Föderales Krisenmanagement in der Covid-19-Pandemie

dms – der moderne staat – Zeitschrift für Public Policy, Recht und Management 1-2022: Zusammenhalt im Bundesstaat? Bundesfreundliche und opportunistische Argumentationsstrategien in der Pandemie

Zusammenhalt im Bundesstaat? Bundesfreundliche und opportunistische Argumentationsstrategien in der Pandemie

Sabine Kropp, Christoph Nguyen, Antonios Souris

dms – der moderne staat – Zeitschrift für Public Policy, Recht und Management, Heft 1-2022, S. 20-41.

 

Zusammenfassung
Der Beitrag widmet sich den Argumentationsstrategien in der Debatte über das föderale Krisenmanagement in der Covid-19-Pandemie. Im Mittelpunkt steht die Frage, inwiefern die landespolitischen Akteure die bundesstaatliche Ordnung als Gelegenheitsstruktur in dieser Debatte für opportunistische Argumentationsstrategien nutzen oder im Sinne des bundesfreundlichen Verhaltens auf kooperative, solidarische Normen rekurrieren. Für die empirische Analyse wurden die Landtagsdebatten über 202 Regierungserklärungen und Unterrichtungen der Landesregierungen zwischen Februar 2020, als die ersten Covid-19-Infektionen in Deutschland registriert wurden, und der Bundestagswahl am 26. September 2021 inhaltsanalytisch kodiert und ausgewertet. Der Datensatz umfasst 4.360 kodierte Textstellen. Die Befunde veranschaulichen zum einen parteipolitische Unterschiede, die sich nicht nur auf den Gegensatz zwischen Regierung und Opposition zurückführen lassen. Zum anderen weisen die Daten darauf hin, dass die Normen des bundesfreundlichen Verhaltens – auch in der Krise und trotz der Wahlkämpfe – opportunistische Argumentationsstrategien einhegen, jedoch nicht verhindern, und ihre Wirksamkeit mit abnehmender Unterstützung der Eindämmungsmaßnahmen durch die Bevölkerung nachlässt.

 Schlagworte: Föderalismus, Covid-19, Opportunismus, bundesfreundliches Verhalten, Parteien

 

Federal Cohesion in Times of Crisis? Opportunism and Cooperation in State-Level Plenary Debates on Covid-19  

Abstract
This contribution focuses on the discursive strategies in the political debate on the federal management of the Covid-19 crisis in Germany. It scrutinizes the extent to which sub-national actors make use of federal structures to pursue opportunistic discursive strategies and how they refer to the cooperative, solidary norms of “comity” (Bundestreue). For the empirical analysis, the study draws on parliamentary debates in the 16 regional parliaments in Germany and analyzes which arguments the speakers use to legitimize the measures against Covid-19. The arguments are captured through a novel dataset that contains 4,360 statements made in 202 parliamentary debates between February 2020 and September 2021. The data reveal partisan differences that cannot be solely reduced to the government-opposition divide. The analysis shows that while norms of comity inherent in cooperative federalism can constrain opportunistic strategies, they do not prevent them – especially when the public support of the measures against Covid-19 declines. 

Keywords: Federalism, Covid-19, Opportunism, Comity, Political Parties

 

1 Föderalismus in der Krise?

Die Covid-19-Krise traf Deutschland im Februar 2020 im Wesentlichen unvorbereitet. Für die Regierungen in Bund und Ländern entwickelte sie sich schon bald zu einem Stresstest von ungeahnter Dauer und Intensität. Die bundesstaatliche Verteilung von Verantwortung auf viele Schultern erweist sich dabei als „Fluch und Segen“ zugleich. Sie erlaubt schnellere und passgenauere, weil dezentrale Lösungen, bietet den politischen Akteuren aber gleichzeitig einen institutionellen Rahmen, innerhalb dessen die Verantwortung hin- und hergeschoben und wechselseitig Schuldzuweisungen vorgenommen werden können. In Zeiten der Krise und bei hohem Problemdruck sind die Anreize, sich opportunistisch zu verhalten (Bednar, 2009) groß; der bundesstaatliche Zusammenhalt ist deshalb mühsamer zu organisieren. Covid-19 entwickelte sich somit rasch zu einer Bewährungsprobe für den Föderalismus selbst.

Im internationalen Vergleich rangiert der deutsche Bundesstaat unter den stark zentralisierten föderalen Systemen (Kaiser & Vogel, 2019). Auf die Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung trifft dieser Befund jedoch nur eingeschränkt zu. Als sich im März 2020 die erste Infektionswelle exponentiell aufzubauen begann, wurde deutlich, dass vor allem die Länder (einschließlich der Kommunen) für zentrale Maßnahmen zur Eindämmung der epidemischen Lage verantwortlich sind. Die ausschließlichen Zuständigkeiten der Länder umfassen das Versammlungsrecht, die Regelung von Ausgangssperren, das Gaststättenrecht, sowie die Schließung von Geschäften, Schulen und Universitäten, und damit einen Großteil des öffentlichen Lebens. Der Bund ist wiederum für Grenzschließungen und Einreisebestimmungen verantwortlich; im März 2020 zog er zudem durch eine Änderung des Infektionsschutzgesetzes1 (IfSG) Zuständigkeiten zur Beschaffung von Schutzgütern an sich. Während die Länder insbesondere kleine und mittlere Unternehmen, Kleinstunternehmen sowie (Solo-)Selbständige durch Hilfspakete stützten, sicherte die Bundesregierung zusätzlich den größeren Wirtschaftsbranchen umfassende Unterstützung und Überbrückungshilfen zu (Kropp & Schnabel, 2021, pp. 88-91).

Von Beginn der Pandemie an griffen Bund und Länder auf die eingespielten Verfahren bundesstaatlicher Koordinierung zurück (Kuhlmann, 2020; Schnabel & Hegele, 2021). Die Ministerpräsidentenkonferenz (MPK) – mit der Kanzlerin – avancierte dabei zur maßgeblichen Schnittstelle für die Absprachen zwischen Bund und Ländern (siehe Schnabel, Freiburghaus & Hegele in diesem Heft). Ungeachtet einiger Friktionen und landespolitischer Unterschiede gelang es Bund und Ländern während der ersten Infektionswelle zwischen März und Mai 2020, die Maßnahmen so zu koordinieren, dass im Bundesgebiet ein ähnliches Niveau des Gesundheitsschutzes gewährleistet werden konnte. Diese kooperative Grundhaltung änderte sich im Sommer 2020, als sich die Landesregierungen mit Lockerungsmaßnahmen nachgerade überboten. Die zweite schwere Infektionswelle, die sich ab September 2020 aufzubauen begann, war vom Zögern einiger Ministerpräsidenten2 und von wachsenden Konflikten geprägt, wobei der Kanzlerin eine mahnende Rolle zufiel. Einzelne Länder wichen bereits unmittelbar nach den MPK-Sitzungen von gemeinsam gefassten Beschlüssen ab. Die im November und Dezember 2020 verabschiedeten Einschränkungen erwiesen sich letztlich als nicht ausreichend, um die neuen Virusvarianten einzudämmen. Ab Januar 2021 schienen Bund und Länder kaum noch in der Lage, zu einer gemeinsamen Linie zu finden. Kanzlerin Angela Merkel deutete daraufhin am 28. März 2021 in einer Talkshow an, die Kompetenzen des Bundes ausschöpfen zu wollen. Am 23. April 2021 wurde das Infektionsschutzgesetz3 (als einfaches, nicht zustimmungspflichtiges Gesetz) abermals novelliert. Bund und Länder einigten sich darauf, dass die Bundesregierung ab einer stabilen Inzidenz von mehr als 100 Covid-19-Infektionen pro 100.000 Einwohnern in einem Landkreis oder einer kreisfreien Stadt zusätzliche Maßnahmen ergreifen könne („Bundesnotbremse“). Erst mit den Erleichterungen der Sommermonate und dem Bundestagswahlkampf trat die Pandemie – und mit ihr das föderale Krisenmanagement – in den Hintergrund.

Dass einzelne Landesregierungen im Laufe der Covid-19-Krise regelmäßig von auf der MPK gemeinsam beschlossenen Maßnahmen abwichen, scheint auf den ersten Blick eine Interpretation zu stützen, die föderale Systeme als Gelegenheitsstruktur für opportunistische Strategien begreift (Bednar, 2009, p. 15). Demzufolge versuchen einzelne Gliedstaaten (oder der Bund), auf Kosten der anderen föderalen Einheiten Legitimationsgewinne zu erzielen oder ihre eigenen (fiskalischen, kompetenziellen) Ressourcen zu mehren. Angesichts der fast alle Lebensbereiche umfassenden Covid-19- Krise und eines hohen elektoralen Drucks sind solche Strategien plausibel. Für das Wahljahr 2021 waren mehrere Landtagswahlen und die Bundestagswahl angesetzt, was dem Wettbewerb zwischen den Parteien und ihrem Bedürfnis nach wechselseitiger Abgrenzung – auch auf Kosten des jeweils anderen – Auftrieb gab. Dies galt auch und insbesondere für die umstrittenen Entscheidungen, die den Infektionsschutz betrafen. Gleichzeitig aber gilt die Bundesrepublik als Beispiel eines föderalen Systems, das von Solidarität, dem Bemühen um gemeinsame Lösungen und weniger von Wettbewerb geprägt ist (Sturm, 2015, S. 73). Die „Bundestreue“, die das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) als ungeschriebenen Verfassungsgrundsatz bereits am 21. Mai 1952 in seiner Entscheidung zur Wohnungsbauförderung4 formuliert hat (Egli, 2010, S. 78 f.), verpflichtet zu bundesfreundlichem Verhalten. Anderen bundesstaatlichen Einheiten soll durch die eigene Interessen- und Kompetenzausübung kein Schaden zugefügt werden, während das gesamtstaatliche Wohl durch das Zusammenwirken von Bund und den einzelnen Ländern bewahrt und gefördert werden soll. Dem Egoismus von Bund und Ländern sind damit verfassungsrechtliche Grenzen gesetzt (Leonardy, 1999; Reuter, 1991, S. 36; Vogel, 2019, S. 825) – diese müssen im Einzelfall allerdings ausgelegt werden.

Den inneren Zusammenhalt des Bundesstaates in der Corona-Pandemie zu bewahren, geriet zu einer schwierigen Aufgabe. Dies betraf nicht nur die konkreten Regelungen zum Infektionsschutz (siehe Behnke & Person in diesem Heft), sondern auch die politische Kommunikation. Die nachfolgende Analyse widmet sich den Argumentationsstrategien der landespolitischen Akteure in den Debatten über das föderale Krisenmanagement in der Covid-19-Pandemie. Im Mittelpunkt steht die Frage, inwiefern sie die bundesstaatliche Ordnung als Gelegenheitsstruktur für opportunistische Argumentationsstrategien nutzen oder im Sinne des bundesfreundlichen Verhaltens auf kooperative, solidarische Normen rekurrieren. Der Beitrag nähert sich dem Thema über Plenardebatten in den deutschen Landtagen zwischen Februar 2020, als die ersten Covid-19-Infektionen in Deutschland registriert wurden, und der Bundestagswahl am 26. September 2021. In den Debatten kritisieren und unterstützen die Sprecher die Maßnahmen zum Infektionsschutz, gemeinsame Beschlüsse von Bund und Ländern werden angegriffen und verteidigt, Verantwortungen werden wechselseitig zugewiesen und parteipolitische Positionen ausgefochten. Landtagsdebatten sind kommunikative, an die Öffentlichkeit gerichtete Diskurse (Schmidt, 2008, p. 321), in denen die Sprecher ihre Positionen bereits festgelegt haben. Untersucht werden somit nicht die föderalen Entscheidungsprozesse oder die Positionsbildung einzelner Parteien. Von Interesse ist vielmehr, wie die landespolitischen Akteure in den Parlamentsdebatten das föderale Pandemiemanagement diskursiv verarbeiten und in der Öffentlichkeit vermitteln.

2 „Bundesfreundliches Verhalten“ und „Opportunismus“

Jenna Bednar (2009) verweist in ihrer wegweisenden Arbeit darauf, dass Föderalismus gerade nicht, wie normative Theorien dies nahelegen (Federalist Papers No. 10, Hamilton, Madison & Jay, 1989), eine Vorkehrung gegen die Herrschaft selbstsüchtiger, egoistischer politischer Eliten bietet. Föderale Systeme setzten, so ihr Kernargument, vielmehr institutionalisierte Anreize, opportunistische Strategien zu verfolgen (Bednar, 2009, p. 13). Für Demokratien ist Opportunismus ein Problem, denn es zersetzt Vertrauen, setzt Verantwortlichkeiten außer Kraft und schädigt Institutionen. Opportunismus bedeutet allgemein ein strategisches Verhalten egoistisch-rationaler, nutzenmaximierender Akteure, die sich flexibel an sich verändernde Umgebungen anpassen und dabei Abstriche an der allgemeinen Wohlfahrt in Kauf nehmen (hierzu Williamson, 1993, p. 98; Bednar, 2009, p. 9). In Bundesstaaten können einzelne Gliedstaaten nicht von der Teilhabe an öffentlichen Gütern (Bednar nennt militärische Sicherheit, verbesserte Repräsentation oder ökonomische Effizienz und Innovation) ausgeschlossen werden, sie bieten den Regierungen daher die Gelegenheit zum Trittbrettfahren. Regierungen beider staatlicher Ebenen werden demzufolge versuchen, die Kosten zu minimieren, die sie für die Herstellung von öffentlichen Gütern – wie den Infektionsschutz – aufbringen müssen. Die Gliedstaaten schieben bei unpopulären Maßnahmen die Lasten voraussichtlich anderen bundesstaatlichen Einheiten oder der Gesamtheit des Bundesstaates zu (burden-shifting), oder sie „drücken“ sich vor der Übernahme von Verantwortung (shirking), während sie gleichzeitig von der gemeinschaftlichen Herstellung öffentlicher Güter profitieren. Eine Landesregierung könnte somit versucht sein, über den Bund oder mit der Ländergesamtheit restriktive Maßnahmen zum Infektionsschutz zu beschließen oder den eigenen Beitrag des Landes gegenüber der Öffentlichkeit so darzustellen, dass sie selbst in positiverem Licht erscheint.

Die für den deutschen Bundesstaat typische Aufgaben- und Funktionsverflechtung und der Umstand, dass Entscheidungen in den Gremien des kooperativen Föderalismus vorbereitet werden, erschweren es den Bürgern, die politische Verantwortung für Maßnahmen der jeweils verantwortlichen föderalen Einheit zuzuordnen (Scharpf, Reissert & Schnabel, 1976; Lehmbruch, 2000). Sie wird von beiden Ebenen gemeinsam getragen und innerhalb bundesstaatlicher Gremien ausgehandelt, weshalb die Regierungen es einfacher haben, Ansprüche und Kritik abzuweisen (Scharpf, Reissert & Schnabel, 1976, S. 20). Die Landesregierungen und die sie stützenden Parlamentsfraktionen können die Schuld für Fehler oder wenig effiziente Maßnahmen – hier: der Pandemiebekämpfung – aufgrund des Mangels an Transparenz der jeweils anderen Ebene oder der Ländergesamtheit (mit und ohne den Bund) zuweisen, selbst wenn sie im Rahmen ihrer ausschließlichen Zuständigkeiten verantwortlich sind. Landesregierungen und die sie konstituierenden Koalitionsparteien sind deshalb voraussichtlich gerade in Krisenzeiten und während des Wahlkampfs versucht, in der politischen Kommunikation aus diesem demokratiepolitisch nachteiligen Zustand der Verantwortungsdiffusion einen legitimatorischen Vorteil zu ziehen. Es liegt insofern nahe, dass sie auf die gemeinsamen Verantwortlichkeiten der Länder oder von Bund und Ländern rekurrieren oder versuchen, die Schuld auf andere föderale Einheiten oder das „bundesstaatliche Kollektiv“ abzuschieben.

Es ist ein Unterschied, ob, wie im theoretischen Ausgangskonzept von Bednar, opportunistisches Entscheidungsverhalten untersucht wird oder ob diskursive Prozesse in Parlamenten, also die Vermittlung oft bereits getroffener Entscheidungen gegenüber der Öffentlichkeit, im Mittelpunkt einer Untersuchung stehen. Die Theorie erweist sich als abstrakt, konzeptionell stark verdichtet und empirisch kaum operationalisierbar (siehe auch Schnabel, 2020, pp. 44-74). Die Sprecher in den Plenardebatten werden wohl kaum öffentlich mitteilen, dass sie sich vor der Übernahme von Verantwortung „drücken“ möchten. Außerdem wird in den Debatten nicht ersichtlich, ob sie auf die von anderen föderalen Einheiten getragene Verantwortung Bezug nehmen, um sich selbst zu entlasten, oder ob dies dazu dient, Verantwortung tatsächlich zu „verschieben“. Solche Bezugnahmen können auch schlicht die faktische Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern reflektieren. Mehrebenensysteme lassen zudem ein deutlich vielfältigeres Repertoire an politischen Strategien zu, weshalb wir die Ausgangsüberlegungen für die Untersuchung von Diskursen rekonzeptualisieren. In der sozialwissenschaftlichen Forschung werden verschiedene opportunistische Strategien diskutiert (für einen Überblick: König & Wenzelburger, 2014, p. 418). Hier sind vor allem drei von besonderer Bedeutung.

Die erste bezieht sich auf (explizite) Schuldzuweisungen („blame shifting“). Die Sprecher versuchen in den Parlamentsdebatten von sich abzulenken, indem das Fehlverhalten anderer föderaler Einheiten oder des „bundesstaatlichen Kollektivs“ herausgestellt wird (siehe auch Sturm, 2021, S. 187 f.). Von Interesse ist zweitens das „credit claiming“ (Nicholson-Crotty & Theobald, 2010). Es impliziert, dass Sprecher versuchen, nicht einer anderen Regierung im Bundesstaat die Schuld oder Lasten zuzuschieben, sondern den eigenen Erfolg in Abgrenzung oder im Vergleich zu anderen bundesstaatlichen Einheiten herausstellen (Hood, 2011, p. 9). Um herauszufinden, ob ein Akteur die Leistung anderer für sich reklamiert, müsste für jeden Einzelfall überprüft werden, wer diese Leistung tatsächlich erbracht hat. Dies ist jedoch in einem längeren Untersuchungszeitraum mit vielen Akteuren empirisch kaum zu leisten. Deshalb konzentrieren wir uns im Folgenden auf die Kategorie des Eigenlobs („self-praise“). Dieses kann sich auch auf eine tatsächlich selbst erbrachte positive Leistung beziehen (Glazer & Segendorff, 2001, p. 2). Gerade in der Pandemie fallen viele Maßnahmen formal-rechtlich unter die ausschließliche Zuständigkeit der Länder. Deshalb ist zu vermuten, dass Sprecher der regierungstragenden Fraktionen in parlamentarischen Debatten eigene Leistungen und Errungenschaften im Pandemiemanagement besonders hervorheben und damit self-praise in Abgrenzung von anderen Ländern oder dem Bund als „weichere“ Variante opportunistischen Verhaltens einsetzen. Hinzu kommt, dass Krisen häufig einen „Rally ’round the flag“-Effekt erzeugen (Dietz, Roßteutscher, Scherer & Stövsand, 2021). Ein z. B. die anderen Regierungen im Bundesstaat schädigendes Verhalten eines Ministerpräsidenten beschert ihm oder ihr – zumal in Krisenzeiten – nicht zwangsläufig einen elektoralen Vorteil. Die wechselseitige Schuldzuweisung liegt als Strategie deshalb voraussichtlich dann nahe, wenn die Bevölkerung Maßnahmen ablehnt oder als wenig effektiv betrachtet und Entscheidungsträger sich hierzu responsiv verhalten.5

Der Rekurs auf die Verantwortung anderer föderaler Einheiten oder auf die gemeinsame Verantwortung von Bund und Ländern bzw. der Ländergesamtheit ist eine dritte Strategie, in der einschlägigen Literatur allgemein auch „passing the buck“ (eine Art Schwarzer-Peter-Spiel) genannt (Weaver, 1986, pp. 386-387). Anders als beim „blame shifting“ bezieht sich diese Strategie in unserer Untersuchung nicht auf getroffene Entscheidungen, sondern zumeist auf Zuständigkeitsverteilungen. Sprecher heben in den Parlamentsdebatten z. B. die Zuständigkeit einer anderen föderalen Einheit oder Ebene hervor, um sich selbst zu entlasten. Diese Strategie liegt nahe, weil sich die Bürger oft nicht bewusst sind, wer im komplex organisierten Bundesstaat eigentlich wofür zuständig ist (siehe Scharpf, Reissert & Schnabel, 1976, S. 20; Harrison, 1996, p. 20).6 Ähnlich wie beim Eigenlob beziehen sich die Sprecher auch auf die tatsächliche Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern und die gegebene Aufgabenverflechtung, um Legitimationsverluste zu vermeiden: Man möchte kein Teil der politischen „Haftungsgemeinschaft“ sein oder zumindest verdeutlichen, dass man nur ein Teil eben dieser Gemeinschaft ist und will so das „Kollektiv“ in die Pflicht nehmen. „Passing the buck“ und „self-praise“ sind „weichere“ Varianten des „Opportunismus“ als „blame shifting“, da sie zwar mit einem situativ angepassten, auf den eigenen Vorteil bedachten Verhalten einhergehen, aber Dritte allenfalls indirekt schädigen. Wir gehen im Folgenden davon aus, dass opportunistische Argumentationsstrategien in der Krise vorkommen, dass die beiden „weicheren“ Varianten insbesondere von Parteien in Regierungsverantwortung eingesetzt werden und „blame shifting“ bei wachsendem Problemdruck häufiger eingesetzt wird.

* Der zu diesem Artikel gehörende Anhang ist nur online veröffentlicht und auf der Internetseite der Zeitschrift einzusehen.
1 Infektionsschutzgesetz vom 20. Juli 2000 (BGBl. I, S. 1045), das zuletzt durch Artikel 2 des Gesetzes vom 10. Dezember 2021 (BGBl. I, S. 5162) geändert worden ist.
2 Wir verwenden im Folgenden der besseren Lesbarkeit halber überwiegend das generische Maskulinum, schließen dabei aber nachdrücklich alle Geschlechter ein.
3 Viertes Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite vom 22. April 2021 (BGBl. I Nr. 18, S. 802), hier insbesondere § 28b und § 28c.
4 BVerfGE 1, 299.
5 Umfragen zeigen entsprechend, dass die Bevölkerung die einschneidenden Maßnahmen mit einem hohen Vertrauen in die Bundesregierung unterstützte (Kühne, Kroh, Liebig, Rees & Zick, 2020). Dieses Vertrauen brach erst im März 2021 ein (siehe Infratest dimap, 2021b).

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