„Die meisten wollen einfach hören, dass das Kind gesund ist.“ – Das Bild von Behinderung in der ärztlichen Beratung zu Pränataldiagnostik
Taleo Stüwe
GENDER – Zeitschrift für Geschlecht, Kultur und Gesellschaft, Heft 1-2025, S. 42-57.
Zusammenfassung
Dieser Beitrag untersucht, welches Bild von Behinderung schwangerschaftsbegleitende Ärzt*innen haben und wie sich dieses in ihrer Beratung werdender Eltern zu Pränataldiagnostik (PND) ausdrückt. Die Datengrundlage bilden 20 Expert*innen-Interviews mit niedergelassenen Gynäkolog*innen. Die Auswertung erfolgt mithilfe der qualitativen Inhaltsanalyse nach Gläser und Laudel (2010). Mehrheitlich bildet sich in den Interviews eine kritische Haltung gegenüber der gezielten vorgeburtlichen Suche nach fetalen Beeinträchtigungen ab. Die Befragten verstehen es als entscheidenden Teil der ärztlichen Aufgabe, im Rahmen der Schwangerschaftsbegleitung durch Information, Aufklärung und Beratung informierte Entscheidungen zu ermöglichen. Obwohl Ableismus und vorgeburtliche Selektion kritisiert werden, sind die Interviews durchzogen von diskriminierender Sprache und ableistischen Annahmen. Um eine ergebnisoffenere ärztliche Beratung zu PND zu gewährleisten, gilt es also, das weiterhin wirkmächtige Medizinische Modell von Behinderung abzubauen.
Schlüsselwörter
Pränataldiagnostik, Nicht-invasiver Pränataltest (NIPT), Behinderung, Ärztliche Beratung, Schwangerschaftsvorsorge, Ableismus
“Most people just want to hear that the child is healthy.” The image of disability in medical counselling on prenatal diagnostics
Summary
This article explores how the perceptions of disability of doctors providing pregnancy care are reflected in their counselling of expectant parents on prenatal diagnostics. The research is based on 20 expert interviews with practising gynaecologists. The data was analysed using Gläser and Laudel’s qualitative content analysis (2010). The majority of the interviews reveal that doctors are critical of targeted prenatal screening for foetal impairment. The interviewees believe that it is an essential part of their professional role to provide counselling during pregnancy to enable truly informed choices by providing information, education and counselling. Although ableism and prenatal selection are criticized, the interviews are riddled with discriminatory language and ableist assumptions. It is, therefore, important to dismantle the influential medical model of disability to ensure open and unbiased medical counselling on prenatal diagnosis.
Keywords
prenatal diagnosis, non-invasive prenatal testing (NIPT), disability, medical counselling, prenatal care, ableism
1 Einleitung
Seit Juli 2022 können schwangere Personen1 den Nicht-invasiven Pränataltest (NIPT) auf die Trisomien 13, 18 und 21 in Deutschland als Kassenleistung in Anspruch nehmen. Ein Blick in Länder, in denen dieser genetische Bluttest auf Trisomien bereits als flächendeckendes Screening finanziert und umgesetzt wird, gibt Aufschluss über die auch hierzulande wahrscheinlichen Entwicklungen: Die meisten werdenden Eltern entscheiden sich im Fall eines auffälligen fetalen Befundes für einen (späten) Schwangerschaftsabbruch.2 Die Anzahl der mit Down-Syndrom geborenen Kinder bleibt europaweit inzwischen deutlich hinter dem statistisch zu erwartenden Anteil der Neugeborenen zurück (de Graaf/Buckley/Skotko 2021). Bereits die deutsche Markteinführung des NIPT im Jahr 2012 und dessen Etablierung mit kontinuierlicher Ausweitung des Testspektrums erfolgte nahezu ohne Begleitforschung (Könninger/Braun 2022). Auch die Praxisimplementierung des Beschlusses für die Kassenfinanzierung findet bisher ohne Monitoring statt (Eiben et al. 2022). Eine erste Untersuchung von Ostrowski et al. bestätigt allerdings den bereits vor der Kassenfinanzierung von medizinischen Fachgesellschaften prognostizierten – und teilweise kritisierten – Anstieg der Inanspruchnahme des NIPT (Ostrowski et al. 2024).3 Der Endbericht ‚Aktueller Stand und Entwicklungen der Pränataldiagnostik‘ von 2019 resümiert, dass ein Fünftel der schwangeren Personen eine „positive Sicht auf Menschen mit Behinderungen“ (Kollek/Sauter 2019: 130) zu haben scheint und sich auch ein Leben mit einem Kind mit Behinderungen gut vorstellen könne. Die große Mehrheit verknüpfe mögliche Behinderungen jedoch in erster Linie mit Ängsten (Kollek/Sauter 2019: 130).
Mit diesen Entwicklungen müssen insbesondere schwangerschaftsbegleitende Ärzt*innen umgehen, denen die Aufgabe zufällt, werdende Eltern zu Pränataldiagnostik (PND) zu beraten. Sie müssen über die stetig mehr werdenden Untersuchungsoptionen via NIPT informieren, neuerdings über die Kassenfinanzierung aufklären und die Abwägungen des Für und Wider der Inanspruchnahme von PND sowie den Umgang mit einem (potenziell) auffälligen Befund begleiten. Ärzt*innen sind in einer Schlüsselposition, was die Informationsweitergabe und Wissensvermittlung betrifft – nicht nur zum vorgeburtlichen Diagnostikangebot und möglichen Untersuchungsergebnissen, sondern auch zu pränatal diagnostizierbaren Beeinträchtigungen und möglichen Umgängen hiermit. Ihre Perspektive auf Behinderung im Kontext von PND und deren Bedeutung für die Beratungspraxis in Deutschland sind allerdings bisher wenig untersucht.4
Ärzt*innen wird aufgrund ihres gesellschaftlichen professionsbezogenen Ansehens weitestgehend zugeschrieben, mithilfe ihres Fachwissens dazu in der Lage zu sein, soziale Situationen und einzelne Entscheidungen angemessen bewerten und begleiten zu können (Stüwe 2019). Die Beratung zu PND findet als professionsspezifische personenbezogene Leistung initial – und in vielen Fällen ausschließlich – durch niedergelassene Gynäkolog*innen statt (Schindelhauer-Deutscher/Henn 2014). Hier setzt meine Forschung an und nimmt gezielt die Perspektive niedergelassener Gynäkolog*innen als einflussreiche professionelle erste Kontakt- und Ansprechpersonen werdender Eltern in den Blick. Die recht große Fallzahl der Interviewstudie sowie meine eigene disziplinäre Verortung in der Medizin ermöglichen tiefe Einblicke in die Wahrnehmungen, Erfahrungen, Werte und Herausforderungen schwangerschaftsbegleitender Ärzt*innen in der von medizin-technischen und rechtlichen Entwicklungen sowie gesellschaftlichen und politischen Einflüssen geprägten Beratung zu PND und Beeinträchtigungen. Neben rechtlichen Vorgaben, medizin-technischen Grundlagen und medizinischen Konzepten von Gesundheitsversorgung (z. B. Informed Consent) werden auch Forschungsperspektiven aus der Medizinethik sowie den Disability Studies einbezogen, um der Komplexität des Themas gerecht werden zu können.
Dieser Beitrag untersucht, an bereits vorliegende Forschungsergebnisse anknüpfend, welches Bild von Behinderung schwangerschaftsbegleitende Ärzt*innen haben und wie sich dieses in ihrer Beratung werdender Eltern zu PND ausdrückt. Dazu werden im Folgenden zunächst das Material und die Methodik der zugrunde liegenden qualitativen Studie vorgestellt und kontextualisiert sowie einige grundlegende Informationen zum NIPT und zur ärztlichen Beratung zu PND gegeben. Anschließend wird der deutschsprachige Forschungsstand zusammenfassend präsentiert und der (rechtlich vorgesehene) ärztliche Umgang mit dem Thema Behinderung im Kontext der Beratung zu PND in den Blick genommen, um darauf aufbauend die Ergebnisse der durchgeführten Studie zu präsentieren und einzuordnen. Abschließend folgen Fazit und Ausblick.
1.1 Material und Methodik
Die Datengrundlage bilden 20 semistrukturierte leitfadengestützte Expert*innen-Interviews, die 2015/2016 mit niedergelassenen Gynäkolog*innen im Land Bremen geführt wurden.5 Die Kontaktaufnahme erfolgte postalisch, telefonisch und 2016 darüber hinaus durch direkte Ansprachen in den Praxen. Bedeutend für den Feldzugang und die Datenerhebung war meine eigene Positionierung als Student der Humanmedizin. In den 2016 von mir selbst geführten Interviews (12 bis 20) entstand häufig eine kollegiale Atmosphäre. Im Vergleich zu den 2015 von Studierenden der Politikwissenschaft geführten Interviews (1–11) nahmen die Ärzt*innen eine weniger distanziert erklärende, sondern eher eine zugewandt berichtende Position ein.6
Die Stichprobe entspricht etwa 20 Prozent der im Erhebungszeitraum im Land Bremen tätigen niedergelassenen Gynäkolog*innen. Obwohl die Auswahl von der Einwilligung der Ärzt*innen abhing, konnte ein im Sinne des Forschungsinteresses diverses Sampling, bezogen auf Faktoren wie Geschlecht, Alter, Berufserfahrung, Untersuchungsangebot und Lage der Praxis, zusammengestellt werden. Die Befragungen fanden in 17 Praxen statt – eine davon in Bremerhaven, die anderen in neun Stadtteilen von Bremen mit jeweils unterschiedlichen Sozialstrukturen. Drei der Interviewten haben eine eigene Praxis, in der sie als einzige*r Ärzt*in tätig sind. Die Mehrheit der Befragten (n=17) arbeitet in (Gemeinschafts-)Praxen mit ein bis drei Kolleg*innen.
Im Zuge der Transkription wurde eine Anonymisierung aller personenbezogenen Angaben vorgenommen, wobei den interviewten Gynäkolog*innen je ein Kürzel (Gyn1 bis Gyn20) zugeordnet wurde. Die Auswertung erfolgt mithilfe der qualitativen Inhaltsanalyse nach Gläser und Laudel (2010).
Auch wenn die Datenerhebung bereits 2015/2016 stattfand, liefern die Interviews für die aktuelle Situation relevante Ergebnisse, da die Frage, ob der NIPT auf die Trisomien 13, 18 und 21 von der Gesetzlichen Krankenversicherung zukünftig übernommen werden sollte, bereits zum Zeitpunkt der Befragung vom Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) bearbeitet wurde. Dieser hatte als höchstes Gremium der Selbstverwaltung des Gesundheitssystems in Reaktion auf den Antrag der Firma LifeCodexx im Jahr 2014 ein Verfahren zum NIPT eingeleitet (Könninger/Braun 2022). Die befragten Ärzt*innen rechneten mit einer Entscheidung für die Kostenübernahme des NIPT auf Trisomien sowie einer damit einhergehenden häufigeren Inanspruchnahme. Zudem war der NIPT seit einigen Jahren verfügbar und erste Erweiterungen des Testspektrums hatten bereits stattgefunden. Die Ergebnisse dieser Studie können also nützliche Hinweise für die notwendige wissenschaftliche Begleitung der aktuellen vorgeburtlichen Untersuchungs- und Beratungspraxis sowie diesbezügliche politische Steuerungsprozesse liefern (Ostrowski et al. 2024: 463).
1.2 Der Nicht-invasive Pränataltest (NIPT)
Der NIPT ist das neueste von vielen PND-Verfahren, die seit der Etablierung der medizinischen Schwangerschaftsbegleitung in den 1960er- und 1970er-Jahren das Untersuchungsangebot für schwangere Personen erweitern.7 Der Test kommt ab der 10. Schwangerschaftswoche zum Einsatz. Aus einer Blutprobe der schwangeren Person wird sog. zellfreie fetale DNA entnommen und im Labor auf bestimmte genetische Eigenschaften untersucht. Ist das Ergebnis dieses genetischen Screenings auffällig, soll eine invasive Untersuchung zur Diagnosesicherung durchgeführt werden.
Zunächst kam der NIPT lediglich für die Berechnung der Wahrscheinlichkeit für das Vorliegen einer Trisomie 13, 18 oder 21 sowie für die nummerische Untersuchung der Geschlechtschromosomen zum Einsatz. Inzwischen kann auf viele weitere genetische Eigenschaften gescreent werden und der Test hat sich als eine bekannte Untersuchungsoption etabliert. Damit setzt der NIPT die Ausweitung und Normalisierung der PND, die längst ein fester Bestandteil der medizinischen Schwangerschaftsbegleitung geworden ist, fort (Stüwe 2022). Der Test zielt wie die meisten PND-Methoden auf die Detektion von nicht behandelbaren Eigenschaften des Fötus ab. So zieht ein auffälliger PND-Befund anstelle von Therapieangeboten meist die Frage nach der Fortsetzung oder dem Abbruch der Schwangerschaft nach sich.
1.3 Die ärztliche Beratung zu Pränataldiagnostik
Etwa 95 Prozent der Schwangerschaftsvorsorge in Deutschland erfolgt durch niedergelassene Gynäkolog*innen (Wewetzer/Winkler 2013). Ärztliche Beratungen und Empfehlungen sind nach Angaben befragter (werdender) Eltern ausschlaggebend für deren Entscheidungen zu PND; in mehreren Studien nannten schwangere Personen den*die behandelnde*n Ärzt*in als wichtigste Informationsquelle zum Thema (Kollek/Sauter 2019). Ärzt*innen sind also nicht nur deswegen von Bedeutung für schwangere Personen, da sie PND anbieten, ggf. die medizinische Indikation zum Schwangerschaftsabbruch stellen und den (späten) Abbruch – möglicherweise mit Fetozid – durchführen. Sie sind auch „wichtige Mentor_innen und Gatekeeper_innen der Statuspassage Schwangerschaft“ (Sänger 2020: 360f.), da sie verantwortlich für die medizinische Beratung vor, während und nach der (eventuellen) Inanspruchnahme von PND sind. Gleichzeitig deuten Erfahrungsberichte von schwangeren Personen, Peer-to-Peer-Berater*innen und Schwangerschaftskonfliktberater*innen darauf hin, dass der Standard einer auch durch das Schwangerschaftskonfliktgesetz (§ 2a SchKG) und das Gendiagnostikgesetz (§ 10 GenDG) vorgeschriebenen nicht-direktiven und ergebnisoffenen ärztlichen Beratung im Kontext von PND häufig nicht erfüllt wird (Feldwisch-Drentrup 2023). Werden seitens schwangerschaftsbegleitender Ärzt*innen negative Annahmen über ein Leben mit Behinderungen in der Beratung reproduziert, dürften Entscheidungen für die Inanspruchnahme von PND sowie für den Abbruch von Schwangerschaften im Fall eines auffälligen fetalen Befundes begünstigt werden.
1 In diesem Beitrag wird auf gendergerechte Sprache geachtet. In den vorgestellten Interviewauszügen wird teilweise das generische Maskulinum verwendet sowie in der Zweigeschlechternorm verhaftetes Vokabular im Sprechen über Schwangerschaft(sbegleitung) und schwangere Personen genutzt.
2 In diesem Beitrag werden die Begriffe Embryo und Fötus für den Zeitraum der Schwangerschaft und der Ausdruck potenzielles Kind für den Zeitraum nach der Geburt verwendet. In den vorgestellten Interviewauszügen wird teilweise der weniger neutrale Begriff Kind verwendet, welcher sicherlich mit der gewählten Bezeichnung vieler schwangerer Personen übereinstimmt.
3 Erste Ergebnisse bezüglich der „Prozess- und Ergebnisqualität“ von Beratung und Informationsweitergabe zum NIPT als Kassenleistung liefert eine Befragung von schwangeren Personen an Pränatal-Zentren (Fruth et al. 2024).
4 Dieser Artikel begrenzt sich auf die ärztliche Beratung zu PND in Deutschland. Dementsprechend werden lediglich auf den hiesigen Kontext bezogene Vorgaben, Rahmenbedingungen sowie Studienergebnisse einbezogen. In der internationalen Literatur lässt sich mehr Forschung zur ärztlichen Rahmung von Behinderung im Kontext von PND finden (z. B. Thomas 2017; Löwy 2018).
5 Die erste Erhebung von 2015 wurde im Rahmen des Forschungsprojekts ‚Körperpolitik – Politische Steuerung von Leben und Tod‘ von Teilnehmer*innen eines studentischen Forschungsseminars am Politikwissenschaftlichen Institut der Universität Bremen unter der Leitung von Janna Wolff durchgeführt. Ebenfalls angebunden an dieses Forschungsprojekt führte ich 2016 die zweite Erhebungsphase durch und arbeitete erste Ergebnisse für ein Gutachten zum aktuellen Stand und zu Entwicklungen der Pränataldiagnostik heraus, mit dessen Erstellung Janna Wolff zusammen mit Sigrid Graumann beauftragt worden war.
6 Ausgehend von der Forschungsfrage „Wie wirken sich medizin-technische und rechtliche Entwicklungen aus ärztlicher Perspektive auf die Beratung zu Pränataldiagnostik in gynäkologischen Praxen aus?“ überarbeitete und erweiterte ich den 2015 genutzten Leitfaden. In der Auswertung wurden Ergebnisse beider Erhebungen berücksichtigt.
7 Für einen Überblick über das pränataldiagnostische Untersuchungsangebot siehe Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (2024).
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