„Konstituierende Rahmung und professionelle Praxis“: Leseprobe

Leseprobe Bohnsack Konstituierende Rahmung

Eine Leseprobe aus Konstituierende Rahmung und professionelle Praxis. Pädagogische Organisationen und darüber hinaus von Ralf Bohnsack, Tanja Sturm, Benjamin Wagener (Hrsg.).

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Konstituierende Rahmung und professionelle Praxis. Pädagogische Organisationen und darüber hinaus. Ein erster Überblick

Ralf Bohnsack, Tanja Sturm & Benjamin Wagener

Die Praxeologische Wissenssoziologie als Grundlagentheorie sowie als metatheoretischer Bezugsrahmen der Dokumentarischen Methode zeichnet sich durch eine fortdauernde Reflexion, Ausdifferenzierung, Weiterentwicklung wie auch Generierung ihrer Kategorien in der empirischen Auseinandersetzung aus. Während sich die empirischen und (meta-)theoretischen Rekonstruktionen zunächst vor allem mit den gesellschaftlichen konjunktiven Erfahrungsräumen resp. gesellschaftlichen Milieus befassten, rücken in jüngerer Zeit organisationale konjunktive Erfahrungsräume stärker ins Zentrum der Analyse. Und hier liegt der Schwerpunkt im Bereich pädagogischer Organisationen und ihrer angrenzenden Bereiche.

Schulen und Kindertageseinrichtungen als genuin pädagogische Organisationen sowie auch die Soziale Arbeit sind solche Organisationen, in deren Arbeit die Person der Klient:innen im Zentrum steht und über deren Biografie und Identität (mit-)entschieden wird. Diese people processing organizations sind mit strukturidentischen Problemen konfrontiert. Allen voran sind hier die Bewältigung der Diskrepanz von normativer Programmatik und Praxis zu nennen sowie die mit der Entscheidungsfindung unvermeidbar verbundene Fremdrahmung der Klientel und die dennoch notwendige Etablierung eines konjunktiven Erfahrungsraums mit dieser. Trotz dieser strukturidentischen Herausforderungen verbleibt die sozialwissenschaftliche Analyse in Theorie und Empirie weitgehend innerhalb jeweils eines der organisationalen Felder, wie sich u. a. auch im Bereich der Professionalisierungsforschung zeigt. Damit bleibt aber auch das Generalisierungs- und darüber das Erkenntnispotential der Aussagen hinsichtlich der organisationalen Praxis begrenzt, wie auch jene trans- oder interdisziplinären Erkenntnisse, welche für eine Kooperation dieser Organisationen untereinander wesentlich sind. Dem vorliegenden Band ist nicht nur – wie auch bereits einem früheren (vgl. Bohnsack et al. 2022) – diese feldübergreifende oder -vergleichende Perspektive eigen. Es finden sich auch bereits erste internationale Vergleiche.

Je verallgemeinerbarer und systematischer unsere Erkenntnisse über die people processing organizations sind, umso mehr tritt die Eigenlogik ihrer Arbeitsweise im Unterschied zu anderen Organisationen, insbesondere auch zur Wissenschaft, hervor. Aus praxeologischer Perspektive erscheint es im Bereich der sozialwissenschaftlichen Analyse der people processing organizations als wohl dringendste Aufgabe, diese von rationalistischen Zugangsweisen und entsprechenden Vor-Urteilen zu befreien. Damit ist zum einen gemeint, dass wir als Forschende die Praxis dieser Organisationen nach den Maßstäben zu beurteilen suchen, die wir an unsere eigene, also die wissenschaftliche, Forschungsarbeit anzulegen gewohnt sind. Denn im Bereich wissenschaftlicher Organisationen wendet sich die Beurteilung von Qualität primär den Resultaten der Praxis zu, also den textförmig dokumentierten Ergebnissen der Forschungsprozesse. Demgegenüber ist es im Bereich der people processing organizations primär der Vollzug der Praxis selbst, an welchem die Qualität der Arbeit gemessen wird.

Dabei stehen wir zum anderen unabweisbar vor dem zentralen Problem, dass wir immer noch sehr wenig über die Strukturen der Praxis wissen und über das dieser Praxis zugrundeliegende handlungsleitende (Erfahrungs-)Wissen.1 Und je mehr die Sozialwissenschaften derartige rationalistische Maßstäbe an die Praxis herantragen, desto mehr muss ihnen diese auch defizitär erscheinen. In weiten Bereichen haben die Sozialwissenschaften somit ein Verhältnis zur Praxis im Sinne einer „Hierarchisierung des Besserwissens“ (Luhmann 1992: 510) entwickelt. Demgegenüber müsste es der sozialwissenschaftlichen Analyse zunächst einmal darum gehen, sich der Strukturen dieser Praxis in deren Eigenlogik zu vergewissern und hieraus zu lernen.

Zu den rationalistischen Vor-Urteilen gehört auch ganz wesentlich ein in der zweckrationalen Logik verankerter verstehender oder interpretierender Zugang. Dieser basiert wesentlich auf der Fremd- und Selbst-Attribuierung von Intentionen, (Um-zu-)Motiven (Schütz 1971) und Programmen sowie auf kausalen Erklärungen, die auf diesen Unterstellungen basieren. Die hohe Suggestivkraft derartiger rationalistischer theoretischer Zugänge resultiert wesentlich daraus, dass sie im Kern der Logik unserer Theorien des Alltags, also der Common- Sense-Theorien, folgen. Wesentlich für die praxeologische Perspektive ist demgegenüber die Unterscheidung zwischen dem handlungsleitenden Wissen, also dem in der Praxis des Alltags selbst verankerten Wissen, Erkennen und Reflektieren und den Theorien, die wir über diese Praxis haben‚ den Common- Sense-Theorien. Das heißt, wir betrachten weder allein die Praxis noch allein die (theoretisierende) Verständigung der Akteur:innen über diese, sondern deren Relation zueinander. Beide Ebenen des Wissens und auch deren Relation sind in der Praxeologischen Wissenssoziologie Gegenstand rekonstruktiv-empirischer Forschung. Salopp formuliert, ist unsere Praxis allerdings klüger als unser theoretisches Alltagswissen über diese. Man kann es auch so formulieren, „daß wir mehr wissen als wir zu sagen wissen“ (Polanyi 1985: 14).

Diese notorische Diskrepanz resp. das Spannungsverhältnis zwischen der Praxis und unseren Theorien über diese findet sich auch in der Beziehung der Praxis zu unseren normativen Erwartungen. Und dies gilt insbesondere für die Eigenlogik der Interaktion zwischen den beruflichen Akteur:innen und ihren Klient: innen in den people processing organizations. Es ist diese Praxis der Interaktion in ihrer systemischen Logik und ihrer Prozessstruktur, welche uns unter dem Begriff der konstituierenden Rahmung in diesem Band im Kern interessiert. Wir sprechen von konstituierender Rahmung, weil sich aus praxeologischer Perspektive die Organisation im Vollzug dieser Praxis überhaupt erst konstituiert. Die durch den Common Sense gestützte Suggestivkraft der Selbst- und Fremdattribuierungen von Intentionen, Normen und Programmen zeigt sich in ihrer Problematik unter anderem recht deutlich im Bereich der organisationalen und gesellschaftlich-institutionellen Programmatik, wie beispielsweise der „Inklusion“. Indem die Eigenlogik der unterrichtlichen Interaktion und deren Konsequenzen unerkannt bleiben, kann sich diese Intention geradezu in ihr Gegenteil verkehren. Wesentliche Voraussetzung für die Bewältigung der konstituierenden Rahmung ist ein Erkennen der Eigenlogik des Interaktionssystems im Sinne des „praktischen Erkennens“ (Bourdieu 1976: 145) oder der praktischen Reflexion.

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1 Zwar bleiben, wie bereits der Physiker und Erkenntnistheoretiker Michael Polanyi (1985) gezeigt hat, auch im Bereich der (natur-)wissenschaftlichen Forschung die Strukturen der Praxis resp. das handlungsleitende Wissen weitgehend implizit. Aber für die Beurteilung der Qualität der Erkenntnisse ist dies dort sekundär und hat zu einer erheblichen Diskrepanz von Methodologie und Forschungspraxis geführt.

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Die Herausgeber*innen

Prof. Dr. Ralf Bohnsack, Professor a.D. für qualitative Methoden in den Sozialwissenschaften an der Freien Universität Berlin

Prof. Dr. Tanja Sturm, Professorin für Inklusive Bildung, Philosophische Fakultät III, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

Dr. Benjamin Wagener, derzeit: Ausbildung an der Akademie für Psychotherapie und Interventionsforschung der Universität Potsdam

 

Über „Konstituierende Rahmung und professionelle Praxis“

Die Praxeologische Wissenssoziologie sowie die Dokumentarische Methode zeichnen sich durch fortdauernde Reflexion, Ausdifferenzierung und Weiterentwicklung ihrer Kategorien in der empirischen Auseinandersetzung aus. Im Zentrum stehen das Verhältnis zwischen propositionaler und performativer Logik sowie die Kategorie des konjunktiven Erfahrungsraums. Die Autor*innen bearbeiten dies für organisationale konjunktive Erfahrungsräume und fokussieren pädagogische Felder und solche der sozialen Arbeit.

 

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