Ambivalente Verstrickungen – elterliche Positionierungen im Schulkontext zwischen ökonomisierten Rationalitäten, Elternschaftsnormen und Machtverhältnissen
Oxana Ivanova-Chessex
Diskurs Kindheits- und Jugendforschung / Discourse. Journal of Childhood and Adolescence Research, Heft 2-2022, S. 167-179.
Zusammenfassung
Anhand von Ausschnitten aus einer biographischen Fallrekonstruktion beleuchtet dieser Beitrag brüchige Aushandlungen von Eltern mit der Schule im Kontext institutionell vermittelter ökonomisierter Rationalitäten, Elternschaftsnormen und Machtverhältnisse. Gefragt wird, wie Eltern in die normierten und ökonomisierten Verhältnisse in Bildungskontexten verstrickt werden und wie sie sich zu den an sie normativ herangetragenen Erwartungen und Anrufungen verhalten. Die Analyse verdeutlicht machtvolle Effekte der schulisch wirksamen Normen und Leistungserwartungen des ökonomisierten Bildungswesens und zeigt auf, wie diese normativen Kontexte und Machtverhältnisse elterliche Subjektivitäten und Handlungsspielräume bei der Zusammenarbeit mit Schule ordnen.
Schlagwörter: Eltern, Schule, Ökonomisierung, Elternschaftsnormen, Machtverhältnisse, Subjektivierung, Biographieforschung
Ambivalent entanglements – parental positionings in the school context between economised rationalities, parenting norms and power relations
Abstract
Based on excerpts from a biographical case reconstruction, this contribution sheds light on parents’ fragile negotiations with school in the context of institutionally mediated economised rationalities, parenting norms and power relations. How do parents become involved in the normed and economised relations in educational contexts? How do they refer to normative expectations and interpellations? The analysis illustrates the powerful effects of norms and achievement expectations which become relevant in the economised education system and shows how these normative contexts and power relations regulate parental subjectivities and their scope of action with regard to a cooperation with school.
Keywords: Parents, school, economisation, parenting norms, power relations, subjectivation, biographical research
1 Einleitung1
Verschiebungen im Verhältnis zwischen privater und öffentlicher Verantwortung (Richter & Andresen, 2012) rücken elterliches Handeln in den Fokus des Bildungsgeschehens. Der Topos der partnerschaftlichen Kooperation gewinnt dabei zunehmend an Bedeutung und wird sogar zu einem normativen Imperativ, wenn es darum geht, das Verhältnis von Eltern und Schule zu konzeptualisieren. Die damit verbundene Semantik einer horizontalen egalitären Beziehung wird jedoch vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Ungleichheiten (Betz et al., 2017; Lareau & Cox, 2011; Vincent et al., 2012) sowie des spannungsvollen kooperierend-konkurrierenden Verhältnisses zwischen Professionellen und Eltern (Jergus, 2019) in einigen empirischen Beiträgen wiederholt hinterfragt. In diesen meist machttheoretisch ausgerichteten Analysen kann aufgezeigt werden, dass das Verhältnis zwischen Familie und Schule als durch vielfältige institutionelle Rahmenbedingungen und gesellschaftliche Normen- und Machtverhältnisse vorstrukturiert zu betrachten ist. So markieren die Ökonomisierung des Bildungswesens (Hartong et al., 2018; Höhne, 2015) sowie die Orientierung pädagogischer Institutionen an hegemonialen Familiennormen (vgl. Chamakalayil et al., 2021; Ivanova-Chessex, 2020) lediglich einige die Zusammenarbeit von Eltern und Schule ordnende Kontexte: Die Rationalitäten des Marktes – ökonomisierte Wissensbestände, Selbst- und Regierungstechniken – strukturieren das Schulwesen und bringen „neue auf Eltern gerichtete Aktivierungspolitiken“ (Roch, 2020, S. 196) hervor. Eltern sollen sich aktiv für die Bildungsverläufe ihrer Kinder einsetzen und werden als für Bildungs(miss-)erfolge individuell Verantwortliche adressiert (Jergus, 2018; Kollender, 2020).
Aktivierende und responsibilisierende Anrufungen wirken mit hegemonialen Familien- und Elternschaftsnormen verschränkt. Dabei handelt es sich um jene Normen, entlang denen zwischen den ‚gut- und schwererreichbaren‘, ‚interessierten oder uninteressierten‘, ‚bildungsnahen oder bildungsfernen‘ Eltern unterschieden wird oder mit denen das elterliche Handeln als (nicht) sinnvoll, (un-)angemessen und/oder bildungs(in-)kompetent klassifizierbar wird. Zu gesellschaftlichen Machtverhältnissen (bspw. Rassismus, Klassismus, Heteronormativität oder Ableismus) relationierte Bilder einer ‚Normalfamilie‘, die „implizit als bürgerlich, weiß, heterosexuell, cisgeschlechtlich, monogam, sesshaft, gesund und leistungsfähig konzeptualisiert und z.T. naturalisiert wird“ (Fitz-Klausner et al., 2021, S. 7), strukturieren schulische Erwartungen an und Vorstellungen von einer ‚guten Elternschaft’ und einem ‚(erziehungs-)erfolgreichen‘ elterlichen Handeln. Sie ordnen auch einen diskursiven Rahmen mit, in dem sich Eltern in doing- und displaying-Prozessen (Finch, 2007; Morgan, 2011) als Bildungsakteur*innen hervorbringen.
Wie sind Eltern in diese normierten und ökonomisierten Verhältnisse in Bildungskontexten verstrickt? Wie gestalten sich ihre Spielräume bei der Zusammenarbeit mit Schulen? Welche Positionierungsprozesse finden dabei wie statt? Anhand von Ausschnitten aus einer biographischen Fallrekonstruktion beleuchtet dieser Beitrag fragile Aushandlungen von Eltern mit der Schule im Kontext von institutionell vermittelten ökonomisierten Rationalitäten, Elternschaftsnormen und Machtverhältnissen. Die Grundlage für die nachfolgende Analyse stellt ein vom Schweizerischen Nationalfonds gefördertes Forschungsprojekt „Eltern und Schule im Kontext gesellschaftlicher Ungleichheitsverhältnisse“ (Projektnummer: 175816) dar, in welchem Elternperspektiven auf Schule unter Berücksichtigung der subjektivierungstheoretischen Biographieforschung (Rose, 2019; Spies, 2019) analysiert werden. Nach einer Annäherung an die Bedeutung ökonomischer Logiken für das Verhältnis von Eltern und Schule (2) und einer Erläuterung der methodischen Vorgehensweise (3) wird an einem empirischen Beispiel aufgezeigt, wie sich Eltern vor dem Hintergrund ökonomisierter Rationalitäten und dominanter Elternschaftsnormen für die Bildung ihrer Kinder einsetzen und welche Widersprüchlichkeiten dabei zum Tragen kommen (4). Abschließend werden ambivalente Verstrickungen des elterlichen Handelns im Schulkontext sowie die Brüchigkeit des Partnerschaftsimperativs reflektiert (5).
Ökonomische Logiken im Kontext der Zusammenarbeit von Eltern und Schule – theoretische Verortung und Stand der Forschung
Wissensformationen, Selbsttechniken und Machtpraktiken kapitalistischer Ökonomie durchdringen viele Sphären des Sozialen und werden auch in der Schule hegemonial wirksam (Hartong et al., 2018; Höhne, 2015). Mit einer subjektivierungs- und gouvernementalitätstheoretischen Perspektivierung wird die Ökonomisierung des Schulwesens – seine Vermarktlichung, Orientierung an Effizienz, Leistung und Wettbewerb – analytisch greifbar. Die ökonomischen Logiken zeigen sich beispielsweise in einer allgemeinen humankapitalistischen Ausrichtung, die „auf eine ständige durch Bildung zu erhöhende Qualität jedes Einzelnen und der Bevölkerung insgesamt zielt“ (Höhne, 2015, S. 15). Schule kann deshalb mit Butler (2014) als eines der staatlichen Projekte verstanden werden, das „Subjekte zu (re-)produzieren sucht, die für die Nation und die weitere hegemoniale ökonomische Ordnung tauglich sind“ (S. 187). In diesem Kontext werden „Mobilisieren“ und „Optimieren“ zu zentralen Prinzipien (Bröckling & Peter, 2014), in denen die „Aktivierungsrhetorik“ und das „Gebot kontinuierlicher Verbesserung“ (Bröckling, 2002, 24) als wichtige Leitmotive fungieren. Das Handeln von Bildungsakteur*innen – sowohl von Schüler*innen und Eltern als auch von Lehrpersonen und pädagogisch Tätigen – steht „unter dauerhaftem Qualitätsvorbehalt“ (Höhne, 2015, S. 15): Leistung und Erfolg werden zum Selbstzweck, zur Messlatte des Handelns von Individuen und hierdurch zu einer individuellen (und nicht strukturellen) Herausforderung (Höhne, 2015, S. 13). Bröckling (2007) spricht in diesem Zusammenhang von einem „Regime des Selbst“, das „den Einzelnen antreibt, an sich zu ‚arbeiten‘ und Verantwortung für sein Leben zu übernehmen“ (S. 61) sowie ein normatives Bild eines sich selbst, die eigene Leistung, den eigenen Marktwert optimierenden und den eigenen Wohlstand maximierenden Subjekts hervorbringt. Diese Responsibilisierung der Einzelnen und die damit einhergehende Aktivierung der Selbststeuerungspotenziale wird zu einer treibenden Kraft der unaufhörlichen Optimierungsprozesse mit dem eigentlich unerreichbaren Ziel, sich so zu verändern, dass ein Zustand der Vollkommenheit, der Norm und des Ideals erlangt wird.
Roch (2020) verweist in ihrer Studie darauf hin, dass sich das „biopolitische Interesse an einer optimierten Produktivität aller Gesellschaftsmitglieder“ insbesondere in der „Optimierung des Aufwachsens von Kindern“ (S. 196) manifestiert. Gesetzt wird demzufolge auf den Erwerb und Erhalt von Humankapital, was dazu führt, dass Bildung zunehmend als ein elterliches Investitionsprojekt aufgefasst wird. Verbunden mit der diskursiven Verlagerung der Bildungsrisiken von Strukturen in den familialen Verantwortungsbereich kumuliert sich der Druck auf Eltern, als kooperative und eigenverantwortliche Subjekte zu agieren und sich den kinderbezogenen Bildungserfolg über das eigene Erziehungshandeln ‚verdienen‘ zu müssen (Kollender, 2020, S. 20). Komplexe Kontexte, in denen sich Eltern bewegen, werden als eine Verschränkung von ökonomisierten Zugriffen (bspw. Wettbewerb, Leistung, Qualität und Effizienz, individualisierte Verantwortung) und pädagogisierten Anrufungen (bspw. Aktivierung der Selbstoptimierung und Elternbildung) konzeptualisiert (Jergus et al., 2018, S. 9-10). So wird in empirischen Studien herausgearbeitet, wie Eltern in ökonomisierten Zugriffen als Bildungsverantwortliche (Jergus, 2018), als ‚Partner*innen‘ und ‚Kund*innen‘ (Killus & Paseka, 2016; Olmedo & Wilkins, 2016) und zugleich als „Expert_innen wie auch als Lieferant_innen ‘guter Kindheit’“ adressiert werden (Jergus et al., 2018, S. 6; siehe auch Killus & Paseka, 2016). Durch diese Anrufungen werden Selbst-Welt-Verhältnisse erzeugt, in denen Eltern eine individuelle Verantwortung für Bildungs- und Lebensverläufe sowie für Bildungsrisiken ihrer Kinder zugeschrieben wird (Kollender, 2020, S. 57-58; Oelkers, 2015; Vincent, 2017). Hierdurch werden Abweichungen von normalisierten Bildungsverläufen diskursiv weniger über strukturelle Mängel der Institutionen, sondern über einen Mangel von Willen, Wissen oder Aspirationen von Individuen oder Familien erklärbar (Vincent & Maxwell, 2016, S. 274). Elterliche Praktiken werden in diesem Kontext einem Leistungs- und Erfolgsdruck ausgesetzt, der sich an den Vorstellungen dessen orientiert, was als eine wirtschaftlich sinnvolle und kompetente elterliche Praxis im Bildungsbereich verhandelt wird, das heißt auch, was den Kindern einen Vorteil auf dem Bildungs- und Arbeitsmarkt verschafft. Elternschaft wird als eine kompetitive Praxis beschrieben (Heimerdinger, 2013), die zuweilen an den vergleichbaren Standards wie die pädagogisch-professionelle Praxis gemessen wird (Jergus et al., 2018). Wie Elternbefragungen und qualitative Studien seit Jahren festhalten, erzeugt dies einen Druck (Merkle & Wippermann, 2008), das Gefühl der Erschöpfung (Oelkers, 2012), Überforderung und Ungewissheit (Roch, 2020, S. 198) auf elterlicher Seite. Einen weiteren Effekt dieser ökonomisierten Zugriffe stellen sich verschärfende Bildungsungleichheiten dar, denn – wie empirisch aufgezeigt wird – stehen Familien ungleiche Möglichkeiten zur Verfügung, sich zu den ökonomisierten Anrufungen und Normalitätserwartungen in Bildungsinstitutionen zu verhalten (Kollender, 2020; Vincent et al., 2012).
In pädagogisierten Anrufungszusammenhängen stehen Eltern unter einer kontinuierlichen (Selbst-)Beobachtung und einem (Selbst-)Optimierungszwang. Eine diskursive Zuschreibung der Bildungsverantwortung trifft sich mit dem neoliberalen Prinzip der ‚Führung zur Selbstführung‘ und entwickelt sich zu einer marktlogischen Optimierung der eigenen Erziehungsleistung, auch mit dem Zweck der Optimierung der Bildungsbiographien der Kinder (Jergus et al., 2018, S. 4). Im Schulkontext orientiert sich diese Optimierung auch an einer Herstellung oder Aufrechterhaltung von ,optimalen‘ Passungsverhältnissen zwischen Kindern und Schule (Busse & Helsper, 2008), denn dies ist eine Konstellation, die in ökonomisierten output- und effizienzorientierten Bildungszusammenhängen Erfolg verspricht. Eine abweichende Passung hingegen geht nicht selten auch mit einer Disqualifizierung spezifischer elterlicher Praktiken und Erziehungsleistungen einher (Jergus et al., 2018, S. 9).
1 Für ihre differenzierten und hilfreichen Anregungen zu diesem Text danke ich herzlich Lalitha Chamakalayil, Fabienne Kaiser, Debora Niermann sowie den Gutachter*innen und Herausgeber*innen.
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