von Nina Kolleck
Über das Buch
Fake News, Extremismus, Klimawandel, Polarisierung – wie können demokratische Gesellschaften diesen Entwicklungen begegnen? Auf der Suche nach Antworten nimmt die Forderung nach politischer Bildung seit einigen Jahren eine zunehmend zentrale Rolle ein. Weltweit reagieren Bildungssysteme auf die sich zuspitzenden gesellschaftlichen Herausforderungen und schenken Aspekten der politischen Bildung im schulischen und außerschulischen Bereich mehr Aufmerksamkeit. Das Lehrbuch bietet eine breite und leicht verständliche Einführung in Forschungsbereiche, Anwendungsfelder und internationale Ansätze der politischen Bildung. Studierende der Sozialwissenschaften, (angehende) Lehrkräfte aller Schulformen, Fachwissenschaftler*innen und Praktiker*innen finden hier die zentralen Grundlagen der politischen Bildung innerhalb und außerhalb der Schule, in Deutschland, der EU und im internationalen Kontext.
Leseprobe aus den Seiten 11-15
1 Einleitung
Politische Bildung1 spielt in öffentlichen Diskursen seit einigen Jahren eine zunehmend zentrale Rolle. Debatten um Fake News, Menschenfeindlichkeit, Extremismus, Menschenrechte, nachhaltige Entwicklung, Klimawandel, Migration oder die Polarisierung der Gesellschaft erinnern unmittelbar daran, wie wichtig politische Bildung für die Allgemeinheit ist. Weltweit reagieren Bildungssysteme auf die sich zuspitzenden gesellschaftlichen Herausforderungen und schenken Aspekten der politischen Bildung im schulischen und außerschulischen Kontext mehr Aufmerksamkeit. In deutschen Schulen wurde das Fach „Politische Bildung“ teils in den Bundesländern ausgeweitet, vielerorts müssen Lehrkräfte aller Schulformen und Schulfächer verpflichtend Lehrveranstaltungen zu politischer Bildung belegen. Darüber hinaus wurden in den meisten Lehrplänen und Curricula die Inhalte zur politischen Bildung überarbeitet. Dieser Trend der Aufwertung politischer Bildung ist dabei nicht allein in Schulen zu beobachten: Auch für Fachwissenschaftler*innen unterschiedlicher Disziplinen gewinnt die politische Bildung an Relevanz und stellt nicht zuletzt ein breites und vielversprechendes Berufsfeld für viele Absolvent*innen der Politikwissenschaft, der Bildungs- und Erziehungswissenschaften sowie ihrer Nachbardisziplinen dar. Einige Universitäten wie die Universität Leipzig haben bereits auf das Desiderat reagiert und bilden Fachwissenschaftler*innen sowie alle angehenden Lehrkräfte im Bereich der politischen Bildung aus.
Das vorliegende Buch möchte eine breite Einführung in Forschungsbereiche, Anwendungsfelder und internationale Ansätze zu Schnittmengen von Bildung und Politik im Allgemeinen und politischer Bildung im Besonderen geben. Zu den Themen Politische Bildung als Schulfach sowie Fachdidaktik der Politischen Bildung ist bereits eine große Bandbreite an Lehrbüchern zu finden, die einen sehr guten Überblick über die wichtigen Inhalte, didaktischen Methoden und Kontroversen geben (Deichmann/Tischner 2013; Engartner/Hedtke/Zurstrassen 2020; Himmelmann 2017; Rothe 1989; Sander 1984). Allerdings mangelt es bisher an einem Buch über die beiden anderen Aspekte:
- der politischen Bildung als fächerübergreifendes Prinzip und Querschnittsaufgabe für die Lehrkräfte aller Fächer und Schularten sowie
- der politischen Bildung als Gesellschaftsaufgabe und damit als Thema für Fachwissenschaftler*innen und Studierende der benachbarten Disziplinen (u. a. Politik- und Erziehungswissenschaft, Bildungsforschung, Psychologie, Soziologie, Ökonomie, Recht).
Das vorliegende Buch möchte zur Schließung dieser Lücke beitragen.
1.1 Funktionen von politischer Bildung
Politische Bildung wird mit unterschiedlichen Funktionen verknüpft. Je nach Kontext, kultureller, sozialer, politischer und historischer Verortung werden verschiedene Inhalte unter dem Begriff der politischen Bildung gefasst. Nach Detjen (2013) kristallisieren sich fünf Funktionen als wesentlich für die politische Bildung heraus: die Förderung individueller Mündigkeit, die Qualifizierung und lebenslange Bildung der Mitglieder von Gesellschaften oder Gemeinschaften, die Stabilisierung der existierenden Herrschaftsordnung, die Implementierung geistiger Bestände des Gemeinwesens sowie die Verbesserung der gesellschaftlichen, ökonomischen und politischen Verhältnisse (ebd.).
In Deutschland nimmt die schulische Bildung die größte Rolle in der politischen Bildung ein (Massing 2010), da sie aufgrund der allgemeinen Schulpflicht alle Menschen erreicht und demnach eine starke Breitenwirkung entfaltet (Detjen 2013). Im Unterricht wird politische Bildung sowohl im Rahmen des Fachunterrichts (wobei das Unterrichtsfach „Politik“ in Deutschland je nach Bundesland und Schulform anders bezeichnet wird) als auch fachübergreifend als Unterrichtsprinzip realisiert (u. a. durch die Reflexion politischer Aspekte in anderen Fächern) (ebd.). Zudem ist sie Bestandteil der Professionalisierung von Lehrkräften und der (demokratischen) Schulentwicklung. Außerdem kann politische Bildung im schulischen Kontext durch politisches Handeln vermittelt werden, beispielsweise im Kontext schulischer Partizipationsstrukturen (siehe auch Kapitel 3).
Dieses Buch geht davon aus, dass politische Bildung nicht allein als Schulfach, sondern auch fächerübergreifend und für die gesamte Schulentwicklung sowie darüber hinaus eine Rolle spielt. Demnach lassen sich auch die Funktionen politischer Bildung unterscheiden, je nachdem, ob politische Bildung oder Politische Bildung
– als Schulfach,
– als fächerübergreifendes Prinzip und Querschnittsaufgabe (demokratische Schulkultur, demokratische Schulentwicklung) für die Lehrkräfte aller Fächer und Schularten oder
– als Gesellschaftsaufgabe und damit als Thema für Fachwissenschaftler*innen
gemeint ist. Da bereits viele gute Lehrbücher zur Didaktik der Politischen Bildung und zur Politischen Bildung als Schulfach zu finden sind, fokussiert das vorliegende Buch vor allem Fragen der politischen Bildung als fächerübergreifendes Prinzip sowie den außerschulischen Bereich.
1.2 Politische Bildung als Schulfach
Je nach Bundesland und Schulform wird das Schulfach Politische Bildung in Deutschland unterschiedlich bezeichnet oder in andere Schulfächer subsumiert. In Mecklenburg-Vorpommern wird beispielsweise die Bezeichnung „Sozialkunde“ gewählt, in Hamburg „Gemeinschaftskunde“ oder „Politik/Gesellschaft/Wirtschaft“, in Sachsen „Gemeinschaftskunde“ oder „Gemeinschaftskunde/Rechtserziehung/ Wirtschaft (Gymnasium)“ oder „Gemeinschaftskunde/Rechtserziehung (Oberschule)“, in Brandenburg „Gesellschaftswissenschaften“ oder „Politische Bildung“ und in Berlin „Politische Bildung“, „Politikwissenschaft“, „Sozialwissenschaften“ oder „Wirtschaftswissenschaft“. Auch die Qualität und Quantität, die Politische Bildung in den Bundesländern und Schulformen einnimmt, unterscheidet sich enorm (Achour/ Wagner 2019; Gökbudak/Hedtke 2019). Die Kultusministerkonferenz (KMK) hat die Benennung des Schulfaches freigestellt und im Jahr 1950 neben Politik die Bezeichnungen „Gemeinschaftskunde“, „Bürgerkunde“ oder „Gegenwartskunde“ vorgeschlagen, die heute kaum noch genutzt werden (KMK 1950 zit. nach Kuhn/Massing 1989: 151). Der dritte Absatz des KMK-Beschlusses lautet: „Es wird empfohlen, zur Vermittlung dieses Stoffwissens und zur Auseinandersetzung mit aktuellen Fragen, soweit dies nicht in anderen Unterrichtsfächern möglich ist, vom 7. Schuljahr an Unterricht in besonderen Fachstunden zu erteilen. Die Benennung dieses Faches wird freigestellt (Gemeinschaftskunde, Bürgerkunde, Gegenwartskunde, Politik)“ (ebd.). Die Gesellschaft für Politikdidaktik und politische Jugend- und Erwachsenenbildung (GPJE) erkennt in dieser Offenheit und Vielfalt an unterschiedlichen Bezeichnungen ein Hindernis für die Profilierung des Fachs und schlägt zumindest für die Sekundarstufen und die berufliche Bildung die einheitliche Bezeichnung des Schulfachs als „Politische Bildung“ vor (Pohl 2020).
Insgesamt nimmt das Schulfach Politische Bildung jedoch wenig Raum in der schulischen Ausbildung ein. Einer der Gründe dafür mag sein, dass politische Bildung in Deutschland teilweise noch immer mit politischer Indoktrination assoziiert wird. Diese Befürchtung zeigt sich auch im englischsprachigen Raum, wo der Begriff politische Bildung nicht mit Political Education übersetzt wird, da Political Education mit Indoktrination und nicht mit der Tradition der Demokratiebildung oder -erziehung konnotiert ist (Himmelmann 2003). Die Empirie in Deutschland weist allerdings darauf hin, dass die Mehrheit der Schüler*innen das Gefühl hat, sich im Schulunterricht zu politischer Bildung eine eigene Meinung bilden und diese äußern zu können. Allerdings deutet sich an, dass nicht allzu viele Schüler*innen den Eindruck haben, dass Lehrkräfte unterschiedliche Sichtweisen auf bestimmte Probleme ausreichend abbilden (Achour/Wagner 2019).
1.3 Politische Bildung als Querschnittsaufgabe in Schulen
In deutschsprachigen Debatten zur Bedeutung der politischen Bildung sind häufig Kontroversen darüber zu finden, ob politische Bildung als separates Schulfach oder als Querschnittsaufgabe in Schulen behandelt werden sollte. Dass politische Bildung als Querschnittsaufgabe wichtig ist, wird kaum bezweifelt und u. a. von der KMK kontinuierlich gefordert (KMK 1950 zit. nach Kuhn/Massing 1989; KMK 2018b).
„In diesem Sinne ist politische Bildung ein Unterrichtsprinzip für alle Fächer und für alle Schularten. Jedes Fach und jede Schulart haben darum nach ihrer Eigenart und Möglichkeit zur politischen Bildung beizutragen“ (KMK 1950 zit. nach Kuhn/Massing 1989: 151).
Gleichwohl besteht die Befürchtung, dass eine fächerübergreifende Behandlung dazu führen könnte, dass Politische Bildung als Schulfach reduziert wird. Diese Befürchtung ist nicht unberechtigt. Nicht zuletzt ist das Schulfach Politische Bildung wiederholt von Kürzungen bedroht und spielt im Vergleich zu anderen Fächern nur eine marginale Rolle (Detjen 2015). Die geringe quantitative Bedeutung des Unterrichtsfachs lässt sich historisch begründen, da andere Fächer bereits länger etabliert sind. Detjen warnt jedoch davor, die marginale Rolle des Fachs mit dem Argument zu rechtfertigen, dass politische Bildung als Unterrichtsprinzip fächerübergreifend in Schulen aufgegriffen werden müsse (ebd.). Aus dieser Perspektive kann es nur durch ein eigenständiges Schulfach Politische Bildung gelingen, das notwendige politische Wissen, die politische Allgemeinbildung und politische Analyse- und Urteilsfähigkeit zu vermitteln, die für die Heranbildung mündiger Bürger*innen zentral sind (Patzelt 2019b). Demnach stellt „Fachlichkeit“ eine „unhintergehbare Voraussetzung für gelingende“ politische Bildungsprozesse dar (Gloe/Oeftering 2020: 14). Eine fachübergreifende Thematisierung könne der Komplexität politischer und gesellschaftlicher Themen nicht gerecht werden. Hierfür sei ein wissenschaftlich fundierter Fachunterricht notwendig (ebd.; Detjen 2015).
Diese Argumente sollten aber nicht davon ablenken, dass politische Bildung für die gesamte Schule als Querschnittsaufgabe und im Kontext der demokratischen Schulentwicklung und Schulkultur wichtig ist. Nicht zuletzt können Themen der politischen Bildung in allen anderen Disziplinen aufgegriffen (Achour/Wagner 2019) und damit „lebensweltliche Anknüpfungspunkte“ hergestellt werden (Ammerer 2020: 27). Ammerer (2020) geht noch einen Schritt weiter und argumentiert, dass andere Fächer gesellschaftlich wichtige Themen teils sogar besser behandeln können:
„Sportunterricht thematisiert beispielsweise weitaus kompetenter Fragen von Kooperation und Wettbewerb, Doping und Fairness, der politischen Dimension internationaler Großveranstaltungen und politischer Gesten bei Fernsehübertragungen; altsprachlicher Unterricht beleuchtet frühe Staatstheorien, lebende Fremdsprachen schöpfen aus der Fülle der politischen Konflikte jener Länder, in denen sie gesprochen werden […]“ (ebd.: 26).
In der Empirie zeigt sich allerdings, dass beispielsweise demokratiebezogene Inhalte nur ansatzweise in anderen Fächern aufgegriffen und unterrichtet werden (Achour/Wagner 2019). Aus der Vorstellung, politische Bildung in andere Fächer zu integrieren, lässt sich die Notwendigkeit ableiten, alle angehenden Lehrkräfte (aller Disziplinen und Schulformen) in politischer Bildung auszubilden, was derzeit beispielsweise im Bundesland Sachsen der Fall ist. Darüber hinaus ist die systematische Fortbildung aller praktizierenden Lehrkräfte in Fragen der politischen Bildung zentral (Schedler et al. 2019), um ihre Vertrautheit mit Themen wie u. a. Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit, Extremismusprävention, demokratische Schulkultur und Schulentwicklung sowie generell Demokratiebildung zu gewährleisten. Dazu zählt ebenfalls, dass alle Lehrkräfte und Schulleitungen wissen, wie sie pädagogisch sowie entsprechend der rechtlichen Vorgaben handeln dürfen, können und müssen – beispielsweise, wenn sie in Schulen mit menschenfeindlichen, extremistischen, demokratiefeindlichen oder diskriminierenden Aussagen konfrontiert werden. Eine fundierte Ausbildung, um in entsprechenden Situationen angemessen zu reagieren, ist wichtig und gibt Lehrkräften zudem Sicherheit.
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1 Das vorliegende Buch verwendet die Großschreibung „Politische Bildung“, wenn das Schulfach Politische Bildung gemeint ist, und die Schreibweise „politische Bildung“, wenn das Themenfeld bezeichnet wird.
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