanding of space for analyzing an interview with a teacher of a German language support class. Doing so, we trace the practices that remain subtle in linguistic doings, through which a spatialized interplay of ableist and racist orders is produced and institutionally existing ones are reproduced, in each case resulting in the production of disempowering spaces. We theorize these spaces as products of racialized regimes of ability. In addition, on a methodological level, we discuss questions of how and with which analytical tools intersectionality can be made a research object.

Keywords: Ableism, Racism, Intersectionality, Space, School, Linguicism, Education, German Language Support Class

 

1 Einleitung

Im vorliegenden Artikel beleuchten wir das intersektionale Zusammenspiel von Ableism und Rassismus. Während derartige Überschneidungen in den ‚DisCrit‘ (Dis/ability Critical Race Studies) im nordamerikanischen Raum einen prominenten Analysefokus darstellen (exemplarisch: Annamma 2018, 2017), gilt dies nicht für die deutschsprachige Bildungswissenschaft (Gottuck/Pfaff/Tervooren 2021). Allerdings verweisen die wenigen deutschsprachigen Publikationen auf das Potenzial dieser Perspektive, zum Beispiel zur Untersuchung der Verknüpfungen „von ethnischen/sprachlichen Differenzen und der Behauptung verminderter Fähigkeitspotentiale“ (Stošić/Hackbarth/Diehm 2019: 64), für die Erforschung der Intersektionen von Ableismus und Rassismus in den pädagogischen Institutionen der frühen Kindheit (Amirpur/Doğmuş 2022) oder auch des fluiden Charakters der Überschneidungen von ableistischen mit rassistischen Ordnungen im Kontext von Sport(‐unterricht) (Buchner/Akbaba 2023). Im Folgenden möchten wir im Rahmen des Schwerpunkts dieser Ausgabe der ZeM, der sich der Exploration der theoretischen als auch methodologischen Potenziale von Intersektionalität für erziehungswissenschaftliche Migrationsforschung verschreibt, einen Beitrag zu dieser sich entwickelnden thematischen Auseinandersetzung im deutschsprachigen Raum leisten. Dafür schlagen wir eine Analyseperspektive vor, die differenz- mit raumtheoretischen Überlegungen verbindet. Die Möglichkeiten einer solchen Perspektive möchten wir exemplarisch anhand von ausgewähltem Datenmaterial erkunden. So nutzen wir den benannten heuristischen Rahmen für eine qualitative Rekonstruktion des verräumlichten Zusammenspiels von Ableism und Rassismus im Kontext von Schule. Empirische Grundlage des Beitrags bildet ein Interview mit einer Lehrerin einer Deutschförderklasse im österreichischen Bildungssystem. Deutschförderklassen wurden mit dem Schuljahr 2018/19 für Schüler:innen eingeführt, „die dem Unterricht auf Grund unzureichender Sprachkenntnisse nicht folgen können“ (BMBWF 2022). Mit der separaten, auf den Erwerb von Deutschkenntnissen fokussierten Beschulung ist das Ziel verbunden, die betroffenen Kinder und Jugendlichen „im Sinne der Chancengerechtigkeit […] für deren bessere Eingliederung in den Klassenverband“ (ebd., o.S.) vorzubereiten. Anhand von Interviewausschnitten mit einer Klassenlehrerin arbeiten wir die zweifache Herstellung von Räumen der Verunfähigung heraus: Es zeigen sich institutionelle Mechanismen und pädagogische Praktiken, welche die in Deutschförderklassen platzierten Schüler:innen behindern und sowie Konstruktionen von Räumen migrantisierter Familien als Orte der Behinderung schulischen Lernens. Nach der empirischen Analyse der verräumlichten Intersektionen von Rassismus und Ableismus diskutieren wir im Fazit die Möglichkeiten und Begrenzungen einer raumtheoretischen Perspektivierung von Intersektionalität im Feld der erziehungswissenschaftlichen Migrationsforschung.

2 Theoretische Perspektiven

Im Folgenden skizzieren wir ein relationales Verständnis von Raum (Löw 2015). Diese theoretische Folie eignet sich insbesondere für die Untersuchung von machtvollen Ordnungen. Anschließend werden die Strukturmerkmale einer solchen Ordnung, genauer: der ableistischen Ordnung, skizziert. Diese bringt einen spezifischen Vollzug von Ein- und Ausschlüssen im Bildungswesen hervor, die wir mit den Konzepten relationaler Raummodelle perspektivieren. Anschließend umreißen wir Rassismus als gesellschaftliche Ordnung sowie seine verräumlichten Strukturen und führen den Forschungsstand zum behindernden Zusammenspiel von rassistischen und ableistischen Machtverhältnissen in Schule, mit spezifischem Blick auf Deutsch-Sprachfähigkeit, zusammen.

2.1 Raum

Das hier dargelegte Verständnis von Raum ist Produkt einer konzeptuellen Denkbewegung von Raum als ‚Container‘ hin zu einem relationalen Raummodell. Absolute Modelle, welche Räumlichkeit als Ordnung verstehen, die „nicht abhängig ist von den darin enthaltenen Körpern“ (Kessl/Reutlinger 2009: 196), wurden in diesem Prozess zusehends kritisiert. Insbesondere die in absoluten Modellen vertretene Annahme „von einem, kontinuierlichen, für sich existierenden Raum“ (Löw 2015: 18), der lediglich eine ‚Rahmenbedingung‘ für soziale Praktiken darstellt, wurde in den Auseinandersetzungen hinterfragt. In Abgrenzung von derlei statischen Denkweisen betonen relationale Modelle die Verwobenheit von materialen und sozialen Aspekten von Raum. Räume existieren demzufolge nicht per se, sondern sind sozial verfasst und werden in Beziehung zu materialen Komponenten von Subjekten konstruiert (Löw 2015). Räume sind demnach auch als fluide und dynamisch zu denken. Ihre Hervorbringung verläuft aber keinesfalls arbiträr, sondern steht je in Beziehung zu Machtverhältnissen (ebd.). Im Anschluss an diese Denkbewegungen fassen wir mit Löw Raum als „relationale (An)Ordnung sozialer Güter und Menschen an Orten“ (ebd.: 224). Die Rede von der (An)Ordnung verweist darauf, dass Raum immer als ‚doing space‘ zu verstehen ist und dieses ‚doing‘ immer in Relation zu gesellschaftlichen (Differenz‐)Ordnungen erfolgt. Dieser theoretischen Folie entsprechend lassen (An)Ordnungen von schulischem Mobiliar, architektonischen Gegebenheiten, Lehrer:innen, Schüler:innen und Praktiken des Lehrens und Lernens nicht nur ein ‚Vorne‘ und ‚Hinten‘ im Klassenzimmer (Breidenstein 2006) oder verschiedene Modi von Unterricht entstehen. Denn die Formulierung (An)Ordnung verweist zudem darauf, dass Räume des Unterrichts in Relation zu symbolischen Ordnungen von Schule gebildet werden und auch die im Rahmen dieser Ordnung vorgesehenen Hierarchien (re‐)produzieren (Foucault 1976) – welche wiederum in Relation zu den Schulen durchdringenden ‚weiteren‘, gesellschaftlichen Diskursen stehen.

Zur Analyse der Herstellung von Raum schlägt Löw zwei Konzepte vor: Spacing und Syntheseleistungen (Löw 2015). Bei diesen Konzepten handelt es sich um raumkonstituierende Praktiken, die von Subjekten vollzogen werden. Spacing steht für spezifische Positionierungspraktiken, über die Subjekte und Dinge angeordnet werden. Zum Beispiel wird durch eine Tafel, vor der ein Lehrer positioniert ist und hintereinander platzierte Tischreihen, an denen Schüler:innen sitzen, ein klassisches Frontalunterrichtssetting hergestellt. Neben dieser räumlichen Ebene lassen Positionierungen von ausschließlich Schülerinnen in einem Schulgebäude das verräumlichte Konstrukt einer ‚Mädchenschule‘ entstehen. Am letzten Beispiel zeigt sich bereits das Machtvolle derartiger Raumkonstitutionen und ihre Relationierungen zu Differenzordnungen – ebenso wie in disziplinierenden Formen von Spacings, etwa wenn als störend wahrgenommene Schüler:innen an Einzeltischen in den Peripherien des Klassenzimmers oder auch außerhalb desselben platziert werden.

Um (An‐)Ordnungen von Dingen und Lebewesen zu Räumen werden zu lassen, bedarf es zudem Syntheseleistungen. Syntheseleistungen stehen für jene gedanklichen Vorgänge, in deren Rahmen Güter und Menschen über „Wahrnehmungs-, Vorstellungs- und Erinnerungsprozesse“ (Löw 2015: 131) zu einem Raum zusammengefasst werden. Zum Beispiel die Synthetisierung einer Tafel, eines Posters, auf dem das Periodensystem abgebildet ist, an Tischen von Schüler:innen vollzogenen Experimenten mit Laborgläsern zu einem Chemiesaal. Das Konzept Syntheseleistung umfasst jedoch mehr als derartige perzeptive Kategorisierungs- und Einsortierungsprozesse. Denn Räume können auch zu ermächtigenden Orten der Zugehörigkeit (Schuster 2010) oder zu Räumen des kollektiv erlebten Ausschlusses (Lindgren 2010) synthetisiert werden. Als Syntheseleistungen können schließlich auch affektive Aufladungen von Räumen gefasst werden, wie die Synthetisierung der Ecke des Pausenhofs, an der man von älteren Schüler:innen verprügelt wurde, zu einem Ort der Angst. Spacings und Syntheseleistungen bedingen sich gegenseitig und sind als miteinander verflochten zu verstehen. Die Möglichkeiten für Raumkonstitutionen sind nicht beliebig, sondern stehen in Relation zu „Formen sozialer Ungleichheit“ (Löw 2015: 213) und den damit verbundenen Positionierungen – auch jenen in institutionellen Gefügen, wie Schulen.

Die skizzierte raumtheoretische Analysefolie eignet sich insbesondere für das Erforschen von In- und Exklusionsprozessen im Kontext von Bildung (z. B. Buchner 2021) und der über derlei Prozesse machtvoll (re‐)produzierten Differenzverhältnisse (z. B. Buchner/Petrik 2022). Nachfolgend beziehen wir diese Überlegungen auf ableistische und rassistische Ordnungen sowie deren verräumlichtes Zusammenspiel.

2.2 Ableism, Rassismus und Raum

Ableism verstehen wir als eine Differenzordnung (Mecheril 2008), in deren Rahmen über das Zu- und Abschreiben von Fähigkeiten sowie hierarchisierende Bewertungspraktiken ein spezifischer Modus sozialer Ungleichheit hervorgebracht wird. Ein zentrales Strukturmerkmal dieser Ordnung stellt die binäre Unterteilung in nicht_fähig bzw. dis_abled dar – was von Kumari Campbell als ‚great divide‘ (Campbell 2003) bezeichnet wird, womit die Wirkmächtigkeit der Grenzziehung unterstrichen wird. Behinderung bzw. ‚disability‘ fungiert dabei als konstitutives Außen – und zwar für die Konstruktionen einer sich als ‚fähig‘ verstehenden Mehrheit (Campbell 2009). Neben dieser binarisierenden Kategorisierung sind ableistische Ordnungen durch weitere Unterteilungen charakterisiert. Subjekte werden in Relation zu Fähigkeitserwartungen sowohl unterhalb als auch oberhalb des ‚great divide‘ bewertet, gereiht und auch de/privilegiert – wodurch insbesondere in Gesellschaften, die sich der Ideologie der Meritokratie verschreiben, ein starker Zwang zu Performanzen als ‚fähig‘ und einer Selbstführung in Richtung der oberen Plätze der Reihen erzeugt wird. Subjekte können sich aber hinsichtlich ihres Platzes nie dauerhaft sicher sein, denn die ableistische Ordnung erweist sich als fluide. Schließlich können sich fähigkeitsbezogene Positionierungen durch den Erwerb einer Beeinträchtigung oder Transformationen von Fähigkeitserwartungen aufgrund ökonomischen bzw. gesellschaftlichen Wandels verschieben. Denn die besagte Ordnung ist nicht nur durch die Reihung von Subjekten qua Fähigkeitsbewertungen gekennzeichnet, sondern auch durch eine Reihung von Fähigkeiten selbst (Maskos 2015). Welche Fähigkeit als relevant gilt, ist kontingent und hängt u. a. von den diskursiven Konstellationen oder dem technologischen Fortschritt in der jeweiligen historischen Epoche ab. Innovationen im Bereich der assistiven Technologien haben Fähigkeitsanforderungen an sensorische oder körperliche Fähigkeiten relativ verflüssigt. Einige Fähigkeiten und die damit verbundenen Erwartungen weisen allerdings eine kontinuierliche Relevanz auf. Diese werden von Gregor Wolbring (2008) als ‚essential abilities‘ bezeichnet – jene kulturell präferierten Fähigkeiten, die unter der Überschrift des ‚functioning‘ als typisch für die menschliche Spezies erachtet werden (ebd.). Bestimmte Fähigkeiten gelten demzufolge als ‚must haves‘ und werden implizit als „benchmark for humanity“ (Overboe 1999: 24) konstruiert – und Behinderung zu einem „diminished state of being human“ (Campbell 2008: 44). Als wesentlich werden diesbezüglich neben physisch-motorischen Fähigkeiten auch kognitive Fähigkeiten erachtet (Wolbring/Diep 2016).

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