Rechtsextremismus in Lehrplänen und Schulbüchern in Nordrhein-Westfalen

Rex – Zeitschrift für Rechtsextremismusforschung 1-2024: Das Themenfeld Rechtsextremismus in Kernlehrplänen und Schulbüchern des sozialwissenschaftlichen Unterrichts in NRW

Das Themenfeld Rechtsextremismus in Kernlehrplänen und Schulbüchern des sozialwissenschaftlichen Unterrichts in NRW

Fabian Schneider, Karim Fereidooni

ZRex – Zeitschrift für Rechtsextremismusforschung, Heft 1-2024, S. 105-118.

 

Zusammenfassung: Dieser Beitrag untersucht, wie Rechtsextremismus in den Kernlehrplänen und Schulbüchern des sozialwissenschaftlichen Unterrichts Nordrhein-Westfalens thematisiert wird. Es wird beschrieben, welches Verständnis von Rechtsextremismus in beiden Domänen vermittelt wird, welche inhaltlichen Schwerpunkte gesetzt und welche didaktischen Ziele verfolgt werden. Die Untersuchung weist nach, dass eine staatszentrierte Perspektive auf Rechtsextremismus, entlang des behördlichen Rechtsextremismusbegriffs, an die Schüler:innen vermittelt wird. Rechtsextremismus wird zudem in beiden Domänen nicht nur oft historisiert, sondern seine Ursachen werden nur randständig thematisiert. Schulbücher und Kernlehrpläne legen einen methodisch-didaktischen Schwerpunkt auf den Aufbau von Fachwissen zum Thema, sparen die politische Urteilskompetenz allerdings fast aus. Für die politische Bildung wird auf Basis der Erkenntnisse ein neues Verständnis von Rechtsextremismus vorgeschlagen, das einen stärkeren methodisch-didaktischen Fokus auf die Urteilskompetenz der Schüler:innen und einen größeren inhaltlichen Schwerpunkt auf die Verbreitung rechtsextremer Einstellungen in der Gesamtgesellschaft legt.

Schlüsselbegriffe: Politische Bildung, Schulbuch, Lehrplan, Rechtsextremismus

 

The topic of right-wing extremism in curricula and textbooks for social science education in North Rhine-Westphalia

Summary: This article investigates how right-wing extremism is featured in core curricula as well as in textbooks of social science education in North Rhine-Westphalian secondary schools. It is described which understanding of right-wing extremism is used, which contentrelated emphases are made, and which didactic goals are pursued. As the article shows, a statecentred perspective of right-wing extremism is conveyed to students through both textbooks and curricula. Right-wing extremism is not only historicised in both domains, but also its causes only marginally addressed. Textbooks and curricula lay didactic emphasis on building knowledge about the topic, while omitting developing students’ own political judgement almost completely. Based on these findings, a new understanding of right-wing extremism is advocated, which lays greater didactic emphasis on students’ political judgements and greater content-related focus on the spread of right-wing extremist attitudes in society as a whole.

Keywords: political education, textbooks, curricula, right-wing extremism

 

1 Einleitung

Dieser Beitrag geht der Frage nach, wie das Themenfeld Rechtsextremismus in den Kernlehrplänen und Schulbüchern des sozialwissenschaftlichen Unterrichts Nordrhein-Westfalens verankert ist. Zielperspektive ist es vor dem Hintergrund dieser Forschungsfrage zu beschreiben, welche Inhalte des Themenfeldes Rechtsextremismus die Kernlehrpläne und Schulbücher des sozialwissenschaftlichen Unterrichts thematisieren, welche Verständnisse von Rechtsextremismus vermittelt werden, welche inhaltlichen und methodisch-didaktischen Schwerpunkte gesetzt werden, wie sich die Schüler:innen innerhalb des sozialwissenschaftlichen Unterrichts mit Rechtsextremismus auseinandersetzen und welche Ziele mit dieser Auseinandersetzung verbunden sind. Schulbuch und Kernlehrplan bieten sich als Untersuchungsobjekte deswegen an, da sie, obwohl von fachdidaktischer Forschung oft vernachlässigt, als wesentliche Determinanten der Planung und Gestaltung von Unterricht gelten können. Eine gemeinsame Betrachtung beider Domänen ist sinnvoll, da sie sich gegenseitig bedingen. Für die Analyse beider Domänen wird jeweils ein qualitatives Forschungsdesign verwendet.

2 Rechtsextremismus

Ein Grundproblem bei der Beschäftigung mit Rechtsextremismus besteht darin, dass keine Definition des Begriffs vorliegt, die in der fachwissenschaftlichen bzw. gesellschaftspolitischen Diskussion allgemein anerkannt und unumstritten wäre (Stöss 2007: 14).

Unterschieden werden muss zwischen einem behördlichen Verständnis von politischem Extremismus und einem politikwissenschaftlichen Rechtsextremismusbegriff. Der sogenannte behördliche Extremismusbegriff basiert auf der Annahme einer strukturellen Differenz zwischen einem politischen Extremismus an den Rändern eines politischen Spektrums, das sich von links nach rechts erstrecke, und einer Mehrheitsgesellschaft, die in der Mitte dieses Kontinuums als demokratische Mitte zwischen den antidemokratischen politischen Extremist:innen stehe (Grumke 2017: 22). Politischer Extremismus fasst dabei all jene Bestrebungen zusammen, die sich fundamental gegen den demokratischen Verfassungsstaat, dessen Prinzipien, Strukturen und Regeln sowie gegen dessen Werte wenden. Am prominentesten wird dieser Extremismusbegriff von den Verfassungsschutzbehörden und den Innenministerien vertreten, die seit Mitte der 1970er-Jahre den Begriff als Grundlage für ihre Arbeit verwenden – hierher stammt die Bezeichnung ‚behördlich‘ (Virchow 2016: 14).

Um die fundamentalen Werte, Regeln und Prinzipien des demokratischen Verfassungsstaats, die von den Extremist:innen abgelehnt und bekämpft werden, zu operationalisieren, berufen sich die Vertreter:innen des behördlichen Extremismusbegriffs auf die Formel der freiheitlichen demokratischen Grundordnung (FDGO; vgl. Schedler 2019: 20f.). Das Verständnis der FDGO geht auf ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 1952 zurück: In dem Parteiverbotsverfahren gegen die Sozialistische Reichspartei (SRP) befand das Gericht, dass sich die FDGO vor allem in der Achtung der Menschenrechte, der Volkssouveränität, dem Mehrparteienprinzip, der Gewaltenteilung und Unabhängigkeit der Justiz, der Verantwortlichkeit der Regierung und Gesetzmäßigkeit der Verwaltung sowie der Chancengleichheit der Parteien mit dem Recht auf Oppositionsbildung zeige (vgl. BVerfG1952: 16 f.). Die Vertreter:innen des behördlichen Extremismusbegriffs nehmen diese Ausführungen auf: Für sie gelten solche Gruppierungen und Strömungen als extremistisch, die sich gegen die FDGO wenden.

Von der Sozialwissenschaft wird dieses Begriffsverständnis scharf kritisiert und abgelehnt (Virchow 2016: 15). Ein erster Kritikpunkt ist dabei, dass in der Extremismustheorie Linksextremismus und Rechtsextremismus inhaltlich gleichgestellt würden, da sie lediglich als links- bzw. rechtsgerichtete Spielarten politischen Extremismus, die spiegelbildlich an den Rändern des politischen Spektrums agierten, auf das Ziel, die FDGO beseitigen zu wollen, reduziert würden (vgl. Stöss 2007: 20f.). Salzborn (2020: 16 f.) betont, dass eine solche Gleichstellung wenig überzeugend sei, bezögen sich Linke doch kategorial auf die Gleichheit der Menschen, während Rechtsextreme die Ungleichheit der Menschen als Ausgangspunkt für Einstellung und Handeln nähmen. Zweitens wird kritisiert, dass eine Konstruktion in demokratische Mitte und extremistische, demokratiefeindliche Ränder ignoriere, dass rechtsextreme Einstellungsmuster und Sichtweisen durchaus auch von breiten Teilen der Mehrheitsgesellschaft geteilt werden (vgl. Schedler 2019: 23; Virchow 2016: 15; s. u.). Eine Konstruktion, die eine Dichotomie zwischen einer demokratischen Mitte und einem problematischen extremistischen Rand unterstelle, sei empirisch vor diesem Hintergrund nicht haltbar (vgl. Fischer 2020: 211). Drittens wird dem Extremismusmodell vorgeworfen, es sei analytisch nicht in der Lage, die verschiedenen Entstehungskontexte, Traditionen, Handlungspraktiken, Einstellungsmuster, weltanschaulichen Hintergründe und Ansichten des Rechtsextremismus zu erfassen und zu erklären, wenn die Definition von Extremismus nur an der Formel der Gegnerschaft zur FDGOorientiert werde (Stöss 2007: 21). Politikwissenschaft könne Rechtsextremismus nicht nur als Bedrohung für die demokratische Ordnung ansehen, sondern müsse analytisch weitergehen, um sich mit den Folgen, Formen und Ursachen auseinandersetzen zu können. Das Extremismusmodell sei zu eindimensional, um die Komplexität des Phänomens zu erfassen (Grumke 2017: 24).

Von der Politikwissenschaft ist deswegen ein Rechtsextremismusverständnis entwickelt worden, dass sich von der Extremismustheorie abhebt und dabei als Sammelbegriff für unterschiedliche rechtsgerichtete, undemokratische und menschenfeindliche Erscheinungsformen fungiert (Stöss 2007: 24f.). Durchgesetzt hat sich eine Definition von Jaschke (2001:30), die von den meisten sozialwissenschaftlichen Analysen, die sich mit Rechtsextremismus auseinandersetzen, als Grundlage akzeptiert und unter dem Stichwort des ‚politikwissenschaftlichen Rechtsextremismusbegriffs‘ diskutiert wird (vgl. u. a. Schedler 2019: 28; Virchow 2016: 16; Stöss 2007: 24). Jaschke (2001:30) definiert Rechtsextremismus dabei wie folgt:

„Unter Rechtsextremismus verstehen wir die Gesamtheit von Einstellungen, Verhaltensweisen und Aktionen, organisiert oder nicht, die von der rassisch oder ethnisch bedingten sozialen Ungleichheit der Menschen ausgehen, nach ethnischer Homogenität von Völkern verlangen und das Gleichheitsgebot der Menschenrechts-Deklarationen ablehnen, die den Vorrang der Gemeinschaft vor dem Individuum betonen, von der Unterordnung des Bürgers unter die Staatsräson ausgehen und die den Wertepluralismus einer liberalen Demokratie ablehnen und Demokratisierung rückgängig machen wollen“.

In den Mittelpunkt stellt diese Definition die Vorstellung einer essenziellen Ungleichheit der Menschen, die das Denken und Handeln rechtsextremer Akteur:innen bestimmt (Schedler 2019: 28). Damit bietet sie einen zentralen Kern, an dem entlang man Rechtsextremismus beschreiben kann, der inhaltlich aber breiter gefasst ist als nur die Gegnerschaft zur FDGO.

Ein weiterer Vorteil dieses Verständnisses ist, dass es gleichzeitig sowohl Einstellungsmuster als auch Verhaltensweisen und Aktionen in den Blick nimmt. Es schließt unterschiedliche Organisationsformen ein und ermöglicht, verschiedene Ursachen, weltanschauliche Konstrukte und Entstehungsprozesse sowie Präventionsmaßnahmen zu analysieren (May/Heinrich 2020: 16). Zuletzt kann dieses Verständnis ebenfalls die Gegnerschaft zur Demokratie in sich aufnehmen, formuliert dies aber nicht allein an verfassungstheoretischen Aspekten, sondern weitet es auf den gesamten Wertepluralismus der freiheitlichen Demokratie aus. Wenngleich vorgeworfen werden könnte, dass dies weniger präzise sei, so ist doch anzumerken, dass genau dieses breite Verständnis dazu beiträgt, Rechtsextremismus in seinen vielfältigen Erscheinungs- und Organisationsformen zu fassen. Aus diesen Gründen soll der politikwissenschaftliche Rechtsextremismusbegriff Jaschkes auch im Rahmen dieses Aufsatzes verwendet werden.

3 Forschungsstand

Obwohl davon auszugehen ist, dass Schulbuch und Kernlehrplan wichtige Determinanten sozialwissenschaftlichen Unterrichts sind, existiert nur wenig systematische Forschung zu beiden Domänen aus fachdidaktischer wie fachwissenschaftlicher Perspektive. Schulbuchanalysen für den sozialwissenschaftlichen Unterricht existieren zum Beispiel für den Bereich der Europabildung (vgl. Oberle/Bischewski/Tatje 2021; Tatje 2017), des sprachsensiblen Fachunterrichts (vgl. Weißeno 2013; Oleschko/Moraitis 2012) oder der Konstruktion von Wissensinhalten (vgl. Straub 2018; Weißeno 2012). In den wenigen existierenden Lehrplanstudien für den sozialwissenschaftlichen Unterricht geht es beispielsweise um die Verankerung von ökonomischen Inhalten im sozialwissenschaftlichen Unterricht oder um den diesbezüglichen Abgleich zwischen Lehrplan und Schulbuch (vgl. Hedtke et al. 2019; Hedtke 2016).

Es lassen sich daneben Studien finden, die sich mit verwandten Konzepten oder einzelnen Bestandteilen rechtsextremer Einstellung befassen. Zu nennen sind hier u. a. Studien über die curriculare Verankerung des historischen Nationalsozialismus (vgl. Carrier/Fuchs/Messinger 2015) oder seiner Darstellung in (Geschichts‐)Schulbüchern (vgl. Reiter 2021; Schinkel 2018; Mittnik 2017; Puaca 2011). Auch Rassismus ist immer wieder Teil verschiedenster Schulbuchstudien (vgl. u. a. Müller-Mathis 2017; Marmer/Sow/Ziai 2015; Marmer 2013; Vernal Schmidt 2021; Bönkost 2021; Bönkost 2020; Grawan 2014).

Für das Themenfeld Rechtsextremismus existieren allerdings nahezu keine Studien, die die Darstellung und Vermittlung des Phänomens in Schulbüchern oder Lehrplänen untersuchen. Bisher ist Rechtsextremismus in Schulbüchern und Lehrplänen – bis auf Christodoulo/Szakács (2018), die mit dem Konzept des ‚gewalttätigen Extremismus‘ auch Linksextremismus oder religiös-motivierten Extremismus untersuchen – allenfalls Gegenstand von Zeitungsartikeln (vgl. Fuchs/Schramm 2021) oder unveröffentlichten Masterarbeiten geworden (vgl. Essers 2019).

Zu erforschen, wie Rechtsextremismus in Schulbüchern und Lehrplänen thematisiert und vermittelt wird, kann demnach als klares Forschungsdesiderat der sozialwissenschaftlichen Fachdidaktik gelten. Vor diesem Hintergrund ist eine Untersuchung von Kernlehrplänen und Schulbüchern angemessen, die nicht ‚gewalttätigen Extremismus‘, sondern spezifisch Rechtsextremismus in den Blick nimmt.

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