Kasuistik und studentische Gruppenarbeit

Pädagogische Korrespondenz 68 (2-2023): Sandkastenkasuistik. Anmerkungen zur studentischen Gruppenarbeit in der fallrekonstruktiven Hochschullehre

Sandkastenkasuistik. Anmerkungen zur studentischen Gruppenarbeit in der fallrekonstruktiven Hochschullehre

Hannes König, Eike Wolf

Pädagogische Korrespondenz, Heft 68 (2-2023), S. 12-31.

 

I

Die Etablierung kasuistischer Lehrformate in der Erziehungswissenschaft und ihren Nachbardisziplinen hat nicht nur zu einer Diversität der Verständnisse von Fallarbeit geführt (vgl. Wolf / Bender 2021), sondern ist auch durch übergreifende Muster gekennzeichnet. Spezifisch für die Kasuistik erweist sich erstens inhaltlich ein Fallbezug, zweitens ein programmatischer Anspruch eines gesteigerten Potenzials der Relationierung von theoretischen und praktischen Fragen und drittens gibt es eine charakteristische soziale Form, in die sowohl forschungspraktische wie hochschuldidaktische Fallrekonstruktionspraktiken bzw. -veranstaltungen eingebettet sind. Kasuistik heißt typischerweise auch: Es wird „gemeinsam interpretiert“ (Reichertz 2013), d.h. in einer Gruppe ohne explizite Hierarchien oder Rollenasymmetrien.

Der besondere Stellenwert dieser sozialen Form sattelt unmittelbar auf einer der Gründungsbehauptungen qualitativer Sozialforschung auf, nämlich dass diese in ihrer Forschungspraxis auf eine gruppenförmige Interpretationspraxis angewiesen sei; so als handele es sich dabei um ein Instrument der methodischen Validierung oder zumindest Qualitätssicherung (vgl. Oevermann et al. 1979; Reichertz 2013; Berli 2017; kritisch: Wernet 2021). Unabhängig von der Triftigkeit dieser Annahme, hat sie der populären Praxis gruppenförmiger Interpretationsrunden eine besondere Dignität verliehen und damit einen großen Anteil am Aufschwung insbesondere der sinnrekonstruktiven Varianten qualitativer Sozialforschung, für die die Gruppeninterpretationspraxis geradezu zum Markenzeichen geworden ist.

So hat sich die Gruppeninterpretationspraxis nicht nur auf Workshops und als Arbeitsbereichskolloquium etabliert, sie findet eben auch in der kasuistischen Lehre Anwendung. Welche hochschuldidaktischen Zwecke oder Programmatiken also auch immer mit der Kasuistik assoziiert werden – und natürlich muss die Kasuistik für sich beanspruchen, hochschuldidaktische Zwecke und Professionalisierungspotenziale zu erfüllen –, ihr Modus operandi ist das ‚gemeinsame Interpretieren‘. Diese hochschuldidaktische Praxis wird in der Folge auch selbst wieder zum Gegenstand von fallrekonstruktiven Untersuchungen gemacht. Dieser ‚Kasuistik der Kasuistik‘ wollen wir uns im Folgenden zuwenden.

II

Herzmann et al. attestieren Forschungsarbeiten zur sozialen Praxis kasuistischer Hochschullehre im Kontext universitärer Lehrer*innenbildung bislang insgesamt einen eher explorativen Charakter (vgl. Herzmann et al. 2019). Diese Einschätzung beruht vermutlich auf dem (gedachten) Vergleich mit Forschungsarbeiten zum schulischen Unterricht und ist insofern plausibel. Gleichwohl kann man auch betonen, dass die Forschungslage zur Kasuistik im relativen Vergleich zur nicht-kasuistischen Lehre, bezieht man das Gewicht der Kasuistik im Gesamt-Lehrvolumen mit ein, geradezu herausragend ist. Wir wollen im Folgenden den Blick auf einen spezifischen Aspekt einiger dieser Forschungsarbeiten richten:

Denn auffällig ist, dass sich die meisten „der bislang vorliegenden In-Situ-Studien Gespräche[n] im Rahmen studentischer Gruppenarbeit“ (ebd., S. 9) widmen.1 Das liegt vermutlich auch daran, dass die hochschuldidaktische Sozialform der Gruppenarbeit in der kasuistischen Lehre besonders verbreitet ist, wobei uns hierzu statistische Daten fehlen. Gleichwohl die studentische Gruppenarbeit nicht nur in der kasuistischen Lehre vorkommt, lässt sich empirisch argumentieren, dass sie in den meisten nicht-kasuistischen Lehrkulturen eher die Ausnahme darstellt.2 Das „natürliche Habitat“ der studentischen Kleingruppenarbeit an der Hochschule liegt außerhalb der Lehrveranstaltungen in studentischen Lerngruppen, die vor allem in den mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächern anzutreffen sind und sich der gemeinsamen Klausurvorbereitung und der Bearbeitung der umfänglichen Übungszettel widmen (vgl. Nespor 1994).

Obwohl also studentische Gruppenarbeit nicht per se spezifisch für die Kasuistik ist, prägt diese soziale Form ihre empirische Gestalt und dominiert, wie auch Herzmann et al. betonen, auch in den empirischen Forschungsarbeiten zur Kasuistik. Doch findet gerade diese auffällige ‚Rahmenbedingung‘ kasuistischer Lehre – so die These dieses Aufsatzes – zu wenig systematische Berücksichtigung in den vorliegenden Analysen der kasuistischen Interaktionspraxis. Es wird, um es zu pointieren, kaum ein Unterschied gemacht, ob die Studierenden sich an einer seminaröffentlichen Diskussion beteiligen oder an einer studentischen Gruppenarbeit. Diese These wollen wir an zwei Befunden verdeutlichen, die u.E. zu den elaboriertesten in diesem Forschungsfeld zählen:

Der Befund des ‚Studierendenjobs‘

In einer der grundlegenden Studien zum Thema untersuchen Heinzel, Krasemann und Sirtl (2019) studentische Gruppenarbeit in kasuistischen Seminaren mit Blick auf die Aufgabe des „Protokollierens“ der Ergebnisse der eigenen Gruppe, die im Seminarkonzept vorgeschrieben ist. Sie stellen dabei ein Bündel von studentischen Distanzierungspraktiken heraus, die sie als Ausdruck einer verbreiteten Haltung deuten, der Seminararbeit und dem Studium im Modus eines ‚Studierendenjobs‘ zu begegnen, dessen Erfordernisse pragmatisch abgearbeitet werden. Es herrsche, so Heinzel und Krasemann (2019, S. 79) in einer flankierenden Arbeit, unter den Studierenden ein „unverbindliche[r] Unterton des ‚so tun als ob‘“ vor und gerade keine „vorbehaltlose Einlassung auf die Wissenschaftspraxis“.

Nun wird zwar gleich zu Beginn der erstgenannten Publikation das Format der Gruppenarbeit unter dem Begriff des „kooperativen Lernens“ gefasst und diskutiert (Heinzel / Krasemannn / Sirtl 2019, S. 58-61) und auch auf die Parallelen zur rekonstruktiven (Schul-)Unterrichtsforschung zur Gruppenarbeit im Schulischen eingegangen; ob der zentrale Befund der Studie etwas mit der Form der Gruppenarbeit zu tun haben könnte, wird allerdings nicht explizit diskutiert. Weder bei den empirischen Analysen, noch bei der Diskussion zentraler Arbeitsbegriffe wird die soziale Formatierung der Gruppenarbeit systematisch berücksichtigt. So wird etwa bei der Anleihe an Breidensteins Begriff des Schülerjobs lediglich bemerkt, dass dieser Befund sich „auch auf Gruppenarbeitsphasen“ (ebd., S. 60, Herv. H.K. & E.W.) bezöge. Ob die Gesten der Selbstdistanzierung durch die Schülerinnen und Schüler bzw. Studierenden möglicherweise in der Gruppenarbeit andere sind, als im Plenum oder in der Gruppenarbeit besonders prägnant zum Vorschein kommen, bleibt unklar. Dies überrascht aus zwei Gründen: Erstens wird beiläufig auf das Phänomen studentischer „Widerstände gegen die Arbeit in Kleingruppen“ (ebd., S. 65) hingewiesen. Zweitens wird explizit herausgestellt, dass der „Widerstand gegenüber akademischen Anforderungen auch der Herstellung symmetrischer Beziehungen in der Gruppe dient“ (ebd., S. 85, Herv. H.K. & E.W.). Systematisch untersucht oder begründet wird diese These allerdings nicht: Inwiefern dient der Widerstand der Pflege von Peer-Beziehungen? Und: Welche Funktion hat er noch?

Der Befund der Fallbestimmungskrise

Anders gelagert sind die Untersuchungen zur studentischen Gruppenarbeit im Rahmen kasuistischer Lehre bei Pollmanns, Hünig, Kabel, Kminek und Leser. Hier steht nicht die soziale Praxis der Lehre in ihrer Beziehungsdynamik und ihren Beteiligungsrollen im Vordergrund des analytischen Interesses, sondern ihre sachlich-inhaltliche Seite: Es wird diskutiert, inwiefern die kasuistische Lehre ein Ort der Ausbildung von (pädagogischer) Professionalität sei, also „ob und inwiefern die Studierenden den nötigen Forscherhabitus bereits zeigen oder sich ihn im Seminar aneignen, und auch, ob bzw. inwiefern die Studierenden das Handeln der Lehrperson als ein pädagogisches, d.h. als erzieherisches, didaktisches und auf Bildung bezogenes, deuten“ (Kabel et al. 2020, S. 169). Als kritische Schwelle der Aneignung, so ein zentraler Befund, wird die Fallbestimmung ausgewiesen, die als „Krise“ (ebd.) gedeutet wird. Das Format der Gruppenarbeit wird dabei insofern in Rechnung gestellt, als dass Studierende ‚auf eigene Faust‘ drauf los interpretieren würden, was allerdings empirisch die Tendenz mit sich brächte, ein bloßes „Methodenexerzitium“ (Pollmanns et al. 2017) durchzuführen.3 Die soziale Formatierung der Gruppenarbeit wird nur implizit thematisch im Hinblick auf die didaktische Funktion der Dozierenden. Zugleich wird aber auch festgehalten, dass den Studierenden die Krise der Fallbestimmung „freilich […] nicht abgenommen werden“ (ebd., S. 181) könne. Gegenüber dem Befund des Studierendenjobs spielt die Ebene der Selbstdarstellung der Studierenden hier keine Rolle.

Unter welchen sozialen Bedingungen es den Studierenden allerdings (nicht) gelingt, eine Fallbestimmung vorzunehmen bzw. überhaupt erst in die (kollektive) Bearbeitung einer Fallbestimmungskrise als Gruppe zu kommen und darin ihren „Forscherhabitus zu zeigen“, wird von den Autorinnen und Autoren nicht oder jedenfalls nicht mit Bezug auf das Material gefragt. Dabei würde sich diese Frage bereits für mit methodischer Expertise ausgestatteten Gruppen stellen. Stattdessen wird das geringe Studienvolumen der Erziehungswissenschaft im Lehramtsstudium als struktureller Grund für die ‚Krise‘ angeführt und vermuten die Autorinnen und Autoren ausblickhaft, dass der Niedergang der Einheit von Forschung und Lehre verantwortlich für den mangelnden Forscherhabitus der Studierenden sein könnte (vgl. ebd.). Diese Begründungsversuche scheinen zwar aus der eingenommenen theoretischen Warte plausibel, empirisch allerdings nicht überprüfbar.

1 Aus strukturtheoretischer Perspektive scheint uns die Einschätzung unzutreffend, dass „keine  systematische Gegenüberstellung von Befunden zur Praxis von Gruppenarbeitsphasen und zu Plenumssituationen“ (Herzmann et al. 2019, S. 11) zulässig sei. Derartige Systematisierungsversuche wurden allerdings in der Tat noch nicht unternommen.
2 Hierbei können wir uns auf empirisches Material aus einem Projekt zur universitären Lehrpraxis stützen, in dem 45 Seminarsitzungen aus verschiedenen Fächern (Literaturwissenschaft, Biologie, Erziehungswissenschaft, Fachdidaktik Biologie, Deutsch und Mathematik) erhoben wurden. Gruppenarbeit fand in diesem Korpus lediglich in drei Lehrveranstaltungen statt, zweimal in den Fachdidaktiken und einmal in Erziehungswissenschaft. Unter den zehn erziehungswissenschaftlichen Lehrveranstaltungen könnte man zwei als „kasuistisch orientiert“ bezeichnen, wobei in diesen der Lehrmodus des studentischen Referats Anwendung findet.
3 Selbst in einem (Kontrast-)Fall, in dem die Dozierende explizit Hinweise zu dem Problem der Fallbestimmung gibt, gelänge es der analysierten Gruppe nicht, diese Hinweise dergestalt aufzugreifen, dass von einer erfolgreichen Überwindung der Krise der Fallbestimmung  gesprochen werden könne (Kabel et al. 2020, S. 181).

* * *

Sie möchten gerne weiterlesen? Dieser Beitrag ist in Heft 68 (2-2023) unserer Zeitschrift Pädagogische Korrespondenz erschienen.

 

 

 

Mehr Leseproben …

… finden Sie auf unserem Blog.

 

© Pexels 2024, Foto: Mikael Blomkvist