Menschenrechte und europäische Flüchtlingspolitik

Politisches Lernen 3+4-2024: Flucht, Migration und Menschenrechte – Zerreißproben in Bildungsräumen?

Flucht, Migration und Menschenrechte – Zerreißproben in Bildungsräumen?

Otto Böhm

Politisches Lernen, Heft 3+4-2024, S. 11-15.

 

Zusammenfassung

Aktuell wird vielfach ein menschenrechtliches Einknicken in der Migrations- und Asylpolitik festgestellt. Auch in der Menschenrechtsbildung sollten nicht einfach die politischen Notwendigkeiten der Migrationskontrolle hingenommen werden. Aber ein aufrechtes Verteidigen universeller Normen ohne Vermittlung mit der öffentlichen Diskussion reicht auch nicht aus. Anlässlich eines Nürnberger Bildungsprojekts sollen normative und didaktische Gesichtspunkte der Menschenrechtsgarantien reflektiert werden.

 

„Ein Schiff für Nürnberg“
Nürnberg liegt nicht am Meer, aber in Nachbarschaft zu Böhmen. Toni Burghardt, Nürnberger Künstler, wurde mit seinem Plakat „Nürnberg liegt am Meer“ post mortem zum Mitgestalter der Kampagne „Ein Schiff für Nürnberg – Symbol für Flucht und Rettung“. Tatsächlich geht es um ein Projekt1, in dessen Zentrum ein ehemaliges Flüchtlingsrettungsschiff in Nürnberg als politisches Symbol und als Erinnerungs- und Denkort stehen soll. Die folgenden Überlegungen sind zu verstehen als Reflexionen zur Menschenrechtsbildung in dieser Perspektive, auch wenn das Schiff erstmal nur virtuell zu betreten sein wird. Der Idee nach soll es ein Türöffner für das Thema „Flucht, Migration und Menschenrechte“ (so der Titel eines wissenschaftlichen Symposions zum Projekt im Februar 2024) mit einem entsprechenden Bildungsprogramm sein. Gefordert ist ein lokal eingebettetes Konzept, das aber den konfliktgeladenen Stand des Themas nicht außer Acht lässt. Die Erfahrungen der Bildungsarbeit im Nürnberger Menschenrechtszentrum dienen dabei als ein tragfähiger Ausgangspunkt.

Flüchtlingsrechte
In den Menschenrechtsseminaren des Menschenrechtszentrums und Menschenrechtsbüros in Nürnberg wird die schlichte Frage gestellt: Welches Menschenrecht wird in Deutschland verletzt? Unter den Antworten aus Schulklassen oder Auszubildenden-Gruppen findet sich fast immer das Asylrecht. Das erweist sich als brauchbarer Ausgangspunkt für weitere Differenzierungen und Rückfragen in den Workshops. In der Diskussion stoßen wir dann auf zu bearbeitende Diskriminierungen und auf berechtigte Kritik oder eben auch auf die Verteidigung europäischer oder nationalstaatlicher, nicht menschenrechtskonformer Maßnahmen, zuletzt im EU-Kompromiss zur Steuerung von Flüchtlingszuwanderung2. Auch gegenüber einer programmatisch menschenrechtsfreundlichen Bundesregierung gilt es, in der politischen Bildung die Kritik aufzugreifen. Aber auch die Nachdenklichkeit der Skeptischen und die Befürchtungen der Konservativen sollten nicht ignoriert werden. Ob der ermüdende Verweis auf die Menschenrechte und ihren Entstehungshintergrund in den 1940er Jahren dabei hilft? Unter dem Motto Menschenrechte verstehen versuchen wir es im Nürnberger Menschenrechtszentrum: Die Wirklichkeit, die ein Jahrzehnt lang von der Nazi-Politik und den Verbrechen in Europa geprägt war, bildete ein wesentliches Motiv für die Erarbeitung der Menschenrechtserklärung. Gerade auch der Zusammenhang mit Flucht und Migration wurde unterstrichen, Termini wie „erzwungene Migration“ (Lange 2008, S.73 ff.) kennzeichneten die Ausgangslage für die Formulierung der Artikel 14 (Asylrecht) und 15 (Staatsangehörigkeit). Die Interessen der Vereinten Nationen sowie das Engagement von nichtstaatlichen Akteuren und der Druck von Opfervertretungen gingen Hand in Hand. Inzwischen hat sich insbesondere das Diskriminierungsverbot des Artikel 2 zu einem Strukturprinzip für den Menschenrechtsansatz im Ganzen und damit auch besonders als Schutzanspruch in der Migrationssituation entwickelt. Eine kritische Menschenrechtsbildung legt Wert auf die Unterscheidung von direkter, indirekter und struktureller Diskriminierung. Die oft garantierte formale Gleichberechtigung von Menschen wird gerade auch in der rassismuskritischen Bildungsarbeit durch das Herausarbeiten von Mehrfachdiskriminierung und Intersektionalität (Motakef 2011, S. 81) erweitert. Über diesen Zugang lässt sich auch in der Bildungsarbeit der Blick auf die Fluchtsituation von besonders gefährdeten Menschen (Frauen und Kinder; Menschen, die nicht gesund sind) lenken. Jeder Mensch hat Rechte – aber in dieser Situation ist er regelmäßig der Willkür von Schleppern, Polizistinnen und Polizisten oder Bürokraten, ausgesetzt, ohne advokatorische Instanz in erreichbarer Entfernung.

Mit Blick auf die europäische Flüchtlingspolitik heißt das, sich auf das Spannungsfeld von Schutz und Kontrolle einzulassen. Ohne dass immer eindeutig verantwortliche Täter oder Akteure benannt werden könnten, wird doch zentral das Recht auf Leben verletzt. „Das von Journalisten unterhaltene Projekt The Migrants Files schätzte die Zahl der seit dem Jahr 2000 für tot erklärten Migrantinnen und Migranten auf dem Weg nach Europa auf 25.000.“3 (Bendel 2014, S. 84). Die International Organisation for Migration (IOM) hat in den vergangenen 10 Jahren 59.000 Ertrunkene gezählt. Die humanitären Katastrophen im Mittelmeer legen einen Schluss nahe, der von Miryam Schrader in einem „Dossier Migration“ der Bundeszentrale für politische Bildung so formuliert wird:

Ohne geschlossene Grenzen müssten Flüchtlinge jedoch weder versuchen, auf Schlauchbooten oder überfüllten, oft kaum seetüchtigen Booten und Schiffen das Mittelmeer zu überqueren noch beim versteckten Transport in Lastern oder ähnlichem den Erstickungstod riskieren. [….] Flüchtlinge wissen sehr wohl um die Gefahren des Geschleustwerdens. Doch ist es meist Teil einer Migrationsstrategie, um einer ausweglosen Situation zu entkommen. […] Ein Ausweg aus dieser Situation wären sichere Einreisemöglichkeiten in die EU und andere westliche Staaten, um Krieg, Verfolgung und Not zu entkommen.“ (Schrader 2018)

Für die Urteilsbildung in Bildungsräumen können, stark vereinfacht formuliert, drei Positionen unterschieden werden: Geschlossene Grenzen sind das Übel. Sie lassen sich nur mit hartem Einsatz (und damit ohne Rücksicht auf die Rechte der einzelnen Menschen) verteidigen. Angemessen wäre ein Recht auf Freizügigkeit und Bewegungsfreiheit bei offenen Grenzen. Dem wird gegenübergestellt: Jeder Staat hat das Recht, kraft eigener Souveränität seine Grenzen dicht zu machen, zu bestimmen und zu bestimmen, wer Staatsangehöriger wird. Eine dritte vermittelnde Position, die ich hier unterstützen will, betont sowohl die demokratischen Notwendigkeiten von Nationalstaaten als auch ihre Verpflichtungen auf das schon bestehende internationale Menschenrechts-Normengefüge.

Fluchtmigration
Migration wird immer stärker als prägende Dynamik von Gesellschaften wahrgenommen. Migration gab es immer, Migration ist ein evolutionärer Teil der Menschengeschichte. Im politisch-kulturellen Diskurs4 wird diese Erkenntnis inzwischen deutlich unterstrichen und als Selbstverständlichkeit im Kulturbetrieb vertreten und beworben, auch immer mit dem Hinweis darauf, wie wenig Menschen autochthon, in Deutschland geboren sind oder keinen Migrationshintergrund haben. Der Ansatz ist empirisch nicht widerlegbar, gut gemeint, politisch bildend, gegen Abschottung gerichtet, aber doch undifferenziert: Care-Migration oder Migration in der Wissenschaft sollte politisch nicht in einem Zug mit Flucht und Vertreibung verhandelt werden. Wenn der Hinweis Migration gab es schon immer in den Diskurs eingespeist wird: Welche Konsequenz soll damit befürwortet werden? Wohl die, dass jede Gesellschaft mit Migration leben lernen muss – das ist auch eine Reaktion auf die lange vermiedene Selbst-Definition Deutschlands als Einwanderungsland (dazu umfassend der Band bei der Bundeszentrale für politische Bildung „Einwanderungsdeutschland“, Jamal / Odabaşı 2024), Aber dennoch: Nicht jede Migration ist Flucht und nicht jede Flucht wird zur Migration im Sinne einer endgültigen Verschiebung des Lebensmittelpunktes.

Auch Flucht und Vertreibung sind Teil der Menschheitsgeschichte, jedoch nicht im Sinne eines produktiven Normalzustandes (vgl. Kossert 2021). Wichtig – und mehr als ein konservatives Mantra – ist die Unterscheidung zwischen Flucht und Migration, ohne dass die begriffliche und politische Differenzierung absolut gesetzt und die fließenden Übergänge außer Acht gelassen werden dürfen. Freiwillig und geplant oder gezwungen durch Gefahr für Leib und Leben, vergleichbar ist die Feindlichkeit in den Aufnahmegesellschaften und das Gefühl des Verlustes der Heimat. Für eine Unterscheidung wiederum sprechen zwei weitere Gründe: Dem Selbstverständnis vertriebener und vor Verfolgung fliehender Menschen wird der Begriff Migration nicht gerecht. Und die menschenrechtliche Forderung nach Verfolgung der Verantwortlichen statt Straflosigkeit bei schweren Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschheit würde ins Leere gehen.

1 Vgl. https://ein-schiff-fuer-nuernberg.de/ (18.6.2024). Kontakt: Klaus Stadler, ehemaliger Kapitän des Rettungsschiffes Sea-Eye
2 In der Süddeutschen Zeitung vom 11.4.2024 werden un­ter der Überschrift „‚Historischer Schritt‘ bis ‚beschämend‘“ Reaktionen auf die EU-Asylreform zusammengefasst. Zum Beispiel nennt Pro Asyl das Paket einen „Tiefpunkt für den Flüchtlingsschutz in Europa“. Caritas Europa bewertet besonders die beschleunigten Asyl- und Rückführungsverfahren an den Grenzen als problematisch, einschließlich der Inhaftierung von Familien und Kindern und Amnesty International kritisiert die gebilligte Asylreform als „verpasste Chance“ und „beschämend“.
3 Bendel gibt im Jahr 2014 dieses Projekt als Quelle an (Bendel 2014, S. 84). Seit 2015 wird die Seite aber nicht weiter gepflegt. Stattdessen gilt als aktuelle Quelle International Organization for Migration (iom.int): Ertrunkene Flüchtlinge im Mittelmeer bis 2024. Online: https://de.statista.com/statistik/daten/stu­die/892249/umfrage/im-mittelmeer-ertrunkenen-fluechtlin­ge/ (18.6.2024)
4 Einige Beispiele: die Ausstellung „HORIZONTE. GESCHICHTEN UND ZUKUNFT DER MIGRATION“ vom 30.3. – 10.9.2023 im Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg, Oliver Schlaudt (2020) und Dirk Hoerder (2016). „Ein Beispiel ist das Recht auf Familiennachzug, das sich in Deutschland aus dem im Grundgesetz veran­kerten Schutz der Familie ergibt. Auch die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (Art. 16), die Europäische Menschenrechtskonvention (Art. 8), die Grundrechtecharta der EU (Art. 33) begründen den staatlichen und ge­sellschaftlichen Schutz der Familie. Zudem gibt es ‚Privilegierte Zugänge‘ (die Zuwanderung von Aussiedlern aus Osteuropa und den Nachfolgestaaten der Sowjetunion in die Bundesrepublik.“ (Bundeszentrale 2018)

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