Kontroverse um öffentliche Büchereien in der Kaiserzeit

Debatte. Beiträge zur Erwachsenenbildung 2-2023: Die Kraft der Kontroverse – Zur Geburt einer epistemischen Gabelung im Richtungsstreit des Volksbüchereiwesens in der Kaiserzeit

Die Kraft der Kontroverse – Zur Geburt einer epistemischen Gabelung im Richtungsstreit des Volksbüchereiwesens in der Kaiserzeit

Malte Ebner von Eschenbach

Debatte. Beiträge zur Erwachsenenbildung, Heft 2-2023, S. 89-124.

 

Zusammenfassung
Der Beitrag beschäftigt sich mit den Anfängen des Richtungsstreits im Volksbibliothekswesen vor dem Ersten Weltkrieg (1912/1913). Anlässlich der Publikation Die Politik der Bücherei (1912) von Paul Ladewig entbrannte eine hart umkämpfte Kontroverse um den Stellenwert und die Ausrichtung der öffentlichen Büchereien im Volksbildungswesen. Der Richtungsstreit führte zu einer epistemischen Gabelung im Volksbildungswesen, die die Unterscheidung zwischen Neuer und Alter Richtung evozierte. Dadurch wurden Volksbibliotheken als Institutionalform für die Bildungsarbeit in der Weimarer Zeit aus bildungspolitischer Sicht nicht mehr als verlässliche Partnerin im Volksbildungswesen wahrgenommen.

Bücherhallenbewegung · Richtungsstreit · Volksbildung · Politik der Bücherei

 

1. Einleitung

Streitigkeiten unter Intellektuellen sind selten gesittet, sondern vielmehr heftige Auseinandersetzungen, bei denen es häufig ‚ums Ganze‘ geht, was sich in Wort oder Ton ausdrückt. Dabei sind derartige Auseinandersetzungen oftmals destruktiv und konstruktiv zugleich. Streitigkeiten befördern Problematisierungen und regen zu Vergewisserungen an. Vor allem aus wissenschaftsgeschichtlicher Perspektive sind disziplininterne Auseinandersetzungen interessant, weil sie „Erwartungen und Annahmen gezielt verunsichern, […] Kontingenzen [artikulieren], […] auf konkurrierende Sichtweisen, auf funktionale Äquivalente bei der Wahl begrifflicher, theoretischer und methodischer Optionen [verweisen]“ (Kneer & Möbius 2010, 7) und dadurch zur Wissensentwicklung und zum Erkenntnisfortschritt beitragen. Dies gilt nicht nur für die Soziologie, wie Georg Kneer und Stephan Möbius zeigen, sondern auch für die Erwachsenenbildungswissenschaft. Angesichts der disziplinären Bedeutung von Kontroversen werde ich im Folgenden den Richtungsstreit im Volksbüchereiwesen in der Kaiserzeit untersuchen und ihn als eine Kontroverse zur Darstellung bringen, die erhebliche Effekte auf die Entwicklung der Volksbildung in den 1920er Jahren entfaltete, weil sie den epistemischen Boden für die Hervorbringung der Neuen Richtung bereitete. Aber fangen wir doch erstmal vorne an.

Die Bedeutung von Lektüre, sei es im Modus „medialer Wissensaneignung“ (Dinkelaker 2018, 109–132), im Kontext emanzipatorischer Ermächtigungsbewegung sozialer Gruppen wie in den bürgerlichen Lesegesellschaften des 18. und 19. Jahrhunderts (Dann 1981) oder im Zusammenhang der Arbeiterbibliotheken (Langewiesche & Schönhoven 1976) oder Volksbibliotheken (Geisler 1995; mit Fokus Österreich Stifter 1995) im 20. Jahrhundert, ist der historischen Erwachsenenbildungsforschung gut bekannt.

Darüber hinaus ist festzustellen, dass die öffentlichen Volksbibliotheken bereits während der Volksaufklärung im 18. Jahrhundert eine tragende Rolle erhielten, wie etwa an Heinrich Stephanis (1805) volksbildnerischer Betonung der Bibliotheken in seinem Bildungssystem zu erkennen ist. In der Volksbildung waren es dann die volksbibliothekarischen Bemühungen und Pionierarbeiten Karl Preuskers und Friedrich von Raumers zu Beginn und Mitte des 19. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum (Mirbt 1969; Thauer & Vodosek 1990, 15–37). Ihre Arbeiten und Überlegungen boten wichtige Impulse und gelangten zu ihrer vollen Entfaltung im ausgehenden 19. Jahrhundert. Ab ca. 1890 erlangten die öffentlichen Volksbibliotheken im Wilhelminischen Kaiserreich nunmehr einen Thematisierungsgrad, der nicht nur zu intensiven diskursiven Auseinandersetzungen zwischen unterschiedlichen Bibliothekskonzepten bis zu Beginn des Ersten Weltkriegs führte und im sog. Richtungsstreit in der Bücherhallenbewegung kulminierte, sondern auch ein bildungstheoretisch elaboriertes Hochplateau erreichte, das bis in die Gegenwart hinein unerreicht bleibt (Stifter 2019).

In diesem Horizont wende ich mich aus historiografischer Perspektive dem Richtungsstreit innerhalb des Volksbüchereiwesens während der Kaiserzeit zu, in dem es – zugespitzt – um die Frage geht, welche Funktion eine moderne öffentliche Bücherei im Volksbildungswesen zu übernehmen habe: Soll sie eine Anstalt sein, die eine hohe Anzahl an Buchausleihen zum vorrangigen Ziel erklärt und bei der das Buch im Vordergrund steht (z. B. Ladewig 1912)? Oder soll sie eine Bildungsbibliothek sein, in der die Leser:innen einen Vorrang haben, die durch eine pädagogische Ausleihorganisation gezielt gebildet werden sollen (z. B. Hofmann 1916, 39)? Während auf der einen Seite die Masse, die Quantität, das Vielzählige hervorgehoben wurde, so wurde auf der anderen Seite die Individualität und Elite, die Qualität, das Ausgewählte betont. Hinzukommt ein zweiter Aspekt: die Frage danach, wie der Buchbestand (der Stoff) einer Bücherei aufgebaut und entwickelt ist bzw. welche Bücher für das Lesepublikum angeboten werden. Während auf der einen Seite ‚kitschige‘ Bücher noch zum Inventar der modernen Bücherei zählten, wurde auf der anderen Seite nur ‚echte‘ Literatur in den Bestand aufgenommen, keine sog. Kitsch-, Schund-, Schmutz- oder Pseudoliteratur. Die sich nach diesen Eckpunkten herausbildenden Richtungen, die Essener (E. Sulz) und Stettiner Richtung (E. Ackerknecht) auf der einen und die Leipziger Richtung (W. Hofmann) auf der anderen Seite markieren die Frontlinien, deren Entstehungszusammenhänge im Beitrag ausführlicher untersucht werden (s. a. Kuhlmann 1962, 108–112). Unter dem Erkenntnisinteresse, welche Effekte diese Kontroverse zeitigte, möchte ich daher die Anfänge des Richtungsstreits untersuchen und dabei folgender These nachgehen: Aus wissenschaftsgeschichtlicher Perspektive verhalf die Kontroverse zunächst dazu, das Nachdenken über mediale aneignungsorientierte Wissensvermittlung im Volksbibliothekswesen bildungstheoretisch erheblich zu stimulieren, was die epistemische Geburt der Neuen und Alten Richtung zur Folge hatte. Gleichzeitig führte die Kontroverse in bildungspolitischer Hinsicht dazu, dass die durch den Richtungsstreit hervorgebrachte Uneinigkeit über die Aufgabe und Funktion der öffentlichen Büchereien im Volksbildungswesen sich derart stark ausprägte, dass die Volksbibliotheken nicht mehr als erste Wahl bei der Ausgestaltung des Volksbildungswesens in der Weimarer Zeit berücksichtigt wurden, sondern statt ihrer die Volkshochschulen den bildungspolitischen Vorzug erhielten.

Entlang dreier Kapitel werde ich die angerissenen Gedanken entfalten: Zunächst skizziere ich die Einsätze der Bücherhallenbewegung am Ende des 19. Jahrhunderts, um die Konstellation erkennbar werden zu lassen, aus der heraus der Richtungsstreit im Volksbüchereiwesen hervorgehen wird (Kap. 2). Daran anknüpfend widme ich mich dem Ausbruch des Streits, der mit der Buchbesprechung Walter Hofmanns zu Paul Ladewigs Publikation Politik der Bücherei 1912 einsetzte und zur Aufspaltung der Bücherhallenbewegung in die Neue und Alte Richtung führte (Kap. 3). Am Schluss skizziere ich die ambivalenten Effekte des Bruchs im Richtungsstreit des Volksbüchereiwesen in der Weimarer Zeit, um die Behauptung zu untermauern, dass die Kontroverse epistemisch bedeutsam ist, weil sie die volksbildnerische Diskussion um die Frage der Bildung Erwachsener im Horizont der Neuen und Alten Richtung beförderte, und bildungspolitisch folgenreich wurde, weil die öffentlichen Büchereien staatlicherseits nicht mehr vorrangig als verlässliche Akteurinnen zur Ausgestaltung des Volksbildungswesens in der Weimarer Zeit wahrgenommen wurden (Kap. 4).

Wegen der geringen Aufmerksamkeit für den Richtungsstreit im Volksbüchereiwesen in den Wissensbeständen der Erwachsenenbildungsforschung einerseits und dessen Bedeutsamkeit für die Historiografie des Volksbildungswesens im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts andererseits habe ich gezielt längere Passagen der Beteiligten beim Richtungsstreit herangezogen, um sowohl die Intensität der Auseinandersetzung angemessen repräsentieren zu können, als auch um die sukzessiv aufkommenden Risse, die letzten Endes vor allem durch die von den Beteiligten praktizierte Rhetorik zum Bruch und zur Aufspaltung führen werden, anschaulich werden zu lassen.

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