Jugendliche Zukunftsvorstellungen nach der Pandemie

Diskurs Kindheits- und Jugendforschung / Discourse. Journal of Childhood and Adolescence Research 3-2022: Zukunftsperspektiven von Jugendlichen auf ihr weiteres Leben unter Berücksichtigung der Covid-19-Pandemie

Zukunftsperspektiven von Jugendlichen auf ihr weiteres Leben unter Berücksichtigung der Covid-19-Pandemie

Sina-Mareen Köhler, Maren Zschach

Diskurs Kindheits- und Jugendforschung / Discourse. Journal of Childhood and Adolescence Research, Heft 3-2022, S. 325-337.

 

Zusammenfassung
Im Mittelpunkt des Beitrages stehen Zukunftsvorstellungen, die Bestandteil von insgesamt 15 biographischen Interviews mit 12- bis 15-Jährigen sind. Die zugrunde liegenden Daten stammen aus zwei qualitativen Forschungsprojekten mit ähnlichen Erkenntnisinteressen und Fragestellungen und berücksichtigen Jugendliche aus unterschiedlichen Schulformen. Einbezogen wurden dabei auch junge Menschen mit diversen Lernschwierigkeiten. Der Beitrag geht der Frage nach, welche Zukunftsvorstellungen die Interviewten äußern und inwiefern die Covid-19-Pandemie dabei eine Rolle spielt.

Schlagwörter: Zukunftsvorstellungen, Jugend, Sozialisation, Krise

 

Future perspectives of young people taking into account the Covid-19 pandemic

Abstract
The focus of this paper lies on the future perspectives of 12-15 year olds based on 15 biographical interviews. The underlying data are taken from two qualitative research projects with similar research questions and research interests which include young people from different types of schools. Further, young people with diagnosed learning difficulties were included. The article investigates which future perspectives the interviewees express. It also examines whether and to what extend the current Covid 19 pandemic affects these expectations.

Keywords: future perspectives, youth, socialization, crisis

 

1 Einleitung und Fragestellung

Mittlerweile hat sich ein erziehungswissenschaftlicher Diskurs zur Bedeutung der Auswirkungen der Covid-19-Pandemie auf Kinder und Jugendliche entwickelt, der auf eine stetig zunehmende empirische Datenbasis zurückgreifen kann. Allerdings dominieren dabei Bezugnahmen auf die schulische Leistungserbringung und den Fernunterricht (Böttger & Zierer, 2021; Fickermann & Edelstein, 2021). Diesbezüglich finden sich nur vereinzelt Studien, die die Schüler*innenperspektiven berücksichtigen (Jesacher-Rößler et al., 2021; Wacker et al., 2020). Untersuchungen der veränderten Lebenswelten und Sichtweisen von Kindern und Jugendlichen weisen einerseits auf die zugenommenen Belastungen und Zukunftsängste im Verlaufe der Pandemie hin, aber einige konstatieren auch die Entstehung von Freiräumen und neuen Bildungspraxen (Andresen et al., 2020, 2021; Fuchs & Matzinger, 2021; Köpfer, 2021). An diese Forschungsdiskurse schließt der vorliegende Beitrag an, indem mit qualitativen Forschungsstrategien die Zukunftsvorstellungen von 12- bis 15-Jährigen untersucht werden.

Die zugrunde liegenden Daten stammen aus zwei Forschungsprojekten1 mit ähnlichen Erkenntnisinteressen und Fragestellungen. Durch die Zusammenarbeit war es möglich, Interviews mit jungen Menschen in diversen schulischen und außerschulischen Lern- und Bildungssettings zu berücksichtigen.

Zentraler empirischer Bezugsrahmen ist in diesem Beitrag die exmanente Nachfrage am Ende der offenen lebensgeschichtlichen Erzählung nach den eigenen Zukunftsvorstellungen, die auf eine argumentative bzw. prognostizierend-beschreibende Positionierung abzielt. Die empirische Grundlage liefern insgesamt 45 narrative Interviews, von denen jene 15 Interviews im Folgenden berücksichtigt wurden, die zum Zeitpunkt der Arbeit an diesem Beitrag bereits ausgewertet waren.

Unsere hier leitende Fragestellung zielt auf Zukunftsvorstellungen, welche die 12- bis 15-jährigen Jugendlichen unter den aktuellen Lebensbedingungen der Covid-19-Pandemie entfaltet haben. Bestimmt die Pandemie zeitbezogene Vorstellungen der eigenen zukünftigen Existenz maßgeblich, wird Covid-19 als vorübergehende Episode gerahmt oder spielt der pandemische Faktor keine Rolle in den zukunftsbezogenen Identitätsentwürfen und -projekten dieser jungen Menschen? Von den besonderen aktuellen Lebensbedingungen abstrahierend, ist in diesem Zusammenhang danach zu fragen, wie sich Lebensentwürfe in den biographischen Erzählungen manifestieren und wie diese Überlegungen der Jugendlichen über ihre Zukunft ausgestaltet sind. Vorab wird mit Kapitel zwei in die relevanten wissenschaftlichen Diskurse und mit Kapitel drei in das Forschungsdesign der beiden Projekte eingeführt.

2 Theoriediskurse und Forschungsstand

2.1 Zukunftsvorstellungen und -bewertungen von Jugendlichen

Eine lange Tradition hat innerhalb der Zeitforschung die Untersuchung der Bewertung von Zeitperspektiven (Finan et al., 2020; Mello et al., 2013; Zimbardo & Boyd, 1999). Im Sinne einer positiven, negativen oder ambivalenten Beurteilung geht es hier u.a. um lebenszeitbezogene Auseinandersetzungen mit der eigenen Zukunft. In einer Studie mit 1.700 Jugendlichen im Alter von ca. 14 Jahren von Buhl und Lindner (2009) zeigte sich, dass ein optimistischer Blick auf alle Zeitperspektiven bei zwei Dritteln der Befragten dominierte und zusätzlich ca. 20 Prozent dieser Jugendlichen ihre Gegenwart zwar negativ betrachten, jedoch trotzdem zuversichtlich in ihre Zukunft blicken (Buhl & Lindner, 2009, S. 214).

An Einschätzungen von Zukunft in Form von Wünschen, Freuden, aber auch Ängsten schließen einige Jugendsurveys an, die auch dezidiert persönliche Vorstellungen der Befragten berücksichtigen und auf Sozialisationsaspekte eingehen. So werden z.B. seit Anfang der 1990er Jahre im Rahmen der Shell-Jugendstudien persönliche Zukunftseinschätzungen erhoben und dabei bildungsbezogene und soziale Schichteffekte nachgewiesen.

Hier zeichnet sich ebenfalls eine optimistische Grundstimmung ab, die 2019 von 58 Prozent der ca. 2.500 Befragten 12- bis 15-Jährigen vertreten wird und zudem seit 2010 recht stabil ist. Eine weitere Gruppe von jungen Menschen schätzt ihre Zukunft ambivalent ein, nur ein kleiner Teil von drei bis sieben Prozent im Sample blickt mit Sorge auf die eigene Zukunft (Albert et al., 2019, S. 182). Diese Zukunftsvorstellungen sind mit Bildungserfahrungen und schulischen Selbstwirksamkeitsüberzeugungen verknüpft, denn ein Vergleich zeigt 2019, dass die Gruppe der Jugendlichen, die ein Gymnasium besuchen, zu 64 Prozent zukunftsoptimistisch ist, während dies für jene, die kein Gymnasium besuchen, nur für die Hälfte der Befragten zutrifft (Albert et al., 2019, S. 181). Dieser Zusammenhang besteht 2019 auch bezogen auf Bildungsaspirationen, denn eine Abschlussorientierung am Abitur ist zu 62 Prozent mit einer optimistischen Zukunftsorientierung verbunden, was bei Jugendlichen mit angestrebtem Hauptschulabschluss lediglich zu 44 Prozent zutrifft (Albert et al., 2019, S. 183). Darüber hinaus spielen kritische Bildungsereignisse eine Rolle bei der Zukunftseinschätzung. Junge Menschen, die solche Brüche befürchten oder sie bereits erlebt haben, sind nur zu 47 Prozent optimistisch, Jugendliche ohne diese negativen Erfahrungen dagegen zu 63 Prozent.

In einer ähnlichen Abstufung schätzen mittlerweile 45 Prozent derjenigen, die bildungsbezogen und ökonomisch den schwächsten Schichten zugeordnet werden, ihre Zukunft optimistisch ein (2015 waren es 32%). Demgegenüber blicken 63 Prozent der Befragten mit hoher Schichtzuordnung äußerst positiv in ihre Zukunft (2015 waren es 76%; Albert et al., 2019, S. 183).

Bezogen auf zukünftige Identitätsprojekte, die mit der Frage nach dem im Leben angestrebten Zielen in der Shell-Studie untersucht wurden, zeigt sich, dass die hohe Bedeutung von Freundschaften mit 97 Prozent, von einer späteren Partnerschaft mit 94 Prozent und einem guten Familienleben mit 90 Prozent gegenüber abstrakteren Wertemustern dominiert (Albert et al., 2019, S. 105-106). Später Eltern zu sein, wünschen sich ca. 70 Prozent der 12- bis 14-Jährigen, bei den 15- bis 17-Jährigen liegt diese angestrebte Zukunftsoption bei 60 Prozent der Befragten. Auch dieser Wert ist seit 2002 sehr stabil (Albert et al., 2019, S. 140).

Wenngleich, wie eben dargestellt, eine Reihe von Daten zu Zukunftseinschätzungen und -wünschen Jugendlicher vorliegen, so besteht das entscheidende Forschungsdesiderat nach wie vor in aktuellen qualitativen Befunden zu den Zeit- und Zukunftsvorstellungen sowie darauf bezogenen Praxen und Orientierungen junger Menschen, die sich im weiteren Verlauf der Pandemie als gravierend erweisen, aber auch erstaunlich stabil sind (Stauber, 2021; Köhler & Zschach, 2016).

1 Zum einen handelt es sich um eine Studie zu Verläufen politischer Sozialisation, die am Deutschen Jugendinstitut, Außenstelle Halle (Saale) durchgeführt und durch das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend gefördert wird. Zum anderen handelt es sich um das Projekt „Peerbeziehungen und Partizipation im Wandel anlässlich der Covid-19-Pandemie“, das im Bereich Inklusive Pädagogik und Schulentwicklung an der Stiftung Universität Hildesheim von der DFG gefördert wird (Projektnummer: 470250951) wird.

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© Unsplash 2022, Foto: Dim Hou