Konsum und Ernährung in der Vergangenheit: Vorstellung eines hochschuldidaktischen Konzepts

BiFo – Haushalt in Bildung & Forschung 2-2024: „Wie oft seid ihr Essen gegangen?“ Verbraucher*innenbildung anhand der historisch-vergleichenden Analyse von Konsum- und Ernährungspraktiken

„Wie oft seid ihr Essen gegangen?“ Verbraucher*innenbildung anhand der historisch-vergleichenden Analyse von Konsum- und Ernährungspraktiken

Mario Vötsch

HiBiFo – Haushalt in Bildung & Forschung, Heft 4-2024, S. 65-76.

 

Der Beitrag stellt ein hochschuldidaktisches Konzept der Verbraucher*innenbildung vor, in dem Studierende eine historisch-vergleichende Analyse von Konsum- und Ernährungspraktiken durchführen. Die eigenständig erarbeiteten Erkenntnisse werden im Kontext der Bildung für Nachhaltige Entwicklung reflektiert und fördern einen kritisch-emanzipativen Zugang zum nachhaltigen Konsumhandeln.

Schlüsselwörter: Konsumpraktiken, Verbraucher*innenbildung, Hochschuldidaktik, Bildung für Nachhaltige Entwicklung (BNE)

 

“How often did you go out to eat?” Consumer education based on the historical-comparative analysis of consumption and nutrition practices

The paper presents a didactic concept for consumer education on university-level in which students carry out a historical-comparative analysis of consumption and nutrition practices. The discretely developed findings are reflected in the context of Education for Sustainable Development and promote a critical-emancipative approach to sustainable consumer behaviour.

Keywords: Consumption practices, Consumer Education, Didactics of Higher Education, Education for Sustainable Development

 

1 Einleitung

Eine Möglichkeit, die Verbraucher*innenbildung im Lehramtsstudium zu fördern, ist die historisch-vergleichende Analyse von Konsum- und Ernährungspraktiken. Die Studierenden setzen sich dabei intensiv mit dem Alltagshandeln, den Routinen und Traditionen früherer Generationen auseinander und entwickeln ein tiefes Verständnis für die Bedingungen und Möglichkeiten der Produktion und Konsumtion von Lebensmitteln. Dies ermöglicht den Erwerb von grundlegenden Kenntnissen über die Integration privater Haushalte in sozioökonomische Strukturen (Häußler, 2015). Diese haben durch das Aufkommen globaler Konsumgesellschaften einen historischen Wandel erfahren, insofern die Versorgung und Bedürfnisbefriedigung immer seltener über die private Haushaltsproduktion stattfindet. Vor dem Hintergrund internationaler Wertschöpfungsketten erfordert die Reflexion der eigenen Konsumpraktiken eine neue Dimension, zudem prägen übergreifende Themen wie Nachhaltigkeit, Suffizienz und Postwachstum zunehmend die private Lebenswelt.

Der vorliegende Beitrag stellt ein hochschuldidaktisches Konzept vor, in dem Studierende des Unterrichtsfachs „Ernährung & Haushalt“ (Sekundarstufe Allgemeinbildung) eigenständig eine historisch-vergleichende Analyse von Konsum- und Ernährungspraktiken durchführen. Die zentrale Aufgabe besteht darin, durch Interviews mit älteren Generationen vergangene Konsumwelten zu rekonstruieren. Dazu werden im Seminar „Leben in der Konsumgesellschaft“ die Charakteristika eines qualitativen Forschungsprozesses sowie die Anforderungen an die Interviewmethode behandelt, zudem werden zentrale Leitfragen entwickelt. Nach der Datenerhebung vergleichen die Studierenden ihre Ergebnisse und verfassen eine theoriegeleitete schriftliche Analyse. Parallel dazu präsentieren sie in Gruppenarbeit Auszüge aus einer wirtschafts- und sozialhistorischen Lektüre (Belndorfer, 2019), stellen dabei thematische Bezüge her und reflektieren ihre Befunde in einem zeitgeschichtlichen Kontext.

Die bisherigen Rückmeldungen zu diesem Konzept sind nach mehreren Durchläufen stets positiv. Die Studierenden schärfen ihren Blick für soziohistorisch bedingte Produktions- und Konsumtionspraktiken und sind oft erstaunt über die Einblicke in die früheren Lebensrealitäten ihrer Großeltern, von denen sie ohne das Interview in solcher Klarheit wohl keine Kenntnis genommen hätten. Der vorliegende Beitrag beschreibt die einzelnen Phasen des Konzepts und zeigt auf, wie die Studierenden durch die Vorbereitung, Durchführung und Analyse der Interviews einen wissenschaftlichen Zugang zum Lernen entwickeln. Dabei erhalten sie wertvolle Impulse für das forschende Lernen, das sie idealerweise in ihre spätere Unterrichtspraxis integrieren können. Der Beitrag beginnt mit einer kurzen Diskussion der Bildung für Nachhaltige Entwicklung (BNE), die als theoretische Perspektive für das Unterrichtssetting dient. Hierbei wird das Ziel eines nachhaltigen Konsumhandelns mit einem emanzipatorischen Lernansatz verknüpft, der es den Lernenden ermöglicht, ihre eigenen Handlungsprämissen kritisch zu prüfen und gegebenenfalls zu ändern.

2 Theoretischer Hintergrund

2.1 Verbraucher*innenbildung im Kontext der BNE

Die Verbraucher*innenbildung hat in den bildungspolitischen Diskursen Österreichs und Deutschlands in den letzten Jahrzehnten mehrere historische Wandlungen erfahren. Heiduk (2019, S. 106-107) beschreibt die Entwicklung von der Ära des „naiven Konsums“ (bis Ende der 1960er-Jahre) über die Entstehung der „Konsumgesellschaft“ (bis Mitte der 1980er-Jahre) bis hin zu den Ansprüchen an ein „ökologisch und sozial orientiertes Konsumieren“, die seit den 1990er-Jahren zunehmend an Bedeutung gewonnen haben und die Übernahme einer konsumseitigen Verantwortung implizieren. Damit Verbraucherinnen und Verbraucher ihre Rolle verantwortungsvoll übernehmen können, müssen sie in die Lage versetzt werden, ihr Konsumhandeln selbstbestimmt, bewusst und gewissenhaft auszurichten (Bartsch & Häusel, 2016). Neben der Verantwortung kommt dem Begriff der Mündigkeit eine tragende Bedeutung zu, verstanden nicht als Zustand, sondern als fortlaufender Prozess, „der durch selbstständiges und kontinuierliches Hinterfragen von Strukturen definiert wird und Verbraucherinnen und Verbraucher als Individuen mit vielfältigen ökonomischen, sozialen und politischen Bezügen“ begreift (Bala & Maier, 2014, S. 99). Mündiger und verantwortungsvoller Konsum setzt also voraus, sich als vernunftbegabtes Subjekt zu verstehen, dessen Handeln Auswirkungen auf die gesellschaftlichen Verhältnisse hat. Kaufentscheidungen bleiben damit keine privaten Angelegenheiten, sondern unterstützen – bewusst oder unbewusst – bestimmte Formen der ökonomischen Wertschöpfung sowie die damit einhergehenden sozialen und ökologischen Folgen.

Vor diesem historischen Hintergrund erfährt die Verbraucher*innenbildung jüngst durch das Paradigma der Bildung für Nachhaltige Entwicklung (BNE) eine Akzentuierung, die bereits mit den Kategorien Verantwortung und Mündigkeit angelegt war und zugleich eine Bestätigung für die wechselseitige konzeptionelle Übereinstimmung darstellt. BNE ist inzwischen ein etablierter Forschungsgegenstand, dessen Ursprünge im Bericht der Brundtland-Kommission der Vereinten Nationen (1987) liegen und dessen Entwicklung von den Agenden der frühen 1990er-Jahre bis hin zu den Sustainable Development Goals (2015) in den letzten Jahren ausführlich diskutiert wurde (z.B. Stoltenberg & Burandt, 2014). Vare & Scott (2007) unterscheiden zwei Ausprägungen der BNE: Die erste fokussiert das nachhaltige Handeln als solches, die zweite verfolgt einen breiteren, kritisch-emanzipatorischen Ansatz. Angesichts der aktuellen globalen Krisen und Probleme erscheint nachhaltiges Handeln zwar als sinnvolles Bildungsziel, es läuft jedoch Gefahr, das Ideal einer zweckfreien Bildung zu konterkarieren und für ideologische Interessen instrumentalisiert zu werden (Laub, 2021). Daher bedarf es einer kritisch-emanzipatorischen Reflexion, die Lernende dazu befähigt, die eigenen Handlungsprämissen regelmäßig zu hinterfragen und nach Möglichkeit selbstständig zu bestimmen.

2.2 Emanzipatorische Haltung transformativen Konsums

Der Anspruch eines nachhaltigen, zugleich kritisch-emanzipatorischen Handelns durch BNE deckt sich weitgehend mit den Prämissen einer kritischen, auf Verantwortung und Mündigkeit basierenden Verbraucher*innenbildung. Insbesondere vor dem Hintergrund der Ökonomisierung aller Lebensbereiche, durch die soziale, kulturelle und ökologische Handlungsfelder zunehmend von Marktverhältnissen durchdrungen werden, ist ein reflektiert-kritischer Zugang entscheidend, damit Konsumieren nicht zur alternativlosen Tugend wird. Die emanzipatorische Haltung, die eine kritische Verbraucher*innenforschung (Fridrich et al., 2017) verfolgt, zielt darauf ab

• der Vermarktlichung der Gesellschaft kritisch gegenüberzustehen und alternative Wege aufzuzeigen, um den ökonomischen Prozess zu organisieren;
• die mündige, mitunter produktive Rolle von Verbraucher*innen zu stärken, sie vom passiven Objekt zum aktiven Subjekt zu machen und ihrer Infantilisierung im Sinne von blinden Erfüllungsgehilfen eines systemischen Wachstumszwangs entgegenzuwirken;
• die sozialen Implikationen des Konsums aufzuzeigen und damit der Privatisierung von politischer Verantwortung vorzubeugen.

In diesen Zielsetzungen (Fridrich et al., 2017) verschwimmen die Grenzen zwischen Konsum und Produktion und machen traditionelle Dichotomien wie aktives vs. passives Handeln oder produktives vs. konsumtives Handeln obsolet (Certeau, 1988). Durch diese begriffliche Überschreitung kann die Handlungsmacht von Verbraucherinnen und Verbrauchern sowie das transformative Potenzial alternativer Konsumpraktiken angemessen erfasst werden (Piorkowsky, 2018). Dies zeigt sich auch darin, dass nachhaltiger Konsum heute vor allem durch Praktiken wie Reparieren, Selbermachen und Kreislaufwirtschaften geprägt ist – also durch Tätigkeiten, die an der Schnittstelle von Produktion und Konsumtion verlaufen (Jonas et al., 2021).

2.3 Pädagogische Herausforderung zwischen Ethos und Lebenswelt

Eine wesentliche pädagogische Herausforderung bei der Vermittlung nachhaltigen Konsumhandelns besteht darin, das abstrakte Ethos des kritisch-emanzipatorischen und nachhaltigen Handelns in konkrete Lernmöglichkeiten zu übersetzen. Diese sollten die praktischen Kontexte und lebensweltlichen Herausforderungen der Lernenden berücksichtigen und den handlungsorientierten Aufbau von Kompetenzen fördern. Das bildungspolitische Ziel ist es, durch erfahrene Selbstwirksamkeit transformatives Handeln zu ermöglichen (De Haan, 2008; Rieckmann, 2018).

Übertragen auf das Unterrichtshandeln der Lehrperson bedeutet dies, dass das Spannungsverhältnis zwischen Norm und Realität, zwischen Ideal und Alltag produktiv bearbeitet werden muss (Wittau, 2019). Im Rahmen der Verbraucher*innenbildung kann ein Lernzugang dann erfolgreich sein, wenn er nicht bevormundet, sondern zur bewussten Konsumentscheidung motiviert. Die dem Paradigma der Lernorientierung zugrundeliegende Forderung – partizipativ fördern anstatt instruktiv fordern – hat daher auch für die Professionalisierung von Lehrpersonen in der Verbraucher*innenbildung hohe Priorität (Bartsch et al., 2019). Es ist unvermeidlich, „dass das Verhältnis von Überwältigungsverbot und Erziehungsauftrag der Schule im Bereich BNE und Verbraucherbildung in der Lehrkräftebildung zum Thema werden muss“ (Biebricher-Sondermann & Maier, 2020, S. 77)1.

1 Die Formulierung verweist auf ein Kernprinzip der politischen Bildung im deutschsprachigen Raum, den „Beutelsbacher Konsens“ (Wehling, 1977). Demnach zahlen das Uberwaltigungsverbot (keine Indoktrination), die Beachtung kontroverser Positionen in Wissenschaft und Politik sowie die Fahigkeit zur Wahrnehmung eigener Interessen zu den didaktischen Leitgedanken der politischen Bildung. Die Referenz zeigt, dass BNE und Verbraucher*innenbildung nicht aus sich heraus, sondern in einem interdisziplinaren Bedeutungsrahmen zu interpretieren sind.

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