Autokratie und Demokratie im 21. Jahrhundert

GWP – Gesellschaft. Wirtschaft. Politik 1-2023: Gehört die Zukunft den Autokratien?

Gehört die Zukunft den Autokratien?

Uwe Backes

GWP – Gesellschaft. Wirtschaft. Politik, Heft 1-2023, S. 41-51.

 

Zusammenfassung
Autokratien sind politische Systeme ohne effektive Gewaltenkontrollen. Nicht alle, aber manche von ihnen gewinnen durch gute Leistungen Akzeptanz und können so große Teile der Bevölkerung dauerhaft integrieren. Ein demokratisches „Ende der Geschichte“ ist folglich zweifelhaft, solange sich Menschen in autokratische Strukturen fügen und den Genuss erworbener Güter mehr schätzen als die Entfaltungschancen politischer Selbstbestimmung.1

 

„The Global Expansion of Authoritarian Rule“ lautet der Titel des 2022 veröffentlichten Berichts der Washingtoner NGO „Freedom House“. Das 16. Jahr in Folge sei der Anteil der in „freien“ Staaten lebenden Menschen gesunken (auf rund 20 Prozent), während etwa 36 Prozent der Weltbevölkerung unter „unfreien“ Bedingungen lebten (Repucci/Slipowitz 2022: 1). Zwischen beiden Bereichen erstreckt sich eine Übergangszone variantenreicher Regime, die als „teilweise frei“ gelten. Viele von ihnen können ebenfalls als Autokratien (oder Diktaturen) gelten, wenn man sie mit Karl Loewenstein (1959) als politische Systeme fasst, die durch das Fehlen effektiver Gewaltenkontrollen gekennzeichnet sind. Eine „Superexekutive“ beherrscht staatliche Institutionen und Gesellschaft auf eine Weise, dass ihre Machtstellung weder durch Opposition noch durch kritische Medien in Gefahr gerät.

Nicht bewahrheitet hat sich Francis Fukuyamas optimistische Vorhersage angesichts des Niedergangs realsozialistischer Autokratien in Europa: Die normative „Universalisierung der westlichen liberalen Demokratie als der endgültigen Form politischer Ordnung“ (Fukuyama 1989: 4) sei unabwendbar. Stattdessen erzielen demokratiegefährdende Populismen Resonanzgewinne in zahlreichen Demokratien – und tragen/trugen zum Qualitätsverlust freiheitlicher Ordnung bei. Zugleich betreibt ein „technokratischer Autoritarismus“ („China Modell“) zunehmend „aktive Diffusionspolitik“ (Zürn 2022: 108), um weltweit an Attraktivität zu gewinnen.

Die Frage nach der „Zukunft der Autokratien“ überfordert die Prognosefähigkeit der Sozialwissenschaften und lässt sich weder pauschal bejahen noch verneinen. Denn die Zukunftsfähigkeit der Ordnungsformen ist interdependent: Sind die freiheitlichen Demokratien so schwach oder die Autokratien so stark? Dieser Beitrag untersucht eine Seite dieser komplexen Wechselbeziehung, indem er sich den Gründen für die Robustheit mancher autokratischer Regime zuwendet. Dabei werden Aspekte der Herrschaftslegitimation ebenso beachtet wie herrschaftsstrukturelle Qualitäten. Auf der Ebene der Herrschaftslegitimation können Despotien (Machtakkumulation und Selbstbereichung als Herrschaftziele; Beispiele: Turkmenistan, Nicaragua), absolute Monarchien (dynastische Legitimation; Beispiele: Oman, Vereinigte Arabische Emirate, Marokko), autoritäre Regime (Rekurs auf traditionale „Mentalitäten“: Sicherheit, Ordnung, kontrollierte Modernisierung etc.; Beispiele: Belarus, Singapur) und Weltanschauungsdiktaturen/Ideokratien (Staatsideologie mit hoher Aussagenreichweite und chiliastischen Tendenzen; Beispiele: Nordkorea, Islamische Republik Iran) unterschieden werden. Auf der Ebene der Herrschaftsstruktur lassen sich Autokratien nach ihren Herrschaftsträgern (etwa: Militärregime wie Myanmar, Algerien, Pakistan) oder dem Ausmaß des Personalismus/Klientelismus (charismatische oder kollektive Führung, Verhältnis formaler und informeller Institutionen) unterscheiden. Zudem finden sich zahlreiche Übergangsformen und „Hybride“ mit beachtlicher Stabilität. Angesichts dieser Formenvielfalt gibt es nicht „den“ entscheidenden Erklärungsfaktor für die Robustheit von Autokratien, sondern situativ sich entfaltende Stärken, die im Systemwettbewerb und unter Stress Regimestabilität bewirken und einen Regimesturz verhindern.

1 Stabilisierende Legitimationsmodi

Wer argumentiert, autokratische Eliten hätten ihre Untertanen über lange Zeiträume vorsätzlich in Armut und Unwissenheit gehalten, um ihre Herrschaft mithilfe von Mythen und religiösen Trugbildern zu legitimieren, erfasst zweifellos eine wichtige Komponente autokratischer Herrschaftslegitimation. Denn autokratische Führungszirkel fürchten Situationen, in denen die kunstvoll errichtete Legitimationsfassade einstürzt. Die Offenbarung systemischer Korruption beispielsweise kann ein wirkungsvolles Instrument der Herrschaftsstabilisierung in sein Gegenteil verkehren. Der Nowitschok-Giftanschlag auf den russischen Oppositionellen Alexej Nawalny (August 2020) sollte einen populären Gegner des Kremls zum Schweigen bringen, dessen Antikorruptionsfeldzug als Gefahr für die Unterstützung des Putin-Regimes galt. Nawalny rächte sich vor seiner tollkühnen Rückkehr (und Inhaftierung) mit einem Enthüllungsfilm über Putins Selbstbereicherungspraktiken und seinen geheimen Protzpalast an der Schwarzmeer-Küste (Ackeret 2021). Ähnliches Missgeschick widerfuhr dem Pekinger Autokraten Xi Jinping, als der Hongkonger Unternehmer Desmond Shum im September 2021 ein Sittengemälde der hedonistischen Machtzirkel der Volksrepublik China veröffentlichte (Shum 2021). Shum hatte sich in den Jahren 2002 bis 2017 innerhalb der Topelite bewegt und miterlebt, wie „die Familien der Führungsriege die Nähe zur Macht nutzten, um Milliarden abzuzwacken“ (Böge 2021). Mithilfe seiner vier Jahre zuvor in Peking verschwundenen Frau versuchten Agenten des chinesischen Sicherheitsapparates, Shum dazu zu bewegen, sein Buch zu stoppen. Andernfalls könne seinem Sohn etwas zustoßen. Das Buch zeigte u.a., wie Xi Jinping die von ihm 2012 gestartete Antikorruptionskampagne selektiv nutzte, um Kontrahenten zu schaden und die eigenen Netzwerke zu schützen.

Regimepropagandisten kontern Enthüllungen gewöhnlich mit Gegennarrativen, welche die Glaubwürdigkeit und moralische Integrität der Kritiker untergraben. Dabei gilt es, Legitimierungsmechanismen zu reaktivieren (wie Sicherheits- und Modernisierungsversprechungen, überlieferte Mentalitäten, Versatzstücke religiöser oder ideokratischer Heilslehren), die in der Bevölkerung wirksam sind. Ein erprobtes Mittel ist die Erzeugung oder Revitalisierung von Feindbildern, um von eigenem Versagen abzulenken und alle Energien im Kampf gegen einen Aggressor zu bündeln.

Die Glaubwürdigkeit der Herrschaftslegitimierung steht und fällt jedoch mit der Wahrnehmung der Leistungsfähigkeit autokratischer Regime (Croissant/Wurster 2013). Autokratien leiden keineswegs generell an der – im Vergleich zu konsolidierten Demokratien vielfach ins Auge springenden (Merkel 2010: 59) – Kombination aus Partizipationsfeindlichkeit, mangelnder Responsivität und Innovationsträgheit. Neben den Rentierstaaten am Persischen Golf wie Katar, Kuwait oder Oman wird vor allem der Stadtstaat Singapur mit Recht als Beispiel für solides Wirtschaften, Erfüllung von Entwicklungszielen und (sozial-ökonomische) Zukunftsverantwortlichkeit der politischen Führung genannt (Schmidt 2013).

Allerdings kann auch überzeugende Performanz für Autokratien zum Problem werden. Dies hat Samuel Huntington (1991: 65f.) in seiner – von Modernisierungsoptimismus geprägten – Studie über die „drei Wellen der Demokratisierung“ gezeigt. Autokratien steckten – anders als liberale Demokratien – in einem Performanzdilemma insofern, als nicht nur schlechte, sondern auch gute Leistungen destabilisierend wirkten. Denn soziale Modernisierung und ökonomische Entwicklung erzeugten Demokratisierungsdruck: Ein ansteigendes Wohlstandsniveau fördere die Verbreitung von Einstellungen und Werthaltungen (interpersonales Vertrauen, Lebenszufriedenheit, Kompetenz), die demokratische Orientierungen begünstigten. Wirtschaftliche Entwicklung führe zu einer Hebung des Bildungsniveaus, und gut ausgebildete Menschen neigten stärker als wenig Gebildete zu demokratischen Überzeugungen. Wirtschaftliche Entwicklung mache Ressourcen für verschiedene soziale Gruppen verfügbar und erleichtere eine Mentalität des Ausgleichs, des Aushandelns und der Kompromissbildung. Sie bewirke auch die Öffnung der Gesellschaften für Außenhandel, Investitionen, Technologietransfer, Tourismus und Kommunikation. Die Verflechtung eines Landes mit der Weltwirtschaft lasse von der Regierung unabhängige Quellen von Wohlstand und Einfluss sprudeln und öffne die Gesellschaft gegenüber demokratischen Ideen. Schließlich führe ökonomische Entwicklung zur Entstehung von Mittelschichten: Geschäftsleute, Fachpersonal, Ladenbesitzer, Lehrer, Zivilbedienstete, Manager, Techniker, Büroangestellte, die politischen Einfluss ausüben, mitberaten und mitentscheiden wollen. Diesen Anforderungen seien Autokratien auf Dauer kaum gewachsen.

Wie aber erklärt sich dann die Zählebigkeit vieler autokratischer Regime? Neuere Forschungen scheinen nahezulegen, dass Performanzdilemmata nicht zwangsläufig eintreten. So konstatierten Dag Tanneberg, Christoph Stefes und Wolfgang Merkel (2013) in einer statistischen Analyse für Autokratien einen stabilisierenden Effekt eines hohen Bruttoinlandsprodukts. Auf der Ebene der Herrschaftslegitimation unterschätzt Huntington die Fähigkeit von Autokratien, systemische Legitimität zu erzeugen und zu erneuern (Backes 2013). Kunstvolle Legitimationsfassaden, traditionale Mentalitäten wie auch große politische Verheißungen können über lange Zeiträume eine Grundlage für lang andauernde Regimestabilität schaffen.

1 Dieser Beitrag stützt sich in weiten Teilen auf Kapitel IX und XI meines Nomos-Buches: Autokratien, Baden-Baden 2022.

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