Stilpraktiken von Kindern und Jugendlichen beim Straßenfußball

FuG – Zeitschrift für Fußball und Gesellschaft 2-2021: Normative der Männlichkeit. Kindliche und jugendliche Stilkulturen in der Praxis des Straßenfußballs

Normative der Männlichkeit. Kindliche und jugendliche Stilkulturen in der Praxis des Straßenfußballs

Rudolph Meyer

FuG – Zeitschrift für Fußball und Gesellschaft, Heft 2-2021, S. 104-118.

 

Zusammenfassung: Die Praxis des Straßenfußballs orientiert sich weniger am Konzept der messbaren Leistung und dem objektiven Vergleich als an qualitativen Stilmerkmalen. Deshalb ist Straßenfußball eher unter den Prämissen des Trendsports im Sinne einer Agglomeration von Stilen, virtuosen Tricks und Selbstinszenierungen zu verstehen als unter denen des vereinsgebundenen Wettkampfsports. Im folgenden Beitrag werden auf der Grundlage ethnographischer Daten die Stilpraktiken von Kindern und Jugendlichen beim Straßenfußball im Hinblick auf ihr normatives und exklusives Potential zur Teilhabe an der jugendlich geprägten Peer erörtert. Dabei wird deutlich, dass der spezifische Stil auf Ästhetiken der Männlichkeit verweist und entlang männlicher Attribute seine normative Kraft entfaltet.

Schlüsselwörter: Straßenfußball / Gender / Stil / Peer-Kultur / Kinder & Jugendliche

 

Norms of masculinity – Stylepractice in streetfootball of children and youth – An ethnographic approach

Summary: The practice of street football is rather based on qualitative style features, than on the concept of measurable performance and objective comparison. This is why street football is more likely to be understood under the premises of trend sport in the sense of an agglomeration of styles, virtuoso tricks and self-presentation than under those of club-related competitive sport. On the basis of ethnographic date, the following article will discuss the style practices of children and adolescents in street football with regard to their normative and exclusive potential for participation in the youthful peer. It becomes clear that the specific style refers to the aesthetics of masculinity and unfolds its normative power along masculine attributes.

Keywords: streetfootball / gender / style / peer-culture / children and youth

 

Problemstellung und Zielsetzung

Um Straßenfußball werden gerne Mythen gebildet. So wird bei vielen technisch versierten Weltstars der Hintergrund als Straßenfußballer betont. Dies gilt für zeitgenössische Spieler wie Mesut Özil und Paul Pogba ebenso wie für Ikonen anderer Epochen, etwa Diego Maradonna1, George Weah, Kevin Keegan oder Helmut Rahn. Die Straßenfußballer2, so die mediale (Selbst‐)Darstellung, zeichnen sich durch eine irgendwie besondere, aber nicht weiter festgelegte Art zu spielen und körperliche Ästhetik aus. Während die gängige Inszenierung von Straßenfußball eher die technische Virtuosität der Spielenden betont, stellt der Innenverteidiger Dayot Upamecano, ‚Königstransfer‘ des FC Bayerns im Sommer 2021, mit Bezug auf seine eigene Biographie fest: „Wenn du den Fußballkäfig überlebst, überlebst du viele Dinge im Leben“. Im Anschluss daran skizziert er den Fußballkäfig als „Schule des Lebens“ mit „knallharten Duellen und eigenen Gesetzen“, in der er und seine männlichen Altersgenossen Zähigkeit, Ausdauer und Willenskraft entwickelten (Kicker 36/2021).

Dieser Artikel möchte im Folgenden die Stilkultur des Straßenfußballs in einem Quartier, welches vom Jugendamt als „sozialer Brennraum“ gelabelt ist, konkret anhand der Praxis einer Peer aus männlichen Kindern und Jugendlichen darstellen, die sich wesentlich um Straßenfußball in einem Fußballkäfig organisiert. Dabei soll anhand empirischer Feldprotokolle aufgezeigt werden, wie sich in verschiedenen Praktiken des Straßenfußballs spezifische Stilelemente formieren. Die Bedeutung von Männlichkeit für den Stil wird dabei bereits darüber deutlich, dass ich alle Partizipanden der Praxis eindeutig als Jungen identifizieren konnte3, also ein Stil entsteht, der hochgradig exklusiv wirkt. Erst das Beherrschen des spezifischen Stils ermöglicht Zugang und Einschluss in die Peer, weshalb der entsprechenden Performance eine große Bedeutung für die Möglichkeit zur Teilhabe an der bewegungsbezogenen Peerkultur zukommt.

Zur empirischen Erhebung und Interpretation wurde sich an einer praxeologischen Perspektive orientiert, die sich auf dieMaterialität von Bewegungspraktiken selbst bezieht. Dabei wird Praxis als „temporally unfolding and spatially dispersed nexus of doings and sayings“ (Hui/Schatzki/Showe 2017: 1) definiert – also ein sich in Raum und Zeit entfaltendes Gewebe aus reziproken Sprech- und Körperakten, welches in seiner materiellen Dynamik auch Dinge und Artefakte miteinbezieht. Um die Praktiken des Straßenfußballs als Stilkulturen zu verstehen, werden darum im Folgenden die variablen Vollzüge von Bewegungspraxis situationsanalytisch als Inszenierungen eines spezifischen Stils identifiziert.

Im „Cage“ und durch den „Asphaltjungel“ – Männlichkeit als Kenngröße des Straßenstils

So wie andere urbane Sport- und Bewegungskulturen bringt Straßenfußball besondere Stilkulturen hervor, die sich als Konglomerat von Praktiken konstituieren (Hebdige 1991, Stern 2010). Dies gilt für Inline-Skating und Skateboarding (Schwier 1998, Peters 2016, Schäfer 2020) ebenso, wie für Streetball (Wenzel 2001, Bindel 2008, Kolb 2015) oder Parcours/Freerunning (Schwier/Danish 2010, Schwier 2013, Kolb 2015). Die Stilkultur des Straßenfußballs orientiert sich weniger am Konzept der messbaren Leistung von z. B. Toren und dem objektiven Vergleich als an qualitativen Merkmalen. Die Entscheidung über Erfolg und Misserfolg liegt also nicht primär in geschossenen Toren begründet, sondern in einem vielgestaltigen Ineinandergreifen aus einzelnen Spielelementen, etwa richtigem Zweikampfverhalten, Skills und Pannas4 sowie weiterführenden Praktiken in Form von Kleidungsperformance, Jubelgesten und Sprechakten. Zur komplexen Beschaffenheit des Straßenfußballs gehören einerseits wichtige Merkmale des großen Sportspiels: neben dem Wettkampf und dem Streben nach Leistungsfähigkeit vor allem praktische Basics des Spiels wie Passen, Schießen und Dribbeln. Andererseits werden diese in einen dichten Kontext eingepasst, der weit über den Vereinssport hinausgeht und Sinnlichkeiten, Atmosphären und vor allem Stilkulturen hervorbringt (vgl. Alkemeyer et.al.: 2003). Es geht also nicht einfach nur darum, den Ball zu passen und das Tor zu schießen, sondern den Ball auf eine bestimmte Art und Weise zu passen, das Tor in einer bestimmen Form zu schießen und mit speziellen Bewegungen zu dribbeln. Dazu gehört desWeiteren die richtige Kleidung, die entsprechende Musik und das ‚richtige Getränk‘ mit der ‚richtigen Körperhaltung‘ zu trinken. Die Akteure des Straßenfußballs sind damit Sportler und paradigmatische Praktiker des Prinzips Pop5 zugleich. Bestimmte Spielelemente bestimmen dabei einen „über rein motorische, technische und taktische Erfordernisse hinausreichenden Stil, der dazu führt, dass Erfahrung und Können auf je besondere Weise in die flüchtige Gegenwart körperlicher Figurationen umgesetzt werden“ (Alkemeyer 2008: 101). Kennzeichnend für den spezifischen Stil des Straßenfußballs ist eine analytische Zergliederung der Bewegung in ihre Mikrostruktur und eine Verdichtung von Gesten zu Posen im Medium der Bildlichkeit (vgl. Stern 2010). Dementsprechend lässt sich die in der sportlichen Praxis gesuchte und hervorgebrachte Bildlichkeit der Bewegung, ihre „Fragmentierung“ und ihre „Mikrogestik als zentraler Bestandteil des Stils“ kennzeichnen. Unter Fragmentierung versteht Stern den Modus der Unterteilung größerer Bewegungsräume, –sequenzen und –zusammenhänge in kleinere Portionen und die damit einhergehende Akzentuierung einzelner Personen oder Bewegungssegmente. Während der traditionelle Leistungssport notwendigerweise Standardisierungen und damit weitgehende Ausgrenzung von Zufallsereignissen anstrebt, rücken beim Straßenfußball Bewältigungsstrategien wie Improvisation, Kreativität und stilgetreue Varianz ins Zentrum, die sich in einer experimentellen Preisgabe der Person ausdrücken: „(…) Nicht schriftlich fixierte Wettkampfergebnisse, sondern spektakuläre Bewegungsbilder, Gesten und Posen stellen die angestrebten Resultate der Bewegung dar“ (Stern 2010: 161). Der Unterschied zum großen Sportspiel Fußball besteht darin, dass dem Straßenfußball mit der Orientierung am Stil zwar ein umfassendes, aber kein streng gefasstes Ideal zugrunde liegt.

Straßenfußball lässt sich deshalb eher unter den Prämissen des Trendsports im Sinne einer Agglomeration von Stilen, virtuosen Tricks und Selbstinszenierungen verstehen, als unter denen des vereinsgebundenen Wettkampfsports im Sinne des großen Sportspiels Fußball (vgl. Schwier 1998, Kolb 2015). Es geht also ganz zentral darum, sich stilistisch in Szene zu setzen. Dabei ist Stil einerseits im Habitus verankert, stellt andererseits aber im Rahmen sportlicher Praxis eine Wahlentscheidung dar, so zu spielen und nicht anders (Zifonun 2008: 47). Er ist also eine reflexiv entworfene und der Reflexion zugängliche Leistung. Die Spieler können sich einerseits der Stilisierung nicht entziehen, jedoch macht erst die performative und diskursive Inszenierung von Bewegung den körperlichen Ausdruck zum eigenen bzw. straßenfußballspezifischen Stil und damit zum Identitätskennzeichen. Erst in reflexiver Zuwendung entsteht aus dem diffusen Konglomerat von Praktiken und Deutungsmustern ein gebündelter, klar umrissener Stil und dies nicht zuletzt, indem er sich von anderen abgrenzt (ebd.). Dies bezieht sich sowohl auf die „Körpertechniken und Konzepte“ (Alkemeyer 2008: 101) der ganzen Mannschaft, als auch auf den einzelnen Spieler. Stil umfasst dabei die Fähigkeit der Sportler, sowohl Stil in den Aufführungen anderer erkennen und beurteilen zu können, als auch Stil in die eigenen Bewegungen einzuarbeiten und ständig zu verbessern (Stern 2010). Im Straßenspiel ist er also nicht unabhängig von der Bewegung als vor- oder nachgeordnetes ästhetisches Beiwerk zu verstehen, sondern ein unmittelbar in die Bewegungspraktik eingelassenes Können (vgl. ebd.). Somit kann Stil als jenes formierende Element betrachtet werden, das es erlaubt, Straßenfußball, der in klassischer Lesart oftmals individuell und gleichzeitig als beliebig charakterisiert wird, in seiner starken formativen und durchaus auch normativen Verfasstheit zu begreifen (vgl. ebd.).

Für die formative und normative Verfasstheit des Stils urbaner Sportpraktiken spielt Geschlecht schon deshalb eine wesentliche und kennzeichnende Rolle, weil die Bewegungspraktiken i. d. R. als männlich konnotiert (Schwier 1998) bzw. männlich dominiert (Abulhawa 2020) beschrieben werden, was auch dadurch deutlich wird, dass die empirischen Studien in der großen Mehrzahl Männer oder Jungen erforschen. In diesem Sinne konstatiert Schwier (1998), dass gerade die urbanen Straßen und Plätze als vermeintlicher „Asphaltjungel“ einen Ort männlicher Selbstkonstruktion und Selbstbehauptung mit Körper und Bewegung darstellen. Neuber (2006: 125) betont, dass Sport grundsätzlich widersprüchliche Identifikationsmöglichkeiten für Männer und Jungen ermöglicht und sowohl Räume für traditionelle, als auch für alternative Männlichkeiten hervorbringen kann. Während das Skaten mitunter für sich in Anspruch nimmt, auch einen experimentellen Raum für alternative Männlichkeiten darzustellen (Abulhawa 2020: 1), werden die ballbezogenen Praktiken urbaner Bewegungskultur tendenziell vor der Folie archaischer Männlichkeitsstereotype diskutiert. So werden Streetball- und Straßenfußballplätze als Räume beschrieben, auf denen unter rigorosem Einsatz des eigenen Körpers männliche Selbstsozialisation vollzogen wird (Kolb 1997: 205) und hierarchische Geschlechterverhältnisse sowie dominanzorientierte Männlichkeitsentwürfe reproduziert werden (Müller 2017: 149). In diesem Sinne weist Schwier (1998) den „Straßenkörper“ auch explizit als „Männerkörper“ aus, der als semiotische Projektionsfläche den jeweils adäquaten Stil und Gestus von Männlichkeit transportiert.

Praxeologisch gewendet wird Männlichkeit beim Straßenfußball durch körperliche Vollzüge und Sprechakte in der Praxis selbst als Stil hervorgebracht und durch die Ritualisierung der Praxis körperlich-habituell imprägniert (Butler 1990). Das Gendering der Akteure als Modus von Praxis bezieht dabei Materialitäten wie den Stahlkäfig, den Asphalt und den Ball ebenso mit in die sprachliche und körperliche Expressivität der Körper ein, wie Kleidung, Getränkedosen oder Musikboxen und Sounds. Abulhawa (2020) beschreibt Gendering in der Praxis des Skatboarding als dialogischen Prozess zwischen Menschen, Orten und Dingen in einem jeweils spezifischen Kontext. Brown (2006) bezieht sich im Anschluss an Butler und Bourdieu verstärkt auf Diskurse, Strukturen und symbolische Universen, die eine vermeintliche ontologische Fundierung von Geschlecht zementieren:

„It is perhaps possible to say that masculinity and femininity can ‚float free‘ from men and women per se and take on a quality that simultaneously present in bodies, structures, practices, discourses, and ultimately symbolic universes that provide the material for the ontological fabric of gender relation and gender identity in everyday life“ (Brown, 2006).

Degele (2004: 204) macht darauf aufmerksam, dass Geschlecht zwar omnipräsent und mit Bezug auf Bourdieu fundamental im Habitus eingelagert ist, in einer empirischen Forschung allerdings der empirische Kontext zu bestimmen habe, wie relevant Geschlecht sei und nicht eine vorab getroffene theoretische Entscheidung. Im Kontext der vorliegenden Arbeit ist Männlichkeit wie bereits skizziert eine wesentliche praxisbestimmende Differenzkategorie. Deshalb möchte ich im Folgenden Männlichkeit als Klammer bzw. Grundkategorie für die differenten Spielpraktiken begreifen, die sich innerhalb der lokalen Straßenfußallpraxis vollziehen. Sowohl die Ästhetik der Lässigkeit, als auch die Ästhetik des Martialischen verweisen in ihrer Performance auf Bildlichkeiten, die für die Entwicklung eines ‚männlichen Stils‘ typisch und als Norm für Ein- bzw. Ausschluss in die Praxis grundlegend sind.

1 (…) la vida es una tombola (Chao 2008)
2 Neben den aufgeführten Beispielen wurden alle Menschen, die als Akteure der Praxis des Straßenfußballs in den vorliegenden Daten auftauchen von mir als Jungen identifiziert. Darum wird im Folgenden ausschließlich die männliche Form gebraucht.
3 bzw. sich alle Partizipanden im Rahmen der Forschung selbst eindeutig und nachdrücklich als Jungen und/oder Männer identifizieren.
4 Zum Begriff des Pannas, Siehe Absatz ’Der Panna’ S. 36–38
5 Im Anschluss an die Cultural Studies ist Pop aus der bewussten Suche nach Objekten entstanden, durch die selbstbewusst neue Haltungen und ein Gesamtgestus des Lebensgefüges vorgetragen werden können. Paul Willis zeigt in „Profane Culture“, wie die dezentrale Verfügbarkeit von Schallplatten es Rockern und Hippies erlaubte, sich intensiv mit populärer Kultur auseinanderzusetzen und sie zum Aufbau eines eigenen Lifestyles zu nutzen. In der Welt nach der „Befreiung“ durch Elvis Presley und nach den „Generationenkonflikten“ der 50er Jahre eigneten sich die Motorrad-Jungs den frühen Rock’n’Roll an, die Hippies beschäftigten sich mit der psychedelisch orientierten „progressiven Musik“. Auf diese Weise wurde populäre Musik Ausdruck gelebter Erfahrung und eines spezifischen Lebensstils. Verbunden mit homologen kulturellen Praktiken artikulierte sie zum einen rebellische Gefühle und den Alltag transzendierende Einstellungen, zum anderen vermittelte sie ontologische Sicherheit in dem zunehmend durch Waren- und Informationsflüsse geprägten globalen Dorf. Im Anschluss an Willis haben Dick Hebdige, Iain Chambers und Larry Grossberg das kritische bzw. subversive Potenzial von Punk- bzw. Rockmusik analysiert, das widerspenstige Praktiken auf den Weg bringen und zur Entfaltung von Eigensinn genutzt werden kann. Gleichzeitig haben sie auf die Möglichkeiten kommerzieller und medialer Vereinnahmung hingewiesen (Winter 2003).

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