Geblättert: Leseprobe aus „Alltag und Soziale Arbeit in der Corona-Pandemie“

Alltag und Soziale Arbeit in der Corona-Pandemie

Einblicke in Perspektiven der Adressat*innen

von Kathrin Aghamiri, Rebekka Streck, Anne van Rießen (Hrsg.)

 

Über das Buch

Wie ergeht es Menschen in ohnehin schon schwierigen Lebenslagen während der Corona-Krise? Ziel des Sammelbandes ist es, die Perspektive von Adressat*innen und Nutzer*innen Sozialer Arbeit auf die durch die Corona-Krise bedingten Veränderungen ihrer Alltagswelten und die Angebote Sozialer Arbeit empirisch aufzuzeigen. Hierzu werden im Sammelband sowohl erste empirische Analysen dargestellt als auch die vorliegenden Ergebnisse übergreifend auf Theoriedebatten sowie Impulse für Praxis und Forschung Sozialer Arbeit hin diskutiert.

Leseprobe aus den Seiten 167-171

 

Ringen, Gestalten, Distanzieren ‒ Formen, die Pandemie zu begreifen

Rebekka Streck

Die Pandemie greift mit dem Postulat der Einschränkung von sozialen Kontakten tief in die Alltagswelten von Menschen ein. Von sozialen Kontakten geht eine un­kalkulierbare Gefahr für die eigene Gesundheit und für die Gesundheit des direkten sozialen Umfeldes aus. Handlungsroutinen werden als Risiko definiert und durch Ordnungsmaßnahmen eingeschränkt. In Interviews mit Adressat*innen Sozialer Arbeit zum Erleben der gesellschaftlichen Situation seit März 2020 versuchen die Befragten sich auf diese Erosion alltäglicher sozialer Handlungssicherheiten einen Reim zu machen. Ringen, Gestalten und Distanzieren können als Formen des Be­greifens der Krise im Gespräch rekonstruiert werden.

 

1 Versuche, die Krise zu begreifen

Im Oktober 2020 begann ich ein Lehr-Lern-Forschungsprojekt, indem ich mit Stu­dierenden untersuchte, wie Adressat*innen Sozialer Arbeit den Lockdown im März 2020, bezogen auf ihr alltägliches Leben, wahrnehmen. Die Studierenden führten insgesamt neun Interviews.1 Hierbei griffen sie auf Kontakte zu Nutzer*innen So­zialer Arbeit zurück, die sie über ihre Arbeitsstellen oder über Kommiliton*innen knüpften. Eine intensive Auswertung in Anlehnung an die Grounded-Theory-Me­thodologie nach Charmaz (2010), verbunden mit Positionierungsanalysen nach Lucius-Hoene und Deppermann (2004), nahm ich im Anschluss an das Seminar vor.

Die Interviews orientierten sich an einem sehr offenen Leitfaden. So wurden die Befragten gebeten, sich zu erinnern, wann und wie für sie die Corona-Krise begann und was seitdem geschehen ist. Durch die freie Wahl von Interviewpart­ner*innen sowie die acht studentischen Interviewer*innen entstanden in Länge und thematischer Fokussierung sehr unterschiedliche Texte. Interviews sind immer auch als Kommunikationssituation zu betrachten, deren Entstehensbedingungen in die Auswertung der Texte miteinzubeziehen sind (Helfferich 2012: 13). Das Be­sondere an diesem Interviewmaterial ist, dass die Befragten aufgefordert wurden, über etwas zu berichten, das noch in vollem Gange war. So sind die Interviewtexte als Versuch zu verstehen, die Krise zu begreifen und sich zu und in den Geschehnis­sen zu positionieren. Hierzu beziehen sich die Befragten implizit und explizit auf das als kollektiv vermutete Wissen der Fragenden. Begreifen verstehe ich als inter­aktiven Prozess, in dem subjektive Erlebnisse und abstrahierende Überlegungen mit emotionalen Bewertungen verbunden werden und schließlich zur impliziten Begründung des eigenen Handelns dienen. Wie sich die Befragten die Krise im Ge­spräch begreifbar machen, variiert deutlich. Diese Unterschiede kristallisieren sich um die Fragen, wie sie sich und die anderen in ihrem direkten sozialen Umfeld positionieren. Insbesondere die Betrachtung zwischenmenschlicher Beziehungen steht im Fokus des Nachdenkens über die Pandemie.

Im Folgenden stelle ich drei Interviews vor, die ich entsprechend einer ma­ximal kontrastierenden Auswahl für geeignet halte, die Breite möglicher Begrei­fensprozesse im Angesicht von Virusinfektionen und Eindämmungsverordnungen einzufangen. Die Darstellung vollziehe ich in zwei Schritten. Zunächst stelle ich im Sinne einer integrierenden Hypothese zentrale Aspekte des Begreifens der Krise für jede erzählende Person dar (2). Im zweiten Schritt werde ich drei Erzählungen beleuchten, in denen die Positionierung gegenüber Sozialer Arbeit in der Krise er­kennbar wird, und stelle dar, dass diese mit den vorherigen Überlegungen korres­pondiert (3).

 

2 Ich und die anderen im Begreifen der Krise

In allen drei ausgewählten Interviews zeigt sich, dass die Frage von Gestaltung, Kontinuität oder Bruch mit sozialen Beziehungen in Auseinandersetzung mit der pandemischen Situation besonders virulent ist. Ich stelle im Folgenden drei For­men des Begreifens dar: Ringen, Gestalten und Distanzieren. Diese korrespondie­ren insbesondere mit der pandemiebedingten Herausforderung der Organisation sozialer Kontakte. Alex ringt mit der Frage, wie er mit sozialen Kontakten umgeht. Willi zeigt seine gestaltenden Fähigkeiten in Bezug auf die Gründung neuer Kon­taktkonstellationen. Und Frau Becker distanziert sich von Gefahren der Krise, um ihre stabilen sozialen Kontakte weiterführen zu können.

 

2.1 Ringen: „Kämpfst du dagegen, oder kämpfst du damit?“

Eine Studentin führt das Gespräch mit Alex2 im November 2020 im Büro einer Werkstatt für suchterfahrene Menschen. Alex ist Mitte 30 und hat neben dem Kon­takt zur Werkstatt regelmäßige Termine bei einer psychosozialen Betreuung, zu deren Teilnahme er im Kontext seiner Substitution verpflichtet ist. Als Reaktion auf die Einstiegsfrage, wann er zum ersten Mal gemerkt habe, dass gerade etwas Besonderes passiert, erzählt Alex von dem Moment, als er erfahren hat, dass die Werkstatt geschlossen werden muss.

Also wie gesagt, also es ging ja im März zwanzig zwanzig los, und äh. Ich hab das auch durch die Nachrichten verfolgt, alles Drum und Dran und bin da auch ziemlich hinterher, auch jetzt noch hinterher. Äh. Der erste Leck. Äh Lockdown war äh. Ja ein bisschen brutal muss ich sagen, weil äh wir sind hier auf Arbeit gekommen und äh auf einmal wurde uns, also zwei Tage durften wir noch arbeiten und dann hieß es ja dann kommt der Lockdown und dann warn wir noch kurz hier auf Arbeit und dann rief das Arbeitsamt an; die Mitarbeiter, also die Maßnahme ist gesperrt momentan, wir müssen alle nach Hause gehen, also durften wir dann gleich den Morgen um halb achte oder halb neune wurden wir von unsrer Chefin nach Hause geschickt worden und von da an war natürlich der Lockdown für mich richtig brutal, weil man durfte ja nicht rausgehen, gar nichts. (Alex: 23–32)

Die Brutalität des Lockdowns zeigt sich für Alex erstens in der abrupten, unvorher­sehbaren Schließung der Werkstatt, die von außen angeordnet wurde, sowie darin, dass man im Anschluss „gar nichts“ mehr durfte. Damit bedeutet der Lockdown für ihn eine deutliche Zäsur, die mit massiven Einschränkungen seiner Handlungs­möglichkeiten in seinem Alltag einherging.

Von diesem Eingriff in seine Alltagsstruktur leitet er über zu seiner momenta­nen Situation, die er als „anstrengend“ (Z. 34) bewertet. Er könne nicht verstehen, wenn sich Menschen gegen die Regularien „sträuben“ (Z. 35), und habe mittler­weile „Angst“ (Z. 36) vor einer Ansteckung. „Man schützt sich zwar ein bisschen und alles Drum und Dran, aber man kann sich ja doch eventuell anstecken“ (Z. 40– 41). Diese verallgemeinerte Unsicherheit, bezogen auf eine mögliche Virusinfekti­on, und das Wissen um deren grundsätzliche Nicht-Steuerbarkeit erschweren seine sozialen Kontakte.

Vorher bin ich nicht arbeiten gegangen. Also ich war schon arbeiten, aber hab auch öfters gefehlt gehabt und dann bin ich zu nem Freund gefahren und hab dann da gespielt oder mal da gechillt. Oder so. Ist ja jetzt nicht mehr. Passiert ja nicht mehr, weil äh entweder von deren Seite nicht mehr oder von meiner Seite her nicht mehr. Also wir sehen uns auch ganz we­nig noch und so. Ich hab wie gesagt jetzt kaum Kontakt zu anderen Leuten. Weil es eben äh schwierig ist, selber für mich, weil äh ich ja auch selber auch Angst habe, dass ich, wenn ich Corona hätte oder habe. Man weiß ja nicht äh, ob ich ein Sprayer bin oder ob ich äh das schon überwunden habe oder, oder et cetera. Also es gibt so viele Fragen, wo offen sind für mich wo ich sagen tue: man kann sich nur schützen im Prinzip, wenn man zuhause bleibt. Aber den ganzen Tag zuhause bleiben, bringt es auch nicht, weil dann greift man wieder zu anderen Substanzen und (…) muss auch nicht sein. (Alex: 55–65)

Das zwanglose informelle Zusammensein vor der Pandemie wird zur Gefahr ande­re anzustecken oder selbst angesteckt zu werden. Die Verantwortung für die Folgen eigener Handlungen werden unkalkulierbar. Zugleich stellt Alex heraus, dass er in der einzigen Möglichkeit, sich zu schützen („zuhause bleiben“), die Gefahr sieht, „wieder zu anderen Substanzen“ zu greifen. Dieses Hin- und Herüberlegen von Handlungsoptionen bezüglich ihrer Gefahren vor dem Hintergrund einer prinzi­piell unsicheren Situation ist typisch für die Erzählstruktur im Interview.

Also wie gesagt, ich hatte zwar immer einmal die Woche mal bin ich rausgegangen. Und äh zu meiner Praxis gegangen. Aber das war für mich auch immer eine Qual. Bis ich mit meinem Arzt gesprochen, gesagt habe: Ich komme hier nicht mehr gerne her. Es ist jetzt der Lock­down, ich habe Angst hier in der Praxis. Die stehen unten dicht an dicht. Sagst du was, kriegst du Ärger, kriegst du mit den Patienten Stress. Sagst du was, wenn die keine Maske auf haben, oder weiß ich was, kriegst du auch Stress mit denen. (Alex: 352–357)

Zusätzlich zu der Unkalkulierbarkeit gesundheitlicher Risiken im Kontakt zu an­deren erschweren die Hygieneregeln ein entspanntes Miteinander. Das Missach­ten der Hygieneregeln von den anderen Patient*innen empfindet Alex einerseits als Handlungsaufforderung, weil er sie auf ihr Fehlverhalten hinweisen möchten. Andererseits rechnet er aber mit unangenehmen Konsequenzen. Auch hier zeigt sich ein Hin- und Herdenken. Er prüft Handlungsoptionen, kommt jedoch immer wieder zum Schluss, dass es keine Alternative zum Nichtstun gebe.

Alex positioniert sich im Interview als jemand, der nach Handlungsmöglich­keiten strebt und diese reflexiv ergründet. Zugleich sind diese aber beschränkt und durchdachte Wirkungsketten führen zu einer Vorwegnahme deren Scheiterns. Er sieht sich in einem kollektiven „man“, das er immer wieder nutzt, an die Hygienere­geln gebunden. Diese distanzieren ihn jedoch von den anderen, die er zugleich als ersehnte Möglichkeit der entspannenden Zerstreuung sowie als potenzielle Gefahr und Gefährdete positioniert. Alex bearbeitet die Erschütterung seiner routinierten Kontaktorganisation im Alltag im Interview, indem er nach einer Positionierung im Dilemma zwischen alleine sein und Ansteckung ringt. Mit wem oder was er ringt, scheint er selbst im Interview kaum zu fassen zu bekommen. So ringt er auf verschiedensten Ebenen mit sich und anderen: mit der Ansteckungsgefahr sowie -verantwortung, dem Verständnis von und der Verständigung mit anderen, dem Kontaktbedürfnis und dem Kontrollverlust.

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1 Für die Planung, Durchführung und Transkription der Interviews danke ich herzlich Seyed Da­nial Amir Abyaz, Elena Gesch, Mara Klenner, Kim Lorenz, André Lux, Natalie Römer, Luisa Thie­decke und Kati Vetter.

2 Die folgende Benennung per Vor- oder Nachname folgt der Anonymisierung, die die interview­führende Studentin vorgenommen hat und die der Ansprachepraxis des jeweiligen organisatori­schen Kontextes entspricht.

 

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von Kathrin Aghamiri, Rebekka Streck, Anne van Rießen (Hrsg.)

Theorie, Forschung und Praxis der Sozialen Arbeit, Band 24