Fußball als Religion

FuG – Zeitschrift für Fußball und Gesellschaft 2-2022: Fußball – eine Weltreligion im 21. Jahrhundert

Fußball – eine Weltreligion im 21. Jahrhundert

Markwart Herzog

FuG – Zeitschrift für Fußball und Gesellschaft, Heft 2-2022, S. 77-92.

 

Zusammenfassung: Der vorliegende Beitrag vertritt die These, dass Fußball eine Religion sei. Diese Auffassung teilt er beispielsweise mit den Historikern Nils Havemann (2013: 343–352) und Moshe Zimmermann (2014; vgl. Herzog 2014b).1 Zur Begründung der These ruft das erste Kapitel zunächst frühe Wortmeldungen in Erinnerung, die in diese Richtung weisen, unter anderem von Hans Seiffert, Siegfried Salomon und vor allem von Walther Bensemann. Nach einigen begriffsstrategischen Überlegungen werden neun Dimensionen untersucht, die in der Fußballreligion und anderen Religionen anzutreffen sind. Dabei geht es nicht um Analogien, sondern um Schnittmengen zwischen populärer und traditioneller Religion. Ein Resümee bringt diese Dimensionen auf den Nenner der Kontingenzbewältigung. Damit soll deutlich werden, dass Fußball zahlreiche Leistungen erbringt wie andere Religionen und deshalb mit guten Gründen zu diesen gezählt werden kann.

 

1 Walther Bensemann: Kriegstotengedenken und Sport-Religion

Der in den meisten Ländern der Welt überaus populäre Sport Fußball – als physische Praxis auf dem Platz, als Veranstaltungsformat des Freizeitkonsums und soziale Organisationsform – hat spätestens im ersten Viertel des 21. Jahrhunderts den Kurs eingeschlagen, sich zu einer Religion zu entwickeln, mit anderen Religionsgemeinschaften zu konkurrieren, aber auch zu kooperieren (dazu die diesbezüglichen Beiträge Gugutzer und Böttcher 2012). Tatsächlich sprechen zahlreiche Beobachtungen insbesondere auf dem Feld der Memorial- und Funeralkultur dafür. Was den Fußballsport ebenso wie die Olympischen Spiele der Neuzeit (Coubertin 1949: 13) betrifft, so ist diese Auffassung keineswegs neu. Die von Hans Seiffert (1932) noch ironisch formulierte Vision vom Sport als „Weltreligion des 20. Jahrhunderts“ ist längst eine gesellschaftliche Realität, mit der es insbesondere den Anhängern der einzelnen Clubs bitter ernst ist. Der deutsch-jüdische Pionier des Fußballspiels und des Sportpressewesens Walther Bensemann, ‚Vater‘ zahlreicher deutscher Fußballvereine und Gründer der Fachzeitschrift Der Kicker, sah das ähnlich: „Der Sport ist eine Religion, ist vielleicht heute das einzige wahre Verbindungsmittel der Völker und der Klassen; seinem Gehalt nach national, seiner Form nach volksverbindend“ (Bensemann 1930).

Diese These wird im Internet und in der Fan-Literatur häufig kolportiert und immer wieder abgeschrieben – offensichtlich ohne Kenntnis des Originaltextes. Denn dessen Wortlaut wird nie richtig, immer ohne Nennung des Titels, ohne präzise Quellenangabe und aus dem Zusammenhang gerissen zitiert. Deshalb wurde in keiner bisher erschienenen Publikation, die sich darauf bezieht, jener totenkultische Kontext genannt, aus dessen Anlass heraus Bensemann die Aussage traf. Seine Religionsthese ist aufs Engste verbunden mit dem Schützengrabenerlebnis des Ersten Weltkriegs, dem bürgerlichen Gräberkult und der Bewunderung von „Tapferkeit und Opfersinn“ (Bensemann 1930) der Frontsoldaten. Dabei bezog er sich auf das feierliche Gedenken der Kriegstoten im Rahmen der IV. Internationalen Meisterschaften der Studenten (Studenten-Olympiade oder Universiade) in Darmstadt, die im August 1930 mitsamt einer emotional erhebenden Fahnenweihe im dortigen Hochschulstadion am Lichtwiesenweg ausgetragen wurde (zur Trauerfeier Gläser 1930).

Der ungekürzte Abschnitt über die Sport-Religion in diesem in der Fachzeitschrift Der Kicker unter der Überschrift „Darmstadt. In memoriam“ (Bensemann 1930) veröffentlichten Aufsatz lautet wie folgt:

Der Sport ist eine Religion, ist vielleicht heute das einzige wahre Verbindungsmittel der Völker und der Klassen; seinem Gehalt nach national, seiner Form nach volksverbindend. Am besten haben das die begriffen, die nicht mehr aus dem Kriege zurückkehrten, und wir wissen, daß eine große Geisterarmee segnend über den Bannern schwebte, die sich in Darmstadt über der symbolischen Grabstätte der Gefallenen senkten. Hätte in jenem schönen und freundlichen Stadion kein Wettkampf stattgefunden, dann würde sich doch der Aufmarsch jener Tausendschaft aus 30 Ländern gelohnt haben, nur jener weihevollen Stunde wegen, in der junge, lebenssprühende und intelligente Bürger der großen europäischen Hochschulen der gemeinsamen Bewunderung von Tapferkeit und Opfersinn huldigten. Diese Fahnenweihe hatte nichts kitschiges [sic!] an sich. Sie war schlicht und erhebend.

Bensemann formulierte seine These vom Sport als Religion im Kontext eines von Athleten aus 33 Nationen Europas zelebrierten Gedenkens der Gefallenen des Ersten Weltkriegs. Die Beteiligung der Bevölkerung an allen Einzelveranstaltungen war enorm groß; teilweise reichten die Kapazitäten des neuen Stadions kaum aus. In den sportlichen Wettbewerben errangen die deutschen Athleten „den Gesamtsieg in der Mannschaftswertung“ (Buss 1975: 90).

Was Bensemann ausblendet, ist der ausgesprochene Fußballfanatismus, der bereits zu seiner Zeit grassierte. Für die Intensität der Anhänglichkeit an den eigenen Verein und die daraus entspringenden, teils sehr destruktiven Verhaltensweisen hat sich der vom lateinischen fanum (Tempel, Heiligtum, heiliger Bezirk etc.) abgeleitete Terminus „Vereinsfanatismus“ eingebürgert. Gewiss verbindet der Fußball die gesellschaftlichen Schichten und Klassen eines Landes, etwa durch die Identifikation mit der Nationalmannschaft, vielleicht auch die Völker Europas bei internationalen Wettbewerben, aber in der Konkurrenz der Vereinsmannschaften auf dem grünen Rasen und deren Anhängerschaften auf den Rängen manifestiert er sich oft nicht als soziales Verbindungs-, sondern als Trennungsmittel. Rohe Gewalt in den Stadien und die fehlende Bereitschaft der Spieler und Funktionäre, Entscheidungen des Schiedsrichters oder der Sportgerichte zu akzeptieren, war damals weitaus virulenter als heute im westeuropäischen Fußball des 21. Jahrhunderts (Oswald 2008: 211–299). Es galt die Devise „Erfolg um jeden Preis!“

Siegfried Salomon, ein Mannschaftsarzt und Multifunktionär des FSV Frankfurt, der unter anderem Schriftleiter des Mitgliedermagazins und verantwortlich für die Presse- und Öffentlichkeitsarbeit war, führte bittere Klage über rohes Spiel, das auf nichts anderes abziele, als den Gegner „kampfunfähig“ zu machen. Zudem distanzierte er sich aus sportärztlicher Sicht von dem damaligen Spielsystem, das den Spitzenmannschaften, auf Kosten der Gesundheit der Spieler, zu viele Begegnungen zugemutet habe (Salomon 1926). Vor diesem Hintergrund kritisierte er, dass „die mächtige Ausbreitung des Sportgedankens in der ganzen Welt den Menschen geradezu als ein Erlöser“ (Salomon 1927: 5) erscheine. Das ging Salomon zu weit. Aus seiner Perspektive diente der Sport vielmehr einem ganz profanen Ethos, insbesondere der Erziehung zu Unterordnung und Gemeinsinn, er beuge den Lastern des Konsums von Alkohol, Nikotin und Sex vor, sei generell eine Vorübung für den beruflichen Lebenskampf und die Entbehrungen, die er mit sich bringe (Salomon 1927).

2 Terminologische Weichenstellungen

Der vorliegende Beitrag verzichtet darauf, einen wissenschaftstheoretisch ausgefeilten Begriff der Religion zugrunde zu legen. Je nach akademischer Disziplin sind die Definitionen nämlich Legion. Noch nicht einmal jene Fachrichtung, deren Bezeichnung nahelegt, dass sie es eigentlich wissen müsste, die Religionswissenschaft, kann weiterhelfen, kennt sie doch eine unüberschaubare Vielfalt von Begriffen und Definitionen von „Religion“ (dazu bspw. Stietencron 1993; Hildebrandt und Brocker 2008; Antes 1978; Antes 2004).

Auch die Theologie vermag keine Orientierung zu bieten, es sei denn, man entscheidet sich für eine der vielen miteinander konkurrierenden Begriffsbestimmungen. „Unterbrechung“ sei die kürzeste Definition von Religion, formulierte der 2019 verstorbene katholische Fundamentaltheologe Johann Baptist Metz. Unterbrechungen zögen sich wie ein roter Faden durch die Religionen: buddhistische Meditation, sonntäglicher Kirchgang, monastisches Chorgebet, jüdischer Sabbat, muslimischer Ramadan lassen innehalten, während der Sinn von Unterbrechung für Metz vor allem das Durchbrechen bürgerlicher Selbstzufriedenheit im Sinn der von ihm vertretenen politischen Theologie meinte (Metz 1981). Anders als der marxistische Philosoph Ernst Bloch, der in seinem Hauptwerk Das Prinzip Hoffnung auf die Dynamik eines Transzendierens ohne Transzendenz setzte, das die Geschichte der Menschheit vorantreibe, war Hoffnung für Metz ein Transzendieren mit Transzendenz: ein Überschreiten in das Reich eines jenseitigen Gottes, der aber zugleich immer schon präsent sei. Andere Richtungen kirchlicher Theologie, wie im Protestantismus vor allem die Dialektische Theologie, sahen in den Religionen dagegen reines Menschenwerk, ein der Offenbarung im Wort Gottes diametral entgegengesetzt Anderes (dazu bspw. Brück 1979: 27–45).

Methodisch verlässt der vorliegende Beitrag den Binnenraum dieser theologisch-kirchlichen Kontexte; er schließt stattdessen an Hubert Knoblauchs sozialwissenschaftliches Konzept „populärer Religion“ an, das auch kulturelle Phänomene wie die Verehrung von Filmschauspielern, Kunstmalern und Musikern sowie von Politikern umfasst. Hierbei handelt es sich um Manifestationen der Kunstreligion und der politischen Religion, deren Anhänger in bestimmten Künstlern und Politikern verehrungswürdige ethische Vorbilder oder machtvolle Retter erblicken. Knoblauchs Konzept folgend, setzt dieser Beitrag einen „entgrenzten breiteren Begriff der Spiritualität“ voraus und erkennt im Fußballsport eine populäre Religion, die eine „Schnittmenge zwischen populärer Kultur und Religion“ bildet (Knoblauch 2009: 79; Knoblauch 2012).

Nachfolgend werden in diesem Sinn neun Dimensionen genannt, die sich in den meisten, „Religion“ genannten gesellschaftlichen Subsystemen finden lassen dürften: Gemeinschaft und Vergemeinschaftung (keiner ist allein für sich religiös), Ritual, Heiligenverehrung und Reliquienkult, Ethos und Moral, Orientierung und Sinnstiftung, Erinnerungskultur, Toten- und Bestattungskult, Welterklärung, Wallfahrtswesen. Diese Dimensionen lassen sich zusammenfassend, als Resümee, auf den Nenner „Kontingenzbewältigung“ bringen.

1 Der Verfasser des vorliegenden Beitrags bezog in früheren Publikationen eine andere Position (Herzog 2002: 23–32). Als ehemaliger Mitarbeiter von Wolfhart Pannenberg am Institut für Fundamentaltheologie und Ökumene der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität stand er damals noch unter dem Eindruck eines theologisch geprägten Religionsbegriffs. Kritik von Nils Havemann und Gespräche mit ihm und Moshe Zimmermann (Herzog 2014b) veranlassten ihn zu einer Kurskorrektur.

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