Geblättert: Leseprobe aus „Gefühlte Wahrheiten“

Cover "Gefühlte Wahrheiten"

Gefühlte Wahrheiten

Orientierung in Zeiten postfaktischer Verunsicherung

von Ortwin Renn (3., aktualisierte und erweiterte Auflage)

 

Über das Buch

Wir befinden uns in einem Zeitalter überlappender Krisen: Corona-Pandemie, die Invasion Russlands in die Ukraine, steigende Inflationsraten, sich verschärfender Klimawandel, Gasknappheit. Wie sollen wir mit diesen Krisen umgehen? Wie können wir entscheiden, was stimmt, welche Maßnahmen wirkungsvoll und gerechtfertigt sind und was moralisch geboten ist? Wo werden wir Opfer von „Fake News“ und wo nutzen Populisten und Populistinnen die Angst der Menschen aus? In diesen unübersichtlichen Zeiten wächst das Misstrauen in die Politik. Die Fairness der Wirtschaft wird bezweifelt und die Unabhängigkeit der Wissenschaft in Frage gestellt. Über vertiefende Einblicke in die Leistungsfähigkeit der Wissenschaft und in die intuitive Wahrnehmung von komplexen Zusammenhängen veranschaulicht der Autor Wege aus Überforderung, Angst und Verunsicherung. Zudem soll mit diesem Buch mehr Zutrauen in die eigene Gestaltungsfähigkeit bei der Bewältigung kollektiver Herausforderungen geweckt werden.

Leseprobe aus den Seiten 7 bis 11

 

***

Vorwort zur dritten Auflage

Rund 11 Prozent der Deutschen glauben, dass die Welt von „geheimen Mächten“ gesteuert wird, weitere 19 Prozent halten es für wahrscheinlich, dass diese Mächte zumindest im Hintergrund konspirativ tätig sind. Bewegungen wie die „Querdenker“ und Corona-Leugner und Leugnerinnen mögen zahlenmäßig klein sein, aber sie bestimmen die öffentliche Diskussion stark mit, sei es in den sozialen Netzwerken oder durch Demonstrationen und Kundgebungen. Selbst Familien und Freundeskreise spalten sich immer häufiger.1

Das Thema der gefühlten Wahrheiten könnte nicht aktueller sein als heute. Erleben wir nicht täglich, dass Menschen gegen die Corona-Schutzmaßnahmen mit zum Teil abenteuerlichen Begründungen demonstrieren? Da werden antisemitische Mythen vermischt mit geheimen Verschwörungen mächtiger und dunkler Kräfte, meist bezogen auf reiche Industrielle, Bankiers oder charismatische Führungspersonen aus der Umwelt- oder Bürgerrechtsbewegung, die angeblich im Hintergrund geheime Fäden ziehen und die Politikerinnen und Politiker wie Marionetten steuern.2 Dazu kommen -vor allem in den sozialen Medien verbreitet- an den Haaren herbeigezogene, angeblich wissenschaftlich fundierte Expertisen, die den Nutzerinnen und Nutzern suggerieren, dass das Virus nur eine Erfindung der Pharmaindustrie sei oder von einer dunklen Macht bewusst in den Umlauf gebracht wurde, um entweder mit wirkungslosen und gesundheitsschädlichen Impfstoffen Profit zu machen oder aber eine neue Ära für eine radikale politische Kehrwendung hin zu Diktaturen einzuleiten.3

Nicht viel anders sieht es aus, wenn man die Reaktionen auf den Einmarsch der russischen Streitkräfte in die Ukraine beobachtet. Auch hier wimmelt es im Internet von angeblich mächtigen Hintermännern, die entweder als Repräsentanten einer neuen Weltregierung insgeheim die Fäden der Politik ziehen oder die im Sinne antisemitischer Propaganda das internationale Judentum als Verursacher ausmachen. Gleichzeitig wird das aggressive Verhalten von Vladimir Putin als Anpassung an den Druck böser Mächte entschuldigt und die Bundesregierung bezichtigt, das Wohl der deutschen Bevölkerung durch die Sanktionen gegen Russland mit den Füßen zu treten.

Die Erfahrungen mit der Corona-Krise und den Ereignissen um die Invasion russischer Streitkräfte in die Ukraine haben mich dazu bewegt, mein 2019 fertig gestelltes Buch über die gefühlten Wahrheiten grundlegend zu überarbeiten und vor allem zu aktualisieren. Wie ist es zu verstehen, dass so viele Menschen im Deutschland und in vielen anderen Ländern wissenschaftliche Erkenntnisse, die für das eigene Überleben und das öffentliche Gesundheitswesen von zentraler Bedeutung sind, entweder ignorieren, leugnen oder nach eigenem Gusto uminterpretieren? Wie können ansonsten vernünftige Menschen an abenteuerliche Geschichten glauben, bei denen mächtige Industriebosse heimlich Kinder missbrauchen und töten, um an junges Blut zu kommen, und dafür den Rest der Menschheit ins Unglück stürzen? Anders als es in den Medien oft dargestellt wird, sind die Anhänger und Anhängerinnen derartiger Verschwörungsgeschichten selten psychisch auffällige Paranoiker oder Psychopathen4. Sie sind oft am rechten, zum Teil auch am linken Rand des politischen Spektrums verortet und teilen die Erfahrung, dass sie sich meist macht- und glücklos den Ereignissen um sie herum ausgeliefert fühlen. Sie nehmen sich als die Verlierer und Verliererinnen des gesellschaftlichen Wandels wahr, vor allem der großen Veränderungen hin zu globalen Vernetzungen, digitalen Arbeits- und Kommunikationswelten und ökologisch nachhaltigen Lebensweisen.5 Sie verstehen im wahrsten Sinne des Wortes die Welt nicht mehr. Verschwörungsgeschichten sind zwar durchaus nicht einfach gestrickt und benötigen oft viele Stunden, um sich in die jeweilige Logik der Geschichte einzuarbeiten, aber sie bieten drei wesentliche Vorteile:

  • Sie geben den Personen, die daran glauben, Sicherheit, dass sie jetzt die komplexen Ereignisse um sie herum klar und vor allem eindeutig zuordnen können (Gefühl kognitiver Sicherheit);
  • sie bieten eine nachvollziehbare Entlastung der eigenen Erfahrung von Rückschlägen, Enttäuschungen und Frustrationen (Gefühl wiedergewonnener Selbstwirksamkeit) und
  • sie bieten soziale Anerkennung und soziale Einbettung in eine Gemeinschaft der Gleichgesinnten (Gefühl der sozialen Geborgenheit).

Nach diesen drei Gefühlen streben die meisten Menschen, Sie als Leserin und Leser ebenso wie ich. Nur sind die meisten von uns kritisch genug, um seriöse Erklärungen und realitätsgerechte Deutungen der Ereignisse und Geschehnisse um uns herum von Wunschdenken, esoterischer Schwärmerei oder eben Verschwörungsgeschichten6 zu trennen. Auch will so gut wie niemand auf fake news oder auf die Propaganda rechter oder linker Einschmeichler hereinfallen. Nur- so einfach ist es nicht, zwischen Wahrheit und Lüge, zwischen Vision und Illusion und zwischen Glauben und Aberglauben die Grenze zu ziehen. Und, wie ich später im ersten Kapitel zeigen werde, ist es selbst für die Wissenschaft oft schwierig, den Anspruch auf wahre Aussagen einzulösen. Zudem sprechen Fakten nicht für sich: sie müssen immer in ein Sinngebäude eingebunden sein. Es gibt unterschiedliche Interpretationsmöglichkeiten, die nicht immer deckungsgleich sind, ohne dass die eine falsch und die andere richtig ist. Je komplexer die Situation erscheint, desto eher sind auch von der Wissenschaft nur unsichere und oft mehrdeutige Antworten zu erwarten.

Dennoch ist es gerade bei komplexen und undurchsichtigen Situationen wichtig, an Fakten und wissenschaftlicher Erkenntnis orientierte Leitlinien für die eigene Lebensführung wie auch für politische Urteilsbildung zu haben. In der Corona-Krise ist das überdeutlich geworden: In den Ländern, in denen vor allem zu Beginn des Jahres 2020 den wissenschaftlichen Warnungen einer exponentiellen Ausbreitung des Virus nicht gefolgt wurde, war die Zahl der durch Corona ums Leben gekommenen Personen wesentlich höher als in den Ländern, in denen konsequent diesen Warnungen Rechnung getragen wurde.7 Viele tausend Menschen hätten gerettet werden können, wenn alle Länder frühzeitig und konsequent auf die Einsichten der Fachleute aus Virologie und Epidemiologie gehört hätten. Falsches Wissen kann töten! Gleichzeitig hat sich im Verlauf der Krise aber auch gezeigt, dass das Wissen der Virologie und Epidemiologie zur Bewältigung der Krise nicht ausreicht. Die komplexen Auswirkungen auf die Wirtschaft, auf das Bildungs- und Erziehungswesen, auf das Zusammenleben in Familie und Nachbarschaften, auf das Kommunikations- und Sozialverhalten und auf die psychische Verfassung der betroffenen Menschen erfordern spezielles Wissen aus den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften sowie Psychologie und Pädagogik. Alle diese Wissensbestände gehen von unterschiedlichen Ausgangspunkten aus und kommen daher auch oft zu unterschiedlichen Ergebnissen: so warnen etwa die Virologinnen und Virologen vor einer Aufweichung der Maßnahmen, während Fachleute aus Ökonomie und Bildungswesen für eine zumindest schrittweise Lockerung der Maßnahmen eintreten. Dass Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zu unterschiedlichen Rückschlüssen und Empfehlungen kommen, verwirrt viele Menschen und sie suchen Gewissheit in anderen Quellen. Und damit sind wir wieder bei den Verschwörungsgeschichten, die zumindest Gewissheit anbieten.

Wie man trotz dieser Pluralität wissenschaftlicher Erkenntnisse und Empfehlungen verlässliche und wissenschaftlich fundierte Orientierungen für sich und andere gewinnen kann, möchte das vorliegende Buch aufzeigen. Dabei geht es sowohl um das, was Wissenschaft als verlässliche Orientierung bieten kann, und was wir als Nutzerinnen und Nutzer wissenschaftlicher Erkenntnisse und Einsichten tun können, um fake news, Verschwörungsgeschichten und Propaganda von seriösen Einschätzungen und Erklärungen zu unterscheiden. Mehr dazu in den kommenden Kapiteln.

Bei der Überarbeitung habe ich alle Kapitel aus der Auflage vom 2019 im Grundsatz übernommen, sie aber jeweils mit neueren Erkenntnissen aktualisiert und oft auch mit Beispielen aus den aktuellen Krisen, vor allem der Corona-Krise illustriert. Das Kapitel über die gefühlten Wahrheiten zur Flüchtlingskrise von 2015 habe ich bewusst beibehalten, weil es zum einen paradigmatisch zeigt, wie gefühlte Wahrheiten unser Denken und Urteilen trüben können, zum anderen aber aufgrund der aktuellen politischen Lage neue Aktualität erhalten hat, vor allem im Rahmen der Ukraine-Krise, in deren Folge wir einen neuern Flüchtlingsstrom nach Europa und auch nach Deutschland beobachten. Zum Thema Corona-Pandemie und zur Debatte um Impfen „Ja“ oder „Nein“ habe ich ein neues Kapitel eingefügt. Andere Beispiele aus der älteren Fassung habe ich entweder den aktuellen Bezügen angepasst oder ausgetauscht.

Ich hoffe, dass ich mit diesen Änderungen den Anforderungen, die sich durch die aktuellen Krisenherde von Corona bis zum Klimawandel neu oder in schärferer Form ergeben haben, gerecht werde, und ich wäre froh, wenn dieses Buch mit dazu beiträgt, dass Menschen sich besser im Wirrwarr von Erklärungsversuchen und Zeitgeistdeutungen zurecht finden können.

Potsdam, den 25.9.2022
Ortwin Renn

___

1 https://www.change-magazin.de/de/corona-veraendert-gesellschaftlichen-zusammenhalt-aber-wie

2 Siehe dazu die Ausführungen von Nocum, K. & Lamberty, P. (2020): Fake News: Wie Verschwörungstheorien unser Denken bestimmen. Quadriga: Köln, S. 78ff.

3 Ebenda S. 198 ff.. Siehe auch: Fuchs, C. (2021): Communicating COVID-19. Everyday Life, Digital Capitalism, and Conspiracy Theories in Pandemic Times. Society Now Series. Bingley: Emerald.

4 Imhoff, R. & Lamberty, P. (2018): How paranoid are conspiracy believers? Toward a more fine-grained understanding of the connect and disconnect between paranoia and belief in conspiracy theories. European Journal of Social Psychology, 48 (7): 909 – 926.

5 Zu diesen drei Veränderungen siehe: Renn, O. (2019): Die drei Transformationen: Globalisierung, Digitalisierung, Sustainabilisierung. DDBW aktuell. Das Magazin für Arbeitsmedizin in Deutschland, 9: 4 – 5.

6 Ich folge hier der Empfehlung von Nocum und Lamberty (2020), nicht von Verschwörungstheorien, sondern eher von Verschwörungsgeschichten zu sprechen. Denn es sind selten Theorien im engeren Sinne, die hier verbreitet werden, sondern Narrative mit hohem Erklärungsanspruch.

7 Im April 2020, dem Höhepunkt der ersten Welle lag die Übersterblichkeit (Anzahl der Toten über dem Durchschnitt der letzten 5 Jahre) in den USA bei 32 Prozent, in Schweden bei 32 %, in Brasilien bei 16 %, In Deutschland bei 14 % und in Taiwan bei 2 %. Genau in den Ländern, in denen sehr wirksame Abstandsregeln eingeführt wurden, ist die Übersterblichkeit am geringsten. Im Verlauf der zweiten und dritten Welle steigen die Werte in Deutschland stark an, sie erreichen den höchsten Stand Ende Dezember 2020 mit 39 % Übersterblichkeit (USA sogar 47 %). Hier zeigt sich deutlich, dass die Maßnahmen zu spät und zu wenig einschneidend erfolgten. Siehe: https://ourworldindata.org/excess-mortality-covid (aufgerufen am 1.8.2022)

***

Sie möchten gern weiterlesen?

 

Jetzt versandkostenfrei im Budrich-Shop bestellen

Cover "Gefühlte Wahrheiten" 3. AuflageOrtwin Renn:

 

 

© Titelbild: gestaltet mit canva.com