Essen in der Vielfalt – Esskultur und Nahrungszubereitung
Kirsten Schlegel-Matthies
HiBiFo – Haushalt in Bildung & Forschung, Heft 1-2025, S. 49-63.
Die Nahrungszubereitung als zentraler Bestandteil eines haushaltsbezogenen Unterrichts dient der Anbahnung von Kompetenzen für die Zubereitung von Speisen und die Gestaltung von Mahlzeiten unter Berücksichtigung von Gesundheit und Nachhaltigkeit. Ebenso bedeutsam, jedoch häufig vernachlässigt, ist die Berücksichtigung unterschiedlicher Esskulturen, lebensweltlicher Erfahrungen und sozioökonomischer Hintergründe der Lernenden.
Schlüsselwörter: Vielfalt, Heterogenität, Toleranz, Selbstreflexion, Handlungsoptionen
Eating in diversity—learning to eat in a variety of ways
Food preparation as a central component of household-related lessons serves to develop skills for preparing food and organising meals with health and sustainability in mind. Equally important, but often neglected, is the consideration of different food cultures, life-world experiences and socio-economic backgrounds of the learners.
Keywords: diversity, heterogeneity, tolerance, self-reflection, options for action
1 Einleitung
Ursprünglich wurde der Hauswirtschaftsunterricht in Deutschland im 19. Jahrhundert eingeführt, um Mädchen aus der Arbeiterschicht an die vorherrschenden Normen des Bürgertums heranzuführen und eine armutsangepasste Lebensführung zu ermöglichen. Sie sollten mit den in bürgerlichen Haushalten geltenden Normen und Werten vertraut gemacht werden und diese übernehmen (Tornieporth, 1976; Schlegel-Matthies, 2016; 2022 a). Insofern war der Hauswirtschaftsunterricht in seinen Anfängen und über lange Zeit hinweg auch im 20. Jahrhundert überwiegend normativ und eng am deutschen bürgerlichen Mittelschichthaushalt oder an Vorstellungen vom ‚richtigen‘ Haushalten sowie ‚richtiger‘ Ernährung ausgerichtet (Schlegel-Matthies, 2022 a; 2022 b).
Diese normative1 Ausrichtung findet sich auch heute noch vielfach im Unterricht und hier auch in der Praxis der Nahrungszubereitung wieder (Leitner, 2025). Teilweise wird eine solche normative Ausrichtung und damit verbunden eine starke Fokussierung auf ‚gesunde‘ (korrekt wäre gesundheitsförderliche) oder neuerdings zunehmend auf ‚nachhaltige‘ Ernährung auch von außen durch Schulleitungen, gesellschaftliche Akteure und Akteurinnen oder Bildungspolitik erwartet oder sogar mehr oder weniger gefordert.
Lehrpersonen müssen mit diesen Erwartungen ebenso umgehen wie mit den Vorgaben durch Bildungs- und Lehrpläne und des – wenn vorhanden – Schulcurriculums. Im Schullalltag bleiben dann differenzierende und differenzierte Überlegungen zu den Aufgaben des haushaltsbezogenen Unterrichts auf der Strecke und es wird zur Rechtfertigung der gewählten Unterrichtsinhalte auf die genannten normativen Vorgaben zurückgegriffen. Weiß man sich doch damit auch auf der ‚richtigen‘ Seite, denn Gesundheit und Nachhaltigkeit sind allgemein positiv besetzt und zudem Orientierungen innerhalb der fachdidaktischen Diskussion (Angele et al., 2021, Kap. 4; Schlegel-Matthies, 2022 a, S. 40 ff.).
Welche Lebensmittel im Unterricht verarbeitet werden, welche Speisen und Gerichte, welche Garverfahren und welche Tischsitten etc. im Unterricht behandelt werden, ist außerdem oftmals abhängig von den Vorstellungen, Vorlieben und Abneigungen der Lehrperson und weniger Resultat einer reflektierten Auseinandersetzung mit den anzustrebenden Kompetenzen und Lernzielen (Methfessel & Schlegel-Matthies, 2013, S. 54).
Die Heterogenität und Vielfalt2 der Schülerinnen und Schüler mit ihren unterschiedlichen Voraussetzungen, Erwartungen, lebensweltlichen Erfahrungen, kulturellen und sozialen Hintergründen ist damit aber nicht gleichsam automatisch berücksichtigt. Sie wird im Unterricht vielmehr diesen Orientierungen häufig untergeordnet oder häufiger noch gar nicht mehr wahrgenommen.
Der Beitrag verfolgt zwei Schwerpunkte. Zum einen soll am Beispiel des Landes Nordrhein-Westfalen herausgearbeitet werden, welche Hilfestellungen und Unterstützungsangebote Bildungs- und Lehrpläne sowie Schulbücher für Lehrpersonen im Umgang mit Vielfalt und Diversität zur Verfügung stehen. Zum anderen sollen Anforderungen an die Lehrpersonen im Umgang mit Vielfalt erwogen werden.
2 Hauptsache gesund und nachhaltig? – Nahrungszubereitung im haushaltsbezogenen Unterricht
Die Nahrungszubereitung ist ein wesentlicher Bestandteil des haushaltsbezogenen Unterrichts, der zudem das Image des Fachs grundlegend prägt (Angele et al., 2021; Bartsch & Bürkle, 2013, S. 21). Einerseits sind damit einseitige Zuschreibungen und Reduzierungen verbunden, die das anspruchsvolle Fach auf ‚Kochen‘ reduzieren. Andererseits eröffnet sich mit der Nahrungszubereitung ein einzigartiges Potenzial für die Gestaltung von Lehr-Lern-Arrangements, wenn es denn entsprechend genutzt wird.
Um dieses Potenzial auch auszuschöpfen, bedarf es seitens der Lehrperson allerdings einiger Mühen. Anstelle einer willkürlichen Zusammenstellung von Rezepten für die Nahrungszubereitung soll ja an erster Stelle die Überlegung stehen, welche Kompetenzen Schülerinnen und Schüler erwerben sollen und welche Ziele in der Nahrungszubereitung damit verbunden werden müssen (von Lowtzow, 2025). Hilfestellungen für die Planung sollen u. a. Bildungs- und Kernlehrpläne bieten. Hier ist zu fragen, inwiefern Bildungs- und Kernlehrpläne dafür und für die Berücksichtigung von Vielfalt und Diversität ausreichend Hilfestellungen bieten. Zur Beantwortung der Frage werden exemplarisch die Kernlehrpläne des Faches Hauswirtschaft des Landes Nordrhein-Westfalen herangezogen.
2.1 Kernlehrpläne – Planungsgrundlagen für den Unterricht
Die Kernlehrpläne des Landes Nordrhein-Westfalen im Pflicht- und Wahlpflichtbereich des Faches Hauswirtschaft für die Sekundarstufe I (Gesamtschule/Sekundarschule) enthalten sog. „konkretisierte Kompetenzerwartungen“, in denen Kompetenzbereiche und Inhaltsfelder des Faches zusammengeführt werden (MSB NRW, 2020, S. 10). Wie diese Aufgaben umgesetzt werden sollen, wird beispielhaft in „Vorhabenbezogenen Konkretisierungen“ (MSB NRW o. J. a und b) für unterschiedliche Jahrgangsstufen erläutert.
Neben diesem fachlichen Kompetenzerwerb hat der haushaltsbezogene Unterricht – wie alle anderen Unterrichtsfächer auch – die Aufgabe, zusätzlich einen Beitrag zu den folgenden fachübergreifenden Querschnittsaufgaben von Schule und Unterricht zu leisten (MSB NRW 2020, S. 8):
• Menschenrechtsbildung,
• Werteerziehung,
• politische Bildung und Demokratieerziehung,
• Bildung für die digitale Welt und Medienbildung,
• Bildung für nachhaltige Entwicklung,
• geschlechtersensible Bildung,
• kulturelle und interkulturelle Bildung
Um diesem Anspruch zu genügen, müssten diese Querschnittsaufgaben sich zum Beispiel in den konkretisierten Kompetenzerwartungen und den „Vorhabenbezogenen Konkretisierungen“ zumindest ansatzweise wiederfinden lassen. Auffallend ist, dass im Kernlehrplan für das Wahlpflichtfach Hauswirtschaft keine konkretisierten Kompetenzerwartungen enthalten sind, die entweder eine dieser Querschnittsaufgaben3 oder die Vielfalt der Lernenden konkret (mit-)adressieren.
Für die hier zu diskutierende Frage nach der Berücksichtigung von kultureller, sozialer und lebensweltlicher Vielfalt lassen sich im Kernlehrplan für das Pflichtfach Hauswirtschaft fünf konkretisierte Kompetenzerwartungen identifizieren, die hier näher betrachtet werden sollen. Im „Inhaltsfeld 2: Lebensstil und Ernährung“ sollen die Schülerinnen und Schüler bis zum Ende der Jahrgangsstufe 6 die folgende Urteilskompetenz erwerben: „Die Schülerinnen und Schüler vergleichen unterschiedliche Tischsitten unter Berücksichtigung soziokultureller und religiöser Einflüsse“ (MSB NRW, 2020, S. 18). Wie diese „Urteilskompetenz“4 angebahnt werden kann, bleibt den Lehrpersonen überlassen und kann z. B. durch die Fachkonferenz im Schulcurriculum geregelt werden.
Aus fachdidaktischer Sicht ergeben sich allerdings eine Reihe von Fragen. Erstens wird mit der sehr engen Sicht auf Tischsitten ein Thema aufgegriffen, das für den Erwerb von Handlungskompetenzen für Alltagsbewältigung, Lebensgestaltung und Teilhabe an Gesellschaft marginal ist. Zweitens stellt sich fachlich die Frage, inwiefern denn überhaupt von religiösen Einflüssen auf Tischsitten gesprochen werden kann. Drittens muss geklärt werden, welche Relevanz ausgerechnet diese konkretisierte Kompetenzerwartung hat oder haben soll. Aus fachdidaktischer Sicht ist die Relevanz nicht gegeben. Ein auf welchen Kriterien auch immer basierender Vergleich von Tischsitten, ersetzt nicht die Auseinandersetzung mit zentralen Inhalten einer haushaltsbezogenen Ernährungsbildung, nämlich mit der Vielfalt von Esskulturen, ihren Gemeinsamkeiten und Unterschieden. Erst in dieser Auseinandersetzung können über das gewonnene Wissen auch Verständnis für das vermeintlich ‚Fremde‘ sowie Motivation und Volition zu dessen Akzeptanz angebahnt und zugleich Handlungsoptionen für die je individuelle Lebensführung entwickelt werden.
1 Zur Problematik von Normen und dem Umgang damit siehe auch Schlegel-Matthies, 2022 a, S. 26-29.
2 Die Heterogenität und Vielfalt der Schülerinnen und Schüler ist selbstverständlich noch größer, hier wird allerdings der Fokus auf soziookönomische und soziokulturelle Heterogenität gelegt. Der Beitrag von Breucker & Silkenbeumer (2025) in diesem Heft befasst sich ausführlich mit dem Thema Inklusion in der Werkstatt Küche.
3 Es finden sich zwar konkretisierte Kompetenzerwartungen mit Bezug auf Genderfragen, Digitalität oder Medien und auf eine nachhaltige Entwicklung, allerdings sind diese Kompetenzerwartungen eher einer soziologischen oder sozialwissenschaftlichen Sicht zuzuordnen als einer haushaltsbezogenen Bildung. So fehlt weitgehend der Bezug zum Alltagshandeln und zur Lebenswelt.
4 Zur Kritik am Kompetenzbegriff, der in den Kernlehrplänen verwendet wird, siehe Schlegel-Matthies, 2022 a, S. 50 f.
5 Die hier betrachteten Schulbücher sind teilweise ca. 20 Jahre alt, werden aber tatsächlich in Gesamtschulen in NRW noch genutzt, obwohl es langst mehrfache überarbeitete neue Auflagen gibt. Die regelmäßige Anschaffung neuer oder aktueller Materialien und Schulbücher ist schon aus finanziellen Gründen an den Schulen nicht möglich. Allerdings sind auch die Neuauflagen aus fachdidaktischer Sicht nicht besser. Die Problematik der Gestaltung, Verwendung, Aktualisierung und Genehmigung von Lernmitteln des Fachs Hauswirtschaft in Nordrhein-Westfalen muss an anderer Stelle aufgearbeitet werden.
* * *
Sie möchten gerne weiterlesen? Dieser Beitrag ist in Heft 1-2025 unserer Zeitschrift HiBiFo – Haushalt in Bildung & Forschung erschienen.
Mehr Leseproben …
… finden Sie auf unserem Blog.
© Unsplash 2025, Foto: Maarten van den Heuvel