Eine Leseprobe aus Populismus und Protest. Demokratische Öffentlichkeiten und Medienbildung in Zeiten von Rechtsextremismus und Digitalisierung von Sabrina Schenk (Hrsg.).
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Knotenpunkte der populistischen, postfaktischen und digitalen Transformation (post-)demokratischer Öffentlichkeiten. Zur Einleitung
Sabrina Schenk
Schaut man auf die Themenkonjunkturen des letzten Jahrzehnts, muss man zu dem Schluss kommen, dass die Demokratie als realpolitisches Projekt in keinem guten Zustand ist. Politikverdrossenheit, Post-Politik, Post-Demokratie, Postfaktizität, (Rechts-)Populismus, Verschwörungstheorien, Fake News, Hate Speech, fragmentierte Öffentlichkeiten, Filterblasen, Echokammern – das sind nur einige der Schlagworte, an denen sich zum einen das zeitdiagnostische Gespür der Bundeszentrale für politische Bildung ablesen lässt, die den meisten dieser Schlagworte eine Ausgabe der „Aus Politik und Zeitgeschichte“ (APuZ) gewidmet hat. In diesen Schlagworten bündeln sich zum anderen die Problembeschreibungen und Ursachenanalysen demokratierelevanter Transformationen nicht nur in einer geballten Ladung von Publikationen der letzten Jahre, sondern auch im Schnittfeld von erziehungs-, medien- und kommunikations- wie politikwissenschaftlichen und soziologischen Fachdiskursen. Diese Problembeschreibungen lassen sich auf drei Ebenen ansiedeln, die miteinander verschränkt sind, und deren Überschneidungsbereiche das Thema der im vorliegenden Band versammelten Beiträge ist.
Erstens deuten sich Legitimitätsprobleme der demokratischen Beteiligung an: In der öffentlichen Berichterstattung, auf unterschiedlichen politischen Ebenen, aber auch im fachwissenschaftlichen Diskurs wird vor der Gefährdung der Demokratie durch den wachsenden Populismus gewarnt. Der ignorante Umgang mit Fakten, die mangelnde Wahrheitsorientierung wie auch, dass neue Akteure (einzelne politische Meinungsführende, rechtspopulistische bis -extreme Parteien oder soziale Protest-/Bewegungen verschiedenster Couleur) repräsentative Positionen (z. B. die ‚Stimme des Volkes‘) beanspruchen, sind basale Kritikpunkte am populistischen Spektrum. Die Demokratie scheint vor allem deshalb in die Krise geraten zu sein, weil sich die falschen (illegitimen) Akteure auf falsche (demagogische, manipulative) Weise beteiligen und dabei hegemonial zu werden drohen – mit irreparablem Schaden für die politische Kultur wie für die demokratischen Institutionen.
Zweitens scheint die rationale Form der Beteiligung an politischem Austausch und Meinungsbildung – kurz: Deliberation – in Frage gestellt: Eine neue ‚Gefühlspolitik‘ scheint Einzug gehalten zu haben, die durch kalkulierten Affekteinsatz und die Zurechnung von politischen Problemen auf einzelne Ursachen oder personalisierte Urheber:innen kollektive Mobilisierungen erzeugen kann. Rhetorische Angriffe der politisch Mobilisierenden wie auch der empörten Massen werden dabei als Grenzverletzungen bzw. Überschreitungen der politisch legitimen Artikulation wahrgenommen, wenn bspw. rechtsstaatliche Institutionen diskreditiert und in Zweifel gezogen oder verbale und physische Angriffe auf politisch Tätige und Medienschaffende ausgeübt werden. In solchen Angriffen äußert sich eine fundamentale Systemkritik, die sich jedem rationalen und deliberativen Diskurs – und damit den Voraussetzungen zur Konsensbildung – schlicht entzieht.
Drittens entsteht mit den digitalen Öffentlichkeiten eine neue Unordnung: Die Grenzen zwischen dem, was sagbar/nicht sagbar, moralisch richtig/falsch oder wahr/unwahr ist, verwischen in diesem Medium auf irreversible Weise. Dafür stehen die rasche Verbreitung von Fake News und Deep Fakes oder von Verschwörungstheorien, die über ihre affektiven Qualitäten in ungeahnter Geschwindigkeit und globaler Reichweite unkontrollierbare Mobilisierungen erreichen können – und zwar auch außerhalb des digitalen Raums. Den aufgeführten politischen Effekten wird also noch Vorschub geleistet durch die (aufmerksamkeits-) ökonomische Logik dieser neuen Medien, auf der inzwischen auch ein ganzer Wirtschaftszweig des Daten-Handels aufbaut. Die demokratische Öffentlichkeit scheint daher Ziel, Medium und Austragungsort der als demokratiegefährdend wahrgenommenen Tendenzen zu sein.
Diese Problemstellungen bilden den Kontext, in dem sich die Beiträge des vorliegenden Bandes verorten und thematisch in einen Zusammenhang bringen lassen, und aus dem sie jeweils unterschiedliche Aspekte vertiefend aufnehmen und verfolgen. Das Anliegen des Bandes ist es zum einen, Debatten miteinander zu verschränken und in einen gemeinsamen systematischen Horizont zu stellen, die in den letzten Jahren von unterschiedlichen Begriffskonjunkturen getragen worden sind. Zum anderen sollen diese Debatten aus (teil)disziplinübergreifenden Perspektiven im Schnittfeld von Allgemeiner Erziehungswissenschaft, Medienpädagogik und Soziologie aufeinander bezogen werden. Für die Erziehungswissenschaft relevant ist die zur „Transformation der demokratischen Öffentlichkeiten“ verdichtete Diagnose insofern, als sich bspw. mit den beobachteten Protest- und Populismus-Phänomenen auch pädagogische bzw. erziehungswissenschaftliche Problemstellungen verbinden: Einerseits wird ihnen häufig mit einem Ruf nach Aufklärung begegnet, andererseits ruft der Aufklärungsanspruch, den solche Positionen wiederum für sich selbst in Anspruch nehmen, auch Fragen nach der Legitimität von zivilgesellschaftlicher Kritik an politischer Repräsentation oder von (wissenschaftlicher) Wahrheits- und Wissensproduktion als solcher auf. Insofern Soziale Medien besonders geeignete Trägermedien dieser Phänomene zu sein scheinen, stehen ihre Nutzungseffekte demnach außerdem in einem spannungsreichen Verhältnis zu den Aufträgen der politischen oder Medienbildung.
Die angesprochenen Transformationen sind geeignet, die pädagogische Orientierung am Auftrag zur Demokratie-Bildung, zur politischen Partizipation, zur rationalen Urteilsbildung und Diskursfähigkeit an ihre Grenzen zu bringen, und stellen deshalb fundamentale Herausforderungen für die Erziehungswissenschaft dar. Die nachfolgenden Ausführungen beabsichtigen, wichtige Bezugspunkte dieser Debatten detaillierter aufzuschlüsseln und weiterzuführen, um sie im Lichte der aktuell noch anhaltenden Verständigungen über die Transformation der demokratischen Öffentlichkeiten zu erschließen und eine orientierende Rahmung für die in den Beiträgen vertieften Themen und Aspekte anzubieten. Da jedoch die inzwischen zu diesem breiten Themenspektrum verfügbare Literatur im vorliegenden Rahmen kaum bearbeitbar ist, wird vor allem in exemplarischer Absicht und anhand ausgewählter Beiträge darzustellen sein, welche kategorialen Problemgehalte sich mit den für die Gefährdungs- bzw. Krisendiagnosen genutzten Begriffe verbinden und wie sie systematisch Ineinandergreifen und sich zeitlich überlagern oder ablösen. In diesen systematischen Knotenpunkten reduziert sich die Komplexität der auf unterschiedlichen Ebenen mit ihnen verbundenen Debatten sowie ihren Vorgeschichten und ihrem Nachleben auf verdichtete Problemkonstellationen.
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Sabrina Schenk (Hrsg.):
auch im Open Access verfügbar
Die Herausgeberin
PD Dr. habil. Sabrina Schenk ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Erziehungswissenschaft an der Technischen Universität Braunschweig.
Über „Populismus und Protest“
Wie verändern Technologien Partizipation? Das Aufkommen digitaler Technologien hat neue Formen des Engagements ermöglicht, die Protestbewegungen, politische Kampagnen oder auch Initiativen der politischen Bildung prägen. Veränderte Aufmerksamkeitsökonomien und Affektpolitiken, von denen rechtspopulistische Akteur*innen profitieren, fordern die demokratische Selbstverständigung ebenso heraus wie die Macht der Daten. Der Band versammelt Perspektiven aus der Allgemeinen Erziehungswissenschaft und Medienpädagogik auf (post-)digitale demokratische Öffentlichkeiten.
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© Titelbild: gestaltet mit canva.com