Covid-19-Mortalität: „Demokratie-Vorteil“ gegenüber Autokratien?

GWP – Gesellschaft. Wirtschaft. Politik 3-2022: Covid-19-Todesfälle in Demokratien und Autokratien. Eine Bilanz nach zwei Jahren Corona-Pandemie

Covid-19-Todesfälle in Demokratien und Autokratien. Eine Bilanz nach zwei Jahren Corona-Pandemie

Manfred G. Schmidt

GWP – Gesellschaft. Wirtschaft. Politik, Heft 3-2022, S. 299-310.

 

Zusammenfassung
Die Corona-Pandemie trifft alle Länder – wenngleich mit großen Unterschieden. In manchen Staaten ist die Covid-19-Mortalität relativ zur Bevölkerungsgröße niedrig, wie in China, in anderen hoch, etwa in den USA. Gilt dieser Unterschied auch für Demokratien und Autokratien insgesamt? Diese Frage leitet den vorliegenden Beitrag. Er basiert vor allem auf Daten der Johns Hopkins University zu den Covid-19-Todesfällen per eine Million Einwohner in 173 Staaten von 1.1.2020 bis 31.12.2021. Diese Zahlen widersprechen der Lehre vom „Demokratie-Vorteil“. Vielmehr ist die Covid-19-Mortalität in den Autokratien insgesamt niedriger als in den Demokratien. Die Demokratien können allerdings mildernde Umstände geltend machen. Einige von ihnen konnten die Covid-19-Todesfälle niedrig halten. Ermittelt man die Todesfallzahlen anhand der Überschuss-Mortalität laut WHO und anderen Experten, gibt es keinerlei Zusammenhang zwischen der Covid-19-Mortalität und dem Demokratie-Autokratie-Indikator. Doch insgesamt wirft die Corona-Pandemie einen Schatten auf die Lehre vom generellen „Demokratie-Vorteil“ gegenüber den Autokratien.

 

Seit Anfang des Jahres 2020 wütet die Corona-Pandemie. Sie fordert weltweit große Verluste. Grundrechtseinschränkungen, Ausgangsbeschränkungen, Kontaktbegrenzungen, Schließung wirtschaftlicher und kultureller Einrichtungen sowie Abriegelung von Schulen, Hochschulen, Betrieben, Städten, Regionen und Ländern sind ebenso zu bedenken wie die Beeinträchtigung der Ausbildung, Belastungen, oft auch Überforderungen des Alltagslebens, Einkommenseinbußen und Schrumpfungen der Wirtschaft. Zur Schadensbilanz gehören unwiederbringliche Verluste – allen voran Millionen Covid-19-Todesfälle.1 Ende Dezember 2021, zwei Jahre nach dem Beginn der Pandemie, hat die Johns Hopkins University weltweit 5.440.000 coronabedingte Todesfälle registriert2 – eine vermutlich erheblich unterschätzte Zahl, weil etliche Spezialstudien bis zu dreifach höhere Sterblichkeitszahlen geschätzt haben.3 Die Corona-Pandemie trifft alle Staaten – allerdings mit großen Unterschieden. Für den Vergleich sind die nach Bevölkerungsgröße standardisierten Mortalitätszahlen besonders nützlich, beispielsweise die Zahl der Covid-19-Todesfälle per 100.000 oder eine Million Einwohner.

In Deutschland wurden Ende 2021 1.336 Corona-Todesfälle pro 1 Million Einwohner gezählt, seit Anfang 2020 insgesamt 121.000 laut Johns Hopkins University. Damit lag Deutschland in der Mitte zwischen Staaten mit sehr hoher und niedriger Corona-Mortalität. Besonders hohe Mortalitätsraten verzeichneten Peru und viele mittel- und osteuropäische Länder. Andernorts war die Covid-19-Mortalität laut Johns Hopkins University viel geringer als hierzulande: in Australien, Neuseeland, Südkorea und Taiwan beispielsweise, sowie in vielen Autokratien, unter ihnen China, Saudi-Arabien und Singapur.

1 Demokratie-Autokratie-Vergleich

Diese Zahlen werfen die Frage auf, ob Demokratien und Autokratien sich bei der Corona-Bekämpfung unterscheiden – und wenn ja: wie. Der herrschenden Meinung in den westlichen Ländern zufolge sind die Demokratien den Autokratien überlegen. Trotz ihrer Mängel überträfen sie alle anderen Staatsformen. Sie sorgten für Freiheit, höheren Wohlstand und Frieden, so die Lehre vom „Demokratie-Vorteil“4. Doch gilt der Demokratie-Vorteil auch bei der Bekämpfung der Corona-Pandemie und insbesondere bei tödlichen Folgen der Infektion mit dem Coronavirus?

Von diesen Fragen handelt der folgende weltweite Vergleich von Demokratien und Autokratien.5 Verglichen werden die 173 Staaten,6 für die Corona-Todesfallzahlen der Johns Hopkins University und die Einstufung ihres politischen Regimes durch das Varieties of Democracy-Forschungsprojekt7 vorliegen.

Varieties of Democracy unterscheidet zwei Spielarten der Demokratie – „liberale“ und „elektorale Demokratien“ – und zwei Varianten der Autokratie: „elektorale“ und „geschlossene“.8 „Liberale Demokratien“ sind gewissermaßen Demokratien der „A-Klasse“. Man erkennt sie an fairen, inklusiven Wahlen, einer funktionierenden Opposition, Gewaltenteilung und verfassungsstaatlicher Zügelung der Legislative, Exekutive und Judikative. „Elektorale Demokratien“ sind demgegenüber Demokratien der „B-Klasse“. Sie haben ebenfalls Wahlen, doch schwächeln die Schutz- und Abwehrrechte ihrer Bürger, mitunter auch die Freiheitsgrade der Opposition, die Gewaltenteilung und rechtsstaatliche Regelungen.

„Elektorale Autokratien“, der dritte Regimetyp, sind autoritäre Regime, in denen Wahlen stattfinden. Doch die Wahlen sind mehr oder minder defekt. Die Opposition und die Medien werden vom herrschenden Machtblock überwacht, drangsaliert, unterdrückt und verfolgt. Im vierten Regimetyp, der „geschlossenen Autokratie“ oder „Hardline-Autokratie“9 spielen Wahlen und Opposition keine nennenswerte Rolle.

Die Staatsgewalten sind gleichgeschaltet und Freiheits- und Abwehrrechte der Bürger existieren nur auf dem Papier. „Geschlossene Autokratien“ ähneln am ehesten dem totalitären Regime der Totalitarismustheorie von Friedrich/Brezinski (1974a und 1974b).

Varieties of Democracy klassifizierte 2020 31 der 173 Staaten der vorliegenden Untersuchung als „liberale Demokratien“ und 2021 3410 – unter ihnen Deutschland und die meisten Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Als „elektorale Demokratien“ galten 2020 56 Länder und 2021 54 (unter ihnen Tschechien und Polen). Von den autoritär regierten Staaten waren 2020 61 „elektorale Autokratien“ und 2021 56 (unter ihnen Indien, die Türkei und Russland). Die Zahl der „geschlossenen Autokratien“ (unter ihnen China und Saudi-Arabien) betrug 2020 25 und 2021 29.11

2. Covid-19-Todesfälle in Demokratien und Autokratien

Die Zahl der Covid-19-Todesfälle lag laut Johns Hopkins University im Durchschnitt der hier berücksichtigten 173 Staaten im Zeitraum vom 1.1.2020 bis 31.12.2021 bei 979 pro eine Million Einwohner. Am höchsten war die durchschnittliche Covid-19-Mortalität in der Gruppe der „elektoralen Demokratien“ mit 1.570 Todesfällen pro eine Million.12 An zweiter Stelle folgten die „liberalen Demokratien“ mit durchschnittlich 1.185 Todesfällen pro eine Million. Erheblich geringere Mortalität berichtete die Johns Hopkins University über die Autokratien. In der Gruppe der „elektoralen Autokratien“ belief sich der Mittelwert auf 571 und in den „geschlossenen Autokratien“ auf 378 Covid-19-Todesfälle pro eine Million Einwohner.

Genauere Einblicke in die Demokratie- und Autokratiewirkungen gibt die Korrelation des Liberal Democracy Index13 – ein Demokratie-Autokratie-Indikator – mit der Zahl der Corona-Todesfälle pro eine Million Einwohner vom 1.1.2020 bis 31.12.2021. Der Korrelationskoeffizient beträgt r=0,42 (N=173).14 Der Koeffizient ist signifikant und besagt: Je höher der Liberal Democracy Index, desto höher der Demokratiegrad und desto tendenziell höher die Zahl der nach der Bevölkerungsgröße standardisierten Covid-19-Todesfälle. Niedrige Werte des Liberal Democracy Index, die eine Autokratie anzeigen, sind hingegen mit tendenziell geringeren Covid-19-Todesfallzahlen pro eine Million Einwohner verknüpft.

1 Covid-19 (von „coronar virus disease 2019“) ist der Name der Krankheit, die das Coronavirus (Virus SARS-CoV-2) hervorruft.
2 Quelle: Ritchie, Hannah et al. (2022): Coronavirus Pandemic (COVID-19). Published online at OurWorldInData.org Verwendet wurden ferner die Überschuss-Mortalitäts-Schätzungen von Kolinsky/Kobak (2021a, 2021b), COVID-19 Excess Mortality Collaborators (2022) (Abruf der Daten am 13.3.2022) und WHO (2022) (Abruf 5.7.2022).
3 Vgl. insbesondere Kolinsky/Kobak (2021a, 2021b), The Economist (2021), COVID-19 Excess Mortality Collaborators (2022) und WHO (2022). Siehe Abschnitt 3.2.
4 Halperin et al. (2010).
5 Dieser Beitrag aktualisiert und erweitert die bis 1.6.2021 bezogene Analyse der Covid-19 Mortalität in Demokratien und Autokratien in Schmidt (2022).
6 Die Liste der berücksichtigten Länder findet sich im Anhang.
7 Ihm wird aufgrund des größeren Untersuchungszeitraums und der Fülle der zur Messung der Regime herangezogenen Variablen der Vorrang vor anderen Regimeeinstufungen gegeben
8 V-Dem Institute 2022: 45.
9 Bertelsmann Stiftung (Hg.) (2022).
10 Den Zuwachs bewirkte der Aufstieg von Bhutan, Chile und Griechenland in den Kreis der „liberalen Demokratien“.
11 Der Zuwachs resultierte aus dem Wechsel zur „geschlossenen Autokratie“ in Afghanistan, Guinea, Mali, Myanmar und Tschad einerseits und Sambias Ausstieg aus dieser Gruppe andererseits (V-Dem Institute 2022: 46-47). Die folgende Auswertung erfasst die 173 Länder, zu denen für 2020 und 2021 Corona-Mortalitätszahlen und Messungen des Regimetyps gemäß V-Dem Institute (2021 und 2022) vorliegen.
12 Um die zeitliche Abfolge abzubilden, wurde die Regimeeinstufung der Länder für 2020 verwendet (V-Dem Institute 2021: 31-33).
13 Dieser Index ist ein Schlüsselindikator von Varieties of Democracy (V-Dem Institute 2021: 34-35, 2022: 46-47). Er misst – in Weiterführung von Dahl (1972) – den Demokratiegehalt der Staatsverfassung im weltweiten Vergleich. Als Kern der Demokratie gelten – wie bei Dahl – allgemeines Wahlrecht und faire, kompetitive Wahlen, Oppositions-, Meinungs- und Versammlungsfreiheit sowie verfassungsstaatlich geschützte Freiheits- und Abwehrrechte der Bürger. Der Liberal Democracy Index reicht vom Staat mit dem höchsten Demokratiegehalt (Maximum 1,0) bis zu den Ländern mit den niedrigsten Werten (Minimum 0,0), wie in den „geschlossenen Autokratien“.
14 Um die zeitliche Abfolge abzubilden, wurde der Liberal Democracy Index für 2020 verwendet.

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