Jugendkulturen und Szenen in Peripherien

Diskurs Kindheits- und Jugendforschung / Discourse. Journal of Childhood and Adolescence Research 2-2023: Peripherie(n) Matters!? Zur Konzeptualisierung von Zentren und Peripherien in juvenilen Szenen

Peripherie(n) Matters!? Zur Konzeptualisierung von Zentren und Peripherien in juvenilen Szenen1

Paul Eisewicht

Diskurs Kindheits- und Jugendforschung / Discourse. Journal of Childhood and Adolescence Research, Heft 2-2023, S. 149-164.

 

Zusammenfassung
Ausgangspunkt des Beitrags ist die Vernachlässigung der Erforschung von Jugendkulturen und Szenen in ihren Peripherien. Szeneforschung (re)produziert in ihrer je eigens zentrierten Forschungsarbeit das Stigma von Peripherien. Demgegenüber wird argumentiert, dass die Herstellung von Zugehörigkeit in Szenen zwar überall grundsätzlich gleich verläuft – dass jedoch (sozial-)strukturelle Faktoren diese immer individuell herzustellende Zugehörigkeitsanzeige vor spezifische Herausforderungen stellen. Wie sich diese sozialstrukturellen Merkmale fassen lassen, soll im Beitrag anhand einer mehrdimensionalen Konzeptualisierung von räumlichen, zeitlichen und sozialen Peripherien im persönlichen Handlungsvollzug mit Blick auf das soziale Gruppengebilde und gesellschaftliche Arenen erörtert werden. In der Verflechtung der Dimensionen lassen sich verschiedene Peripherien und Zentrums-Peripherie-Verhältnisse rekonstruieren. In einem zweiten Schritt sollen Peripherien hinsichtlich ihrer sozialen Funktionalität diskutiert werden. Votiert wird damit für eine erweiterte Perspektive auf Szenen und Jugendkulturen, die gerade im Verhältnis von Zentren und Peripherien Erkenntnisgewinne über die komplexen internen Dynamiken posttraditioneller Gesellungen ermöglicht.

Schlagwörter: Jugendkultur, Szene, Zugehörigkeit, Zentrum, Peripherie

 

Periphery Matters!? On the conceptualisation of centres and peripheries in juvenile scenes.

Abstract
The starting point of this contribution is the neglect of research on youth cultures and scenes in their peripheries. Scene research (re)produces the stigma of peripheries in its own specifically centred research work. It is argued that the production of belonging in scenes is basically the same everywhere – but that (social) structural factors present specific challenges to this display of belonging, which always has to be produced individually. How these socio-structural features can be grasped will be discussed in the article on the basis of a multi-dimensional conceptualisation of spatial, temporal and social peripheries in individual action, with a view to the social group structure and social arenas. In the interweaving of the dimensions, various peripheries and centre-periphery relations can be reconstructed. In a second step, peripheries will be discussed in terms of their social functionality. It is thus argued for a broader perspective on scenes, which enables insights into the complex internal dynamics of post-traditional societies, especially in the relationship between centres and peripheries.

Keywords: Youth Culture, Scene, Belonging, Centre, Periphery

 

1 Peripherie als ‚blinder Fleck‘ der Jugendkultur- und Szeneforschung2

Szenezentren und Großstädte – das scheint füreinander bestimmt.3 Der weiße, männliche Großstadtpunk4, der in der überlaufenen Einkaufsstraße sein Gehalt erarbeitet, nachmittags im gut sortierten Punk-Plattenladen seine neuesten Erwerbungen tätigt, abends in einer der unzähligen Eckkneipen seine Kumpels trifft, wo sie bei günstigem Bier entscheiden, welches Konzert besucht wird, tiefnachts noch am Späti ein paar Wegbier kaufen und mit der U-Bahn nach Hause fahren. Dem gegenüber erscheint der Dorfpunk5 als ‚Low-Budget-Version‘ des großstädtischen Punklebens, wenn er nicht weggescheucht wird vom Ortsvorsteher, kann er sein Glück auf dem Rathausplatz versuchen, wenn da jemand vorbeikommt. Platten kann er in der Gegend sowieso nicht kaufen, zum Konzert einer Lokalband, die sich mit Punk und Rock-Coverversionen verdingt, muss er zwei Dörfer weiter, abends dann zurücklaufen, weil kein Bus mehr fährt und sein letztes Bier kann er 21 Uhr bei Ladenschluss in der kleinen Gastwirtschaft kaufen.

Szenen in der Provinz, das verheißt Notlage. Wenn es einen Klub gibt, der anderes als ‚Mainstream‘ spielt, dann treffen sich da Punks, Gothics, Metaller und jeder kriegt seine halbe Stunde kleines Glück. In einem solch tristen Bild ist die dörfliche Peripherie nichts und das städtische Zentrum alles. Und alles was in der Provinz geschieht ist ein ‚billiges Abziehbild‘, nicht mehr als eine dilettantische ‚Kopie‘ des unerreichbar scheinenden Originals. Landflucht die einzige Option.

Die Szeneforschung reproduziert diese Ungleichheit zwischen urbanem Zentrum und ländlicher Peripherie durch die Zentrierung in der Datenerhebung (Abschnitt 1.1), in der begrifflichen Konzeptualisierung von Szenen und Jugendkulturen (1.2) sowie in der analytischen Verdichtung in der Datenauswertung (1.3). Dabei ist der ländliche Raum nur eine Peripherie, die in dieser Zentrierung aus dem Blick zu geraten droht. Ebenso sind Szenezugehörige am Rand, wie auch Szenepraktiken auf den Nebenschauplätzen des Szenealltags oft unbeachtet. Peripherien sind folglich komplexe raum-zeitlich-soziale Figurationen von Kulturen.

1.1 Zentrierung in der Szeneforschung in Datenerhebung und im Sampling

Es liegt der Verdacht nahe, dass die Szeneforschung eine enggeführte Perspektive auf Szenen reproduziert. Dies hat methodisch ‚gute‘ Gründe – suchen doch Forscher*innen nach Zugängen zum Feld, nach Gesprächspartner*innen und nach erhebbaren Daten. Forschungspragmatisch bietet es sich an, nach einschlägigen Orten (Festivals, Clubs etc.; zu Eventforschung Gebhardt et al., 2000; Kirchner, 2011) und nach Szeneeliten (bzw. Kulturunternehmer*innen, z. B. zur Techno-Szenewirtschaft in Berlin Kühn, 2017; aus dem Hip-Hop Ruile, 2012) zu suchen. Dergestalt bieten sich z. B. für Interviewstudien (groß-)städtische lokale Szenen an, denn der Stadtraum gilt als „Bühne der Sichtbarkeit“ (Breyvogel, 1998, S. 84, 90) bzw. „sozial[er] Knotenpunkt der Moderne“ (Klein & Friedrich, 2003, S. 107) und damit den Forschenden als leicht(er) identifizierbarer Zugang zur Szene. Hier wird dann in einer zweiten Zentrierung nach szenezentralen Gatekeepern gesucht, von denen man sich einen breiten und tiefgehenden Über- und Einblick in die Szene verspricht. Auch im Feldzugang über Szenemedien liegen schnell populäre, viel besprochene Produkte (Videos, Zeitschriften etc.) entsprechend einschlägiger Künstler*innen und Verlage nahe (zur Metal-Szene anhand auflagenstarker Magazine ‚Rock Hard‘ und ‚Metal Hammer‘: z. B. Lücker, 2011, S. 96–98; zu Hip-Hop anhand der renommierten Magazine ‚Backspin‘ und ‚Juice‘: Schroeder-Krohn, 2015; zu Gothic anhand der ‚Gothic & Lolita Bible‘: Grimme, 2012).

Kurzum: Im großstädtischen Zentrum der Szene über szenezentrale Akteur*innen Aktivitäten und Materialien zu erheben, erscheint forschungspragmatisch sinnvoll (Merkens, 2004, S. 288 zur Relevanz der Zugänglichkeit). In großstädtischen Zentren zu forschen (z. B. Peters, 2016 zu Skateboarding in Köln), verspricht in der urbanen Konzentration und Vielfalt effizient und effektiv für die Forschungsinteressen relevante, d.h. typische Orte, Szenegänger*innen, Praktiken usw. identifizieren und fokussieren zu können. Entsprechende Startpunkte der Forschungsarbeit leiten so Strategien des Sampling an, z. B. beim ‚Schneeballverfahren‘, bei dem man sich von ersten Kontakten und Daten und dadurch empfohlene Kontaktpersonen und Medien leiten lässt. Was nicht verknüpft ist mit den ersten Fällen, was von Personen nicht empfohlen wird (weil es selbst als randständig erachtet wird), das fällt aus dem Datenkorpus heraus. Dies gilt auch für Sampling-Strategien „typischer Fälle“ (Merkens, 2004, S. 291), indem periphere Daten dann als ‚untypisch‘ aussortiert werden (siehe auch zur Zentrierung in der Auswertung 1.3). Dies macht im Sampling eben dann methodisch Sinn, wenn es darum geht, Szenen als homologe Teilkulturen zu beschreiben.

1.2 Zentrierung in der Szeneforschung in theoretischer Konzeptionalisierung

Neben dieser methodischen Bewandtnis, effizient und effektiv an erhebbare Daten zu kommen, zeigt sich eine zweite, theoretisch begründete zentrierende Einengung, wenn es darum geht, die untersuchten Phänomene als Kultur oder andere Kollektivform zu beschreiben (als „ganzheitliche Annäherung“ Höllein et al., 2020, S. 10 zum Rap).6 Forscher*innen fokussieren dann zentrale Themen und Praktiken (die an zentralen, zugänglichen Orten leichter erhebbar sind; so z. B. beim Klettern in der Kletterhalle, Graffiti schreiben an der Free-Wall, dem Skaten im Skatepark etc.). Dies scheint auch durch Arbeiten bedingt, welche die Typik der Kultur bzw. des Lebensstils fokussieren (Großegger & Heinzelmaier, 2002; Hitzler & Niederbacher, 2010, S. 27–29). Die Perspektive der Beschreibung habitualisierter Performanzen (Klein & Friedrich, 2003, S. 186–188) und kollektiver Lebensstile (Wustmann & Pfadenhauer, 2017) führt oftmals eine homologisierende Rekonstruktion mit sich. Für die Beschreibung ‚der Kultur‘ ist relevanter, die zentralen Modi der Integration nach Innen und Distinktion gegenüber einem Außen zu rekonstruieren (Abgrenzungen zu anderen Szenen und zur Gesellschaft Schmidt & Neumann-Braun, 2008, S. 207–209). Differenzen zwischen innen und außen sind dann für die Darstellung zentraler als Differenzen innerhalb der Gruppe. Dies mündet oft in Darstellungen hierarchisch geordneter Kreise, die das Zentrum einer Szene oder den Fokus der eigenen Forschung und deren Peripherien veranschaulichen (siehe Abbildung 1; sowie Großegger & Heinzlmaier, 2002, S. 21; Hitzler & Niederbacher, 2010, S. 21–23).

Wenn sich Szenen v. a. in Großstädten (Klein & Friedrich, 2003, S. 101) um ein zentrales Thema herum bilden (Hitzler & Niederbacher, 2010, S. 16), dann lässt sich die jeweilige Szene in der methodischen Fokussierung auf urbane Zentren, zentrale Akteur*innen und Praktiken hinreichend beschreiben. Dies verstärkt die Asymmetrie zwischen fokussiertem Zentrum und randständiger Peripherie. Szenedarstellungen sind dann doppelt zentralisiert im Fokus auf Kernaktivitäten an szenezentralen, urbanen Orten – Graffiti, das meint das Line-Piece sprühen am Hauptbahnhof in der Stadt, Hip-Hop das Konzert im Großstadtklub (Klein & Friedrich, 2003, S. 173), Skateboarding das Vollführen von Tricks an zentralen Plätzen (Nowodworski, 2019) usw.

1 Dieser Beitrag ist eine theoretisch-konzeptionelle Reflexion basierend auf eigenen empirischen Szeneforschungsarbeiten (zu Graffiti Eisewicht, 2020; zu Indie Eisewicht & Grenz, 2010; zu Skaten u. a. Eisewicht et al., 2018).
2 Jugendkultur, Subkultur und Szene werden oft undifferenziert verwendet (in Differenz Böder et al., 2019; Eisewicht & Wustmann, 2020). Mit Blick auf ‚alternde Jugendkulturen‘ wie Punk, Techno etc. wird der Begriff „juvenile Szenen“ (Hitzler & Niederbacher, 2010) präferiert, in Konnotation teilkultureller Vergemeinschaftung von Menschen jeden Alters, Geschlechts und jeder Herkunft.
3 So werden Städte oft mit Szenen und deren Ursprüngen verknüpft, z. B. Graffiti und New York (z. B. Felisbret, 2009), Punk und London (z. B. Patton, 2018), Techno und Berlin (Rapp, 2012). So finden sich Konzeptionen von Jugendkulturen als „urbane Praxis“ (Peters, 2016) bzw. als „Urban Youth Culture“ (z. B. Magana, 2020, S. 1), HipHop als „Kultur der Großstadt“ (Klein & Friedrich, 2003, S. 101– 103; in Kritik an der Metrozentrierung von Jugendstudien: Farrugia 2014).
4 Entsprechend der Zentrierungseffekte der Forschung wird im Einstiegsbeispiel das generische Maskulinum verwendet, weil ein Großteil der Forschungsarbeiten geschlechtliche Differenzen oft unterbeleuchtet (siehe aber Kirchner, 2018).
5 Es gibt wenige literarische (Schamoni, 2004) und wissenschaftliche (Malenfant, 2018) Arbeiten zum Dorfpunk. Zur Problematik von Jugend im ländlichen Raum siehe auch Mey 2020; Sorensen & Pless (2017, S. 1).
6 Szenearbeiten sind oft insgesamt oder zu großen Teilen damit befasst, die Eigenheit der Szene generell zu beschreiben (Calmbach, 2007; Hitzler & Niederbacher, 2010; Lücker, 2011; Peters, 2016). Besonders populäre Szenen erreichen eine Forschungsdichte, dass sich thematisch spezialisierte Arbeiten ausdifferenzieren, wie es im Rap/Hip-Hop und Metal der Fall ist (zu Rap: Höllein et al., 2020, S. 11; zu Metal: Heesch & Höpflinger, 2014).

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