Entwicklung intersektionaler Perspektiven auf Bio-Macht in den 1970/80er Jahren

„Abortion on Demand – No Forced Sterilization“. Intersektionale Perspektiven auf Bio-Macht in den 1970/80er Jahren

Christa Klein

FZG – Freiburger Zeitschrift für GeschlechterStudien, Heft 2022, S. 35-53.

 

Zusammenfassung: Der Begriff Intersektionalität wurde 1989 von Kimberlé Crenshaw geprägt. Als solidarische Praxis und kritische Analyseperspektiven auf Bevölkerungspolitik lassen sich intersektionale Perspektiven aber bereits in den Neuen Frauenbewegungen finden. Der Artikel erläutert die Analysebegriffe „Intersektionalität“ und „Bio-Macht“ und umreißt mit dem Fokus auf Reproduktionspolitiken die Entwicklung intersektionaler Perspektiven auf Bio-Macht in den 1970/80er Jahren. Am Beispiel feministischer Bewegungen im deutschen und US-amerikanischen Kontext wird nachgezeichnet, wie Forderungen nach der Legalisierung von Abtreibung einerseits, der Abschaffung von Zwangssterilisationen andererseits im Protest gegen bevölkerungspolitische Interventionen zusammenkamen und auch die historische Aufarbeitung eugenischer Bio-Politiken inspirierten.

Schlagwörter: Intersektionalität; Bio-Macht; Neue Frauenbewegungen; Geburtenpolitik; reproductive justice

 

„Abortion on Demand – No Forced Sterilization”. Intersectional Perspectives on Bio-power in the 1970/80s

Abstract: The term intersectionality was coined by Kimberlé Crenshaw in 1989. However, as a practice of solidarity and critical analytical perspectives on population policy interventions, intersectional perspectives can already be found in second-wave feminisms. The article introduces the analytical terms “intersectionality” and “bio-power” and outlines the development of intersectional perspectives on bio-power in the 1970s/80s with a focus on reproductive politics. Using the example of feminist movements in the German and US-American context, it traces how demands for the legalization of abortion on the one hand and the abolition of forced sterilization on the other came together in the protests against population policy interventions and also inspired the historical analysis of eugenic bio-policies.

Keywords: intersectionality; bio-power; 2nd wave feminisms; birth control; reproductive justice

 

Einleitung

Der Begriff „Intersektionalität“ ist mit dem Transfer von Kimberlé Crenshaws Aufsatz „Demarginalizing the Intersection of Race and Sex“ (1989) in andere Sprachen, Disziplinen und Kontexte auch in Deutschland angekommen. Seine Historisierung steht aber noch weitgehend aus (vgl. weiterführend Collins/Bilge 2016). Mit einem kursorischen Einblick1 in westdeutsche und US-amerikanische Frauenbewegungen2 der 1970er/80er Jahre frage ich im Folgenden, ob Intersektionalität vor der Begriffsbildung als ein solidarisierendes Gegenkonzept zu biopolitischen Interventionen gelesen werden kann. Nach einer Einführung in das Konzept der Intersektionalität sowie Foucaults kritische Analyse von Bio-Macht fokussiert dieser Artikel die Frage der Reproduktionspolitik und konzentriert sich auf eine Phase, in der intersektionale Perspektiven auf Bio- Macht von Frauen auf breiter und populärer Basis artikuliert wurden – nicht zuletzt mit Transparenten, wie an dem Demonstrationsplakat „Abortion on Demand. No Forced Sterilization” (Abb. 1) erkennbar ist. In dieser Phase der 1970/80er Jahre wurden die Differenzen zwischen Frauen in Bewegungskontexten zunehmend deutlicher artikuliert (vgl. etwa Arenas Conejo 2013: 26) und die Einsicht wuchs, dass sich Herrschaftsverhältnisse entlang verschiedener ‚Achsen‘ gegenseitig bedingen und verstärken (vgl. Ferree 2009: 85). Um verschränkte Ungleichheiten zu untersuchen, musste so die einseitige Konzentration auf ‚primäre‘ Achsen der Unterdrückung sukzessive aufgegeben, der akkumulative Ansatz, „the notion of parts making up a whole” durch komplexere Modelle ersetzt werden (Walby 2007: 461, 463). Regime der Ungleichheit (Walby 2009: 19) sind multipel und liegen in den seltensten Fällen 1:1 über- oder nebeneinander, vielmehr sind sie aufeinander bezogen, überschneiden, verschränken, beeinflussen und konstituieren sich wechselseitig: Historische Realitäten sind komplex, so dass stets sorgfältig analysiert werden muss, Kontexte berücksichtigt, Prozesse und verschiedene Ebenen differenziert werden müssen (vgl. Winker/Degele 2009). Entwickelte sich ein solches Bewusstsein für „complex inequalities“ als komplizierte Kombinationen von Ungleichheiten und Differenzen (Walby 2007: 467, 2009: 18) bereits in den Frauenbewegungen der 1970er/80er Jahre und inwiefern beförderte es Solidarsierungen untereinander? Mit der hier vorliegenden reduzierten Spurensuche sollen die vielen weiteren Potenziale des Konzepts Intersektionalität ebensowenig verleugnet werden wie die vielen Konflikte innerhalb der Frauenbewegungen der 1970/80er Jahre.3 Vielmehr möchte ich zeigen, dass sich Ansätze zu Solidarisierungen – wenngleich marginal, teils von heftigen Kämpfen überlagert und erinnerungskulturell kaum verhandelt –, so doch in der Zweiten Frauenbewegung formierten und sich retrospektiv als intersektionale Perspektiven auf Bio-Macht beschreiben lassen.

„Intersektionalität“ und „Bio-Macht“

1989 prägte Kimberlé Crenshaw den Begriff Intersektionalität für die Überschneidung verschiedener Ungleichheiten und veranschaulichte ihn am Bild einer Straßenkreuzung – „intersection“ –, an der eine Schwarze Frau steht, die aus verschiedenen Richtungen gleichzeitig überfahren zu werden droht. Sie stellte „the intersection of race and sex” in den Vordergrund und wählte „Black women as a starting point“ (Crenshaw 1989: 140), wobei sie auch die Kategorie „class“ nicht aus dem Blick verlor: Die dem Konzept zugrundeliegenden Strukturkategorien race, gender, class und für moderne Gesellschaften typische Verschränkung der Herrschaftsverhältnisse Rassismus, Heteronormativität,4 Klassismus, sind insbesondere durch die Kategorie „Behinderung“ (vgl. ausführlich Köbsell 2020) bzw. die Herrschaftsstruktur des „ableism“ (Linton 2006: 161; vgl. Bösl/Klein/Waldschmidt 2010) erweitert worden. Zudem bleibt das für historische Analysen besonders wichtige ‚etc.‘, das dazu auffordert, die jeweiligen Herrschaftsverhältnisse konkret zu analysieren und ernst zu nehmen, wenn andere Kategorien – wie etwa Religion und Alter – in bestimmten historischen Kontexten eine wichtige oder gar ausschlaggebende Rolle spielten.

Ein berühmtes Beispiel für Intersektionalität „avant la lettre“ ist die Rede von Sojourner Truth (1797-1883) „Ain’t I a woman” (Truth 1851). Truth ist für ihre intersektionale Kritik am US-Wahlrecht Mitte des 19. Jahrhunderts bekannt geworden, welches das Stimmrecht ausschließlich weißen Männern der Mittel- und Oberschichten vorbehielt. In einem Kontext, in dem Schwarze Frauen in den Kämpfen um das Wahlrecht von Schwarzen Männern einerseits, weißen Frauen andererseits marginalisiert wurden, setzte sie sich für das Wahlrecht Schwarzer Frauen ein. In ihrer Rede findet sich der Satz: „I have borne thirteen chilren, and seen ‘em mos’ all sold off to slavery” [sic] (ebd.: 124 [116]). Daran lässt sich die für US-Kontexte Mitte des 19. Jahrhunderts noch typische Verschränkung der Kategorien ‚Schwarz‘ – ‚Frau‘ – (Ex-)‚Sklavin‘5 ablesen und gleichzeitig wird klar: Ihr Kampf um das Wahlrecht war auch ein Kampf gegen eine Form der Bio-Macht, die Schwarzen Frauen ihre Handlungsmöglichkeiten nahm und Formen der Gewalt legitimierte, die ihnen und ihren Kindern die körperliche Selbstbestimmung entzog.

Der Begriff Bio-Macht – im Deutschen vorwiegend als Bevölkerungspolitik verhandelt – wurde von Michel Foucault (1926–1984) geprägt6 und bezeichnet die Steuerung der Größe und Zusammensetzung einer Bevölkerung. Bios heißt im griechischen Leben, Nekros Tod, so dass Achille Mbembe (2003) Foucaults Bio-Politik um die necropolitics erweiterte, denn die Bandbreite der Maßnahmen umfassen das gesamte Spektrum, nämlich „Leben zu machen und in den Tod zu stoßen“ (Foucault 2003 [1977]: 134). Bevölkerungspolitische Maßnahmen reichen von Steuerregulierungen bis zum Genozid. Im Vordergrund steht die Regulierung der Geburten-, Sterbe- und Migrationsrate – in ihren Verschränkungen mit Gesundheits-, Sexualitäts-, und Familienpolitiken ebenso wie der Arbeitsmarkts-, Wirtschafts-, Verteidigungs- und Umweltpolitik. Foucault spricht von „einer ganzen Serie“ von Technologien und Maßnahmen, die „in wechselnder Proportion das Ziel der Körperdisziplin mit dem der Bevölkerungsregulation“ kombinieren (Foucault 2003 [1977]: 141, 134f.; vgl. Foucault 2003 [1975-76]: 243-247). Wie Ute Planert (2000: 544) erläutert, wird damit ein Feld eröffnet, „in dem gleichzeitig die Kontrolle und Reproduktion, die Modifizierung und Produktion einzelner Körper wie des menschlichen Lebens überhaupt möglich wird“: Zwischen Disziplinierungstechniken und Bevölkerungsregulation vermitteln Normen, die sowohl auf individuelle Körper angewendet werden, welche diszipliniert werden sollen, wie auch auf Kollektive oder Gattungen wie etwa Klassen, Geschlechter, ‚Rassen‘, Spezies, die reguliert werden sollen (vgl. Foucault 2003 [1975-76]: 243, 249, 253). Die Differenzierungslinien race – class – gender – ability, die allesamt Körper betreffen, dienen als institutionalisierte Regulierungsmomente verschiedener Bevölkerungsanteile dazu, neue Werteskalen und Normalisierungsprozesse als Hierarchien der Ungleichheit zu installieren: Wer immigrieren oder emigrieren darf und wer nicht, wer Kinder kriegen soll oder darf und wer nicht, wer Zugang zu Gesundheitsversorgung hat und wer nicht, wird bestimmt durch Normen, die zwischen Bevölkerungsgruppen unterscheiden und sie in spezifische Verhältnisse zueinander setzen. Damit kommt Bio-Macht eine Definitionsgewalt zu, die „eine Norm des Lebens setzt, Subjekte nach den Kriterien von Wert und Nutzen klassifiziert und zwischen wertvollem und unwertem Leben unterscheidet“ (Planert 2000: 544, vgl. Bock 2010 [1986]: 12). Dieses „Kriterium der Selektion, wer leben soll und wer sterben muß“ (Wildt 2006: 106) stellt Foucault zufolge der Rassismus dar (vgl. Foucault 2003 [1975-76]: 254-257), und zwar, wie Dagmar Herzog (2018: 56) hervorhob, „in dreifachem Sinne: in der Verachtung für die niederen Schichten innerhalb Europas; in der Sorge, dass die ‚braunen‘, ‚schwarzen‘ und ‚gelben‘ Völker sich stärker vermehrten als die ‚weißen‘ und schließlich in der Antipathie gegen Behinderte“. Rassistische Normen legitimierten es historisch, Bevölkerungsgruppen zu hierarchisieren, „diese verschiedenen Normalitätsaufteilungen wechselseitig zu bewegen und in Gang zu setzen“ und „die guten und die schlechten aus[zu]sortieren“ (Foucault 2004 [1977/78]: 98, 101). Seit Ende des 19. Jahrhunderts stützten sich biopolitische Maßnahmen zunehmend auf Vererbungs- und Degenerationstheorien, die Sexualität als „Verbindungspunkt“ zwischen Körperdisziplinierung und Bevölkerungsregulierung begriffen (Foucault 1992 [1976]: 39, vgl. Foucault 2003 [1975-76]: 251f.) und Geburtenpolitik als Nadelöhr zur „‚Aufartung‘“ betrachteten (Bock (2010 [1986]: 36). Eugenik – griechisch ‚bessere Gene‘ –, ein 1883 von Francis Galton geprägter Begriff, bezeichnet das gezielte bevölkerungspolitische Eingreifen in evolutionäre Prozesse zur vermeintlichen Steigerung menschlicher Leistungsfähigkeit durch Selektion. Sogenannte ‚Minderwertige‘ sollten durch Anstaltseinweisung, Sterilisation und andere Mittel an der Fortpflanzung gehindert, sogenannte ‚Geeignete‘ durch pronatalistische Maßnahmen dazu ermutigt werden. In der Geschichte der Eugenik waren Rassismus, Antisemitismus, Klassismus, Heteronormativität und Ableism eng verschränkt und konnten miteinander, aber auch gegeneinander ausgespielt werden. Bio-Macht wird hier entsprechend definiert als ein Feld, in dem „the major systems of oppression are interlocking“ (Combahee River Collective 1981 [1977]: 210) bzw. sich gegenseitig konstituieren und stabilisieren (vgl. Yuval-Davis 2015: 94, 92). Intersektionalität, wie sie das Combahee River Collective definierte, dessen „Black Feminist Statement“ bis heute als das Gründungskonzept von Intersektionalität avant la lettre gelesen werden kann, bezeichnet hingegen eine solidarisierende „integrierte Analyse und Praxis“ (Combahee River Collective 1981 [1977]: 210), die rassisierende, heteronormative und klassistische Machtprozesse in ihren Verschränkungen reflektiert und bekämpft. Das Konzept der Bio-Macht ist ebenso wie das „Black Feminist Statement“ in den späten 1970er Jahren formuliert worden. Foucault wie auch das Combahee River Collective waren geprägt von den sozialen Bewegungen dieser Zeit, die sich für einen solidarischen sozialen Wandel engagierten. Mit dem Fokus auf Reproduktionspolitiken wird im Folgenden gefragt, ob sich auch in europäischen Frauenbewegungen intersektionale Perspektiven auf Bio-Macht finden lassen.

1 Dieser Artikel skizziert nur einige grobe historische Linien, die als erste Orientierung dienen können.
2 Wenn auf Selbstbezeichnungen und Quellenbegriffe rekurriert wird, werden Begrifflichkeiten wie ‚Frauen‘ oder ‚Männer‘ ohne * geschrieben, da diese Entwicklung erst jüngeren Datums ist. In Bezug auf Frauenbewegungen wird der Plural benutzt, um die Differenzen zwischen verschiedenen Frauen*, Bewegungen, Anliegen und Forderungen kenntlich zu machen.
3 Vgl. etwa Ferree/Hess ([1995] 2003) sowie die Konferenz „Feminism is a battlefield. Wie erforschen wir Konflikte der Queer- und Frauenbewegungen?“, <https://www.hsozkult.de/event/id/event-114616> (Zugriff: 21.12.2021).
4 Mit Heteronormativität wird die binäre Normierung und naturalisierte Verschränkung der Kategorien sex, gender, sexuality (biologisches Geschlecht, Geschlechtsidentität, Sexualität) bezeichnet, (vgl. weiterführend Degele 2005: 19).
5 Zu dem Verhältnis von ‚Klasse‘ und ‚Sklaverei‘ siehe Wells (2010).
6 Der Begriff Bio-Politik ist allerdings keine Neuschöpfung Foucaults, vielmehr wurde er 1934 von Ernst Lehman eingebracht, der biopolitische Superiorität an einer höheren Geburtenrate festmachte, vgl. Planert (2000: 544).

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