In den Zeiten der Pandemie verlangen die Menschen nach mehr informationstechnologischer Bildung in den Schulen. In der Wirtschaftskrise lautet der Ruf nach Bildung: Mehr Allgemeinbildung! In der Arbeitsmarktkrise: Mehr Berufsbildung! In der Demokratiekrise rufen die Politiker: Mehr politische Bildung! Die Migrationskrisen sollen durch sprachliche Bildung der Migranten bewältigt werden. In Existenzkrisen des Staates soll mehr historische Bildung helfen. Doch was meinen sie, wenn sie alle rufen: Mehr Bildung?
Ich schildere in meiner bildungspolitischen Autobiographie Meine deutsche Bildungsrepublik (2021) gesellschaftliche Krisen, die ich in Westdeutschland miterlebt habe, und ich erinnere mich an die bildungspolitischen Reaktionen auf diese Krisen, denn ich war Schüler in der unmittelbaren Nachkriegszeit, Student zur Zeit des „Wirtschaftswunders“, Bildungsforscher im „Jahrzehnt der Bildungsreform“, Juraprofessor während der Wiedervereinigung und Direktor des Deutschen Jugendinstituts in Zeiten der Globalisierung.
Die unmittelbare Nachkriegszeit
In der unmittelbaren Nachkriegszeit war Deutschland zerstört und militärisch besetzt. Die meisten Menschen waren elend und durch die Traumata von Nationalsozialismus und Krieg belastet. Dennoch gingen die Kinder schon im Sommer 1945 wieder zur Schule und auch die Universitäten öffneten wieder. Die Lehrer und Professoren setzten aber den Unterricht nicht einfach im Sinne des Nationalsozialismus fort, sondern besannen sich auf die guten alten deutschen Traditionen des 19. Jahrhunderts und der Weimarer Republik. Zwar gab es vereinzelte, z.T. von den Besatzungsmächten nahegelegte Reformversuche; doch im Großen und Ganzen reagierte die Bildungspolitik der wiedererstehenden westdeutschen Länder auf die politische und moralische Krise mit einer Rückwendung zur deutschen Vergangenheit. In der Sowjetischen Besatzungszone entwickelte die Sozialistische Einheitspartei zwar ein Programm zu einer radikalen Umgestaltung des Bildungswesens; doch sie stellte die Durchsetzung dieses Programms einstweilen zurück, weil sie zusammen mit allen antifaschistischen Kräften nach der deutschen Einheit – unter ihrer Führung – strebte, sodass auch im Osten die Rückbesinnung auf die fortschrittlichen Traditionen der deutschen Bildungsgeschichte im Vordergrund stand.
Der Deutsche Ausschuss für das Erziehungs- und Bildungswesen, ein 1953 gegründetes bildungspolitisches Reformgremium, schrieb im Jahre 1955, dass das Bildungswesen der Bundesrepublik den Veränderungen, die in der Mitte des 20. Jahrhunderts die deutsche Gesellschaft grundlegend umgestaltet hätten, nicht nachgekommen sei, sondern an veralteten Strukturen und Verfahren festgehalten hätte. Das sog. „Wirtschaftswunder“, d.h. der materielle Wiederaufstieg Westdeutschlands verdeckte im Grunde nur die politische und gesellschaftliche Krise, denn Deutschland war gespalten und die beiden deutschen Länder waren keine souveränen Staaten. Es gab noch keine westdeutsche und schon gar keine ostdeutsche Identität. Die westliche Bildungspolitik beschränkte sich auf den äußeren Wiederaufbau im Rahmen der alten Strukturen. Es herrschte Stagnation.
Die Studentenbewegung der 60er-Jahre
Erst zehn Jahre später in der Mitte der sechziger Jahre machte die Studentenbewegung eine gesellschaftliche Krise offensichtlich, die – vom Bildungswesen ausgehend – in allen Gesellschaftsbereichen einen Modernisierungsbedarf erkennen ließ. Im nun folgenden „Jahrzehnt der Bildungsreform“ sollten neue Strukturen für das Bildungswesen geschaffen werden, und zwar durch die Ausdehnung der Bildungszeiten, durch Gesamt(hoch)schulen, eine grundlegende Curriculumrevision, die Pädagogisierung der Lehrlingsausbildung, die Institutionalisierung der Weiterbildung und vor allem durch Mitbestimmung. Doch in den siebziger Jahren verflog der Elan, und an die Stelle der Reform- trat die Expansionspolitik, der quantitative Ausbau der weiterführenden Schulen und der Hochschulen, während die alten Strukturen weitgehend erhalten blieben. Es folgte nun in der Bildungspolitik eine weitere zehnjährige Phase der Stagnation.
Die Zeit nach der Wiedervereinigung
Der Zusammenbruch der DDR im Jahre 1989 und die Vereinigung mit der Bundesrepublik im Jahre 1990 wurden zwar von vielen auf eine Krise ausschließlich der DDR zurückgeführt; doch die Umweltkrise z.B. zeigte auch in Westdeutschland tiefgreifende allgemeinere gesellschaftliche Struktur- und Verhaltensprobleme. So ertönte auch im Westen der Ruf nach einem grundlegenden Wandel, und zwar nicht nur in der Umwelt-, sondern auch in der Bildungspolitik. Doch die Wiedervereinigungspolitik überlagerte alle anderen Probleme. Nicht nur im Osten, sondern auch im Westen wurde die Forderung laut, zu prüfen ob es nicht in der DDR einzelne Elemente des Bildungswesens gegeben habe, die man in den Ländern des vereinigten Deutschlands übernehmen bzw. erhalten könne. Aber nein, die Neuen Länder führten das westdeutsche Bildungssystem ein und erhielten nur sehr wenig von den Strukturen, die sich in der DDR entwickelt hatten. Im Westen änderte sich nichts. Es war deshalb von einer „Kolonisierung“ des Ostens durch den Westen die Rede.
Ruf nach Bildung: PISA-Ergebnisse
Die Veröffentlichung der PISA-Ergebnisse im Jahre 2001 stürzte Deutschland in eine Krise, weil sich Deutschland im internationalen Vergleich der Schülerleistungen am Beginn des unteren Drittels befand, woraus Gefahren für den Wirtschaftsstandort Deutschland abgeleitet wurden. Die Bildungspolitik reagierte auf diese Krise mit Maßnahmen der Rationalisierung: Output-Orientierung, mehr Leistungsmessungen und Leistungsvergleiche, Zentralisierung der Leistungsmessungen, Digitalisierung, Verwissenschaftlichung der Curriculumrevision, Stärkung der empirischen Bildungsforschung. Und siehe da: Die Ergebnisse verbesserten sich im internationalen Vergleich in den folgenden zwei Jahrzehnten. An Strukturen und Verfahren im Bildungswesen änderte sich aber nichts.
Bildungspolitik und Migration
Die Migration nach Deutschland führte in der Bundesrepublik mehrfach zu Grundsatzdiskussionen und zu krisenhaften Erscheinungen; doch die Bildungspolitik reagierte darauf – wenn überhaupt – sehr zögerlich und unzureichend. Eine richtige gesellschaftliche Krise entstand erst in den Jahren 2015/16 als mehr als eine Million Flüchtlinge nach Deutschland kamen und nicht nur versorgt, sondern auch integriert werden sollten. Die ausländischen Schülerinnen und Schüler sollten nun – nach einem möglichst kurzen Aufenthalt in Übergangs- bzw. Willkommensklassen – Regelklassen besuchen und in das normale Schulwesen integriert werden, was in manchen Großstadtschulen zu anhaltenden Problemen führte. Eine Änderung z.B. der Fremdsprachenpolitik war nicht vorgesehen. Die Erwachsenen mussten Integrationskurse besuchen, die überwiegend Sprachkurse waren, aber auch einhundert Stunden Allgemeinbildung umfassten. Die Ausländerpolitik der Vergangenheit und die Flüchtlingspolitik der Gegenwart führten zu einer weitgehenden faktischen Segregation der Migranten. Ob da die Integrationskurse Abhilfe schaffen würden?
Extreme Gruppierungen
Nicht nur, aber auch die Migrationspolitik zeigte tiefgreifende Spaltungen in der deutschen Gesellschaft. Rechts- und linksextreme politische Gruppierungen, die es immer gegeben hatte, traten nun vermehrt und massiv öffentlich auf und sie reichen bis in das Spektrum der traditionellen politischen Parteien hinein. Sie lehnen das politische System der Bundesrepublik grundsätzlich ab und gefährden den politischen Zusammenhalt. Die Identitätspolitik einiger feministischer und ethnischer Gruppen und ihrer Unterstützer beschränkt sich nicht mehr auf die Förderung der Identität, sondern wendet sich neuerdings vermehrt grundsätzlich und häufig aggressiv gegen die pluralistische Gesellschaftsstruktur. Die Bildungs- und Jugendpolitik reagiert auf diese Entwicklungen mit dem Hinweis auf die Verantwortung der Schulen für die politische demokratische Bildung in den Schulen und mit der verstärkten Förderung demokratiepädagogischer Projekte in der Jugendarbeit. Den gesellschaftlichen Zusammenhalt gefährden auch Individuen und Gruppen, die durch grenzenlosen Egoismus und verantwortungslose Nachlässigkeit das Gemeinwohl beeinträchtigen, seien es nun die Spitzenmanager mit ihren maßlosen Boni oder die rücksichtslosen Raser auf der Autobahn, die vergnügungssüchtigen Partygänger oder die maskenverweigernden Querdenker. Emile Dürkheim nannte diese Erscheinungen Anomie und prognostizierte einen gesellschaftlichen Zusammenbruch, wenn sie ein gewisses Maß überschreiten. Die Bildungspolitik, die solche Erscheinungen selber in ihren Institutionen kennt, reagierte bisher mit bloßen Appellen zum Wohlverhalten, also mit Ohnmacht.
Bildung in der Pandemie
Die tiefste Krise der Nachkriegszeit hat die Corona-Pandemie verursacht. Sie hat die gesamte Gesellschaft, auch das Bildungswesen in den Grundfesten erschüttert. Die Bildungspolitik hat zunächst mit einer totalen Schließung der Bildungseinrichtungen geantwortet und dann nach einem gewissen Rückgang der Gefährdungen pädagogische und hygienische Gegenmaßnahmen angeordnet, z.B. den Wechselunterricht und die AHA-L Maßnahmen, – diesmal also nicht mit mehr, sondern weniger Bildung. Einstweilen geht die Politik davon aus, dass die Pandemie eines Tages vorbei und alles wieder so wie früher sein wird. Es könnte aber auch anders sein. Die weitere dauerhafte Verbreitung der Mutanten des Corona-Virus oder das Auftauchen neuer Viren könnten dazu führen, dass wir dauerhaft mit Pandemien, dass wir in einer „pandemischen Gesellschaft“ leben müssen. Was dann? Dann, aber eigentlich nicht erst dann, sondern jetzt müssen wir über ein gänzlich anderes Bildungssystem nachdenken, ein Bildungssystem, das nicht die Präsenz relativ großer Gruppen von Kindern und Jugendlichen und die Anwesenheit wechselnder Lehrpersonen voraussetzt, sondern das das kognitive Lernen weitgehend digital organisiert und für das repetitive und soziale Lernen stabile kleine Präsenzgruppen mit stabilen Moderatoren für relativ kurze Zeiträume vorsieht. Das wäre ein sehr anderes Bildungssystem als das seit zweihundert Jahren bekannte. Vielleicht könnte sich das Bildungswesen dann von seiner Aufgabe der Wissensvermittlung befreien, die inzwischen anders und besser organisiert werden kann, um sich den Verstehens-, Kommunikations- und Entwicklungsaufgaben der Kinder und Jugendlichen zu widmen, der „wirklichen Bildung“.
Ruf nach Bildung: Fazit
In den gesellschaftlichen Krisenzeiten führte also der Ruf nach Bildung zu einer Politik der Restauration früherer Bildungsformen oder des Transfers eines bewährten Bildungssystems in weitere Gebiete oder förderte die Expansion und Rationalisierung des bestehenden Systems im Sinne eines more of the same, but somehow „better“. Die Zeiten zwischen den gesellschaftlichen Krisen waren dagegen Zeiten der Stagnation in der Bildungspolitik.
Der Autor
Prof. Dr. iur. Ingo Richter ist emeritierter Professor für Öffentliches Recht, Berlin. Von 1993 bis 2002 war er Vorstand und Direktor des Deutschen Jugendinstituts (DJI), München.
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Ingo Richter:
Meine deutsche Bildungsrepublik. Eine bildungspolitische Autobiographie
© Unsplash 2022 / Foto: Kelly Sikkema