Sozialen Zusammenhalt stärken – Zum Glück haben wir die Wahl!

Bundestagswahl 2025 Brodowski Stapf-Finé Sozialen Zusammenhalt stärken

Was muss sich ändern, damit Menschen wieder zufriedener mit „ihrer“ Demokratie sind? Ein Gastbeitrag von Michael Brodowski und Heinz Stapf-Finé, Herausgeber des Buchs Sozialen Zusammenhalt stärken. Entstehung von demokratiefernen Einstellungen und Möglichkeiten sozialräumlicher Demokratieentwicklung.

 

„Zum Glück haben wir die Wahl!“ – Was ist das?

„Zum Glück haben wir die Wahl!“ – unter diesem Motto teilen unsere Autor*innen ihre Perspektiven auf die Bundestagswahl 2025. Demokratie ist eine der größten Errungenschaften unserer Gesellschaft, doch sie ist keine Selbstverständlichkeit. Sie lebt davon, dass wir sie aktiv gestalten, schützen und immer wieder aufs Neue mit Leben füllen.

Mit dieser Beitragsreihe möchten wir die Vielfalt der Stimmen sichtbar machen und gemeinsam ein Zeichen setzen: für die Freiheit, die Demokratie uns gibt, und für die Verantwortung, die sie mit sich bringt.

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Es gibt einen breiten Konsens, dass es sich bei der Demokratie um die beste Staatsform handelt, aber knapp 40 % der Bevölkerung sind mit der Funktionsweise der Demokratie unzufrieden. Dies ist eine zentrale Aussage des aktuellen Deutschland-Monitors 2024 (Hebenstreit u.a. 2025), der am 17. Januar 2025 erschienen ist.

 

Forschung zu sozialem Zusammenhalt

Diese Erkenntnis ist nicht ganz neu und deckt sich mit den Ergebnissen unserer eigenen Forschung, die im Rahmen der BMBF-Projektlinie „Zusammenhalt stärken in Zeiten von Krisen und Umbrüchen“ gefördert worden ist (vgl. Brodowski, Stapf-Finé 2022). Im Rahmen von qualitativen biografischen Interviews haben wir nach den Ursachen für diese Unzufriedenheit gesucht. Eine mögliche Antwort liegt darin, dass die Menschen ein starkes Gespür für soziale Gerechtigkeit haben und aktuelle soziale Fragen unzureichend beantwortet sehen. Sie erwarten aber von den Gewählten verständliche (nicht einfache) Antworten auf die Herausforderungen, mit denen sie sich konfrontiert sehen. Besteht eine wesentliche Diskrepanz zwischen den Antworten und ihren Lebensumständen und Gemeinwesenerfahrungen, fühlen sie sich nicht gehört. Dies hat bei vielen zu einer Enttäuschung und Abwendung von Politik und demokratischem Gemeinwesen geführt.

Uns hat übrigens verblüfft, dass in vielen Gesprächen deutlich wurde, dass die Menschen regelrecht darauf warten, Gehör zu finden. Die häufigste Reaktion auf den Gesprächswunsch für die qualitativen Interviews war die Freude darüber, dass endlich jemand zuhört und wirkliches Interesse an den eigenen Erfahrungen im Zusammenhang mit dem Gemeinwesen zeigt. Das Involviertsein in Gespräche über ihre Lebenswirklichkeit löst offensichtlich schon ihren Wunsch nach mehr Selbstwirksamkeit ein.

Im Osten der Republik kommen noch die Erfahrungen des ostdeutschen Citoyens hinzu. Kurz dargestellt hat dies mit einer starken Wirksamkeitserfahrung in der Wendezeit zu tun, die zu einer politischen Emanzipation führte und eine politische und kulturelle Demokratisierung herbeiführte. Wir gemeinsam können nicht nur etwas, sondern viel bewegen, war zu dieser Zeit Ausdruck einer gelebten Selbstwirksamkeit. Dies endete jedoch Mitte der 1990er Jahre relativ abrupt, als viele Arbeitsplatz und Anstellung verloren und alle Streiks und Proteste nicht wirklich halfen. Das enttäuschte Versprechen des bundesdeutschen Staates nach (sozialer) Gleichheit führte zu einer Entfremdung und Desintegration und dem Gefühl, fremd im eigenen Gemeinwesen zu sein. Die Auswirkungen davon sind heute noch zu spüren und haben sich auch auf nachfolgende Generationen übertragen, welche die Wendezeit selbst nicht bewusst erlebt haben.

In Analysen über vermeintliche Politikverdrossenheit und Abwendung von der Demokratie schwingen häufig Defizitzuschreibungen mit wie bspw. Mangel an politischer Bildung, prekäre Lebensstile und Habitusformen, die als sozial nicht akzeptabel angesehen werden. So werden die Essgewohnheiten, der Kleidungsstil, die Sprechweise oder der Mangel an Arbeitsethos der neuen Unterschicht herabgewürdigt. Die Betroffenen spüren im Kontakt mit Ämtern und Behörden häufig, dass auf sie herabgeschaut wird. Und im Kontakt mit den Mitmenschen wird häufig thematisiert, wenn man aus einer randständigen Gegend kommt, die noch dazu oft Probleme der Versorgung mit notwendiger Infrastruktur aufweist.

 

Sozialen Zusammenhalt stärken: Theorie und Praxis

Solche Analysen verstellen aber den Blick auf das Wesentliche. Demokratie als Lebensform, also bspw. gemeinsam Kompromisse im Aushandeln zu finden, Diskurse im Alltag über die Gestaltung und Bewältigung von Lebenswelt zu führen, andere auch solidarisch zu unterstützen wird von diesen Menschen selbstverständlich positiv geteilt. Sie erleben es aber nicht, dass man ihnen mit gleichen Werten begegnet. Für sie ist die formale Demokratie so weit entfernt wie ein unentdeckter Kontinent, über den man schon viel gehört, den man aber nie betreten hat.

In einer Reihe von teilnehmenden Beobachtungen haben wir herausgefunden, dass die Frage, wer hier eigentlich unerreichbar ist, anders und differenzierter gestellt werden muss. Klar sind Menschen in prekären Lebenslagen gezwungen, einen großen Teil ihres Tages der Bewältigung eines anstrengenden Lebens zu widmen. Weil die gesundheitliche Lage ein schnelles Bewegen in der Öffentlichkeit nicht zulässt, weil die ökonomische Lage zur Aufnahme einer weiteren Beschäftigung zwingt oder das Haushaltsbudget dazu nötigt, Sonderangebote zu vergleichen und entsprechend mehrere Geschäfte anzusteuern. Insofern bleibt nicht viel Zeit noch Energie, um sich um Fragen des Gemeinwesens zu kümmern.

Allerdings ist der Zugang zum politischen System sehr hochschwellig. Dies wird schon in der sogenannten Einwohnerfragestunde in der Bezirksverordnetenversammlung (Parlamente auf kommunaler Ebene in Berlin) deutlich. Die Fragen können nicht spontan gestellt werden, sondern müssen im Vorfeld schriftlich eingereicht werden, was dazu führt, dass die Fragen meist abgelesen werden. Die Fragestellenden stehen allein vor dem Saalmikrofon, während die Bezirksverordneten von ihrem Pult aus agieren. Die Anordnung erweckt den Eindruck, dass die Bezirksverordneten auf die Fragestellenden herabschauen, verstärkt wird dies noch, wenn auf eine ungeschickte Äußerung reagiert wird. Folglich muss auch gefragt werden, warum die Politik schon auf kommunaler Ebene sich so stark von der Lebenswelt der Menschen entfernt hat und schwer erreichbar geworden ist. Es kann und darf nicht der Eindruck, dass ich Bittsteller vor den Personen bin, die ich gewählt habe, damit sie mich vertreten. Politik und Demokratie ist kein Selbstzweck für die Gewählten, sondern ein Dienst an der Bevölkerung mit der Bevölkerung.

Potenzial für mehr Einsatz für Demokratie und Gemeinwesen ist durchaus vorhanden. Im Rahmen unserer quantitativen Untersuchung äußerten viele Menschen Interesse an politischem oder sozialem Engagement, sind aber (noch) nicht engagiert. Oder geben an, früher einmal engagiert gewesen zu sein, jedoch in der Zwischenzeit das Interesse verloren zu haben. In Fragen der sozialen Gerechtigkeit liegt dabei ein starkes Mobilisierungspotenzial, denn kritische Demokratinnen und Demokraten, die mit der Idee der Demokratie einverstanden sind, aber mit der Realisierung nicht zufrieden sind, bringen viel Veränderungspotenzial mit sich, das an ihren eigenen Lebenswirklichkeiten ansetzt.

 

Sozialen Zusammenhalt stärken durch Vernetzung

Was ist also zu tun. In unserem Projekt hat sich gezeigt, dass es notwendig ist, auf sozialräumlicher Ebene mit der Demokratieentwicklung anzusetzen. Beispielsweise haben wir in dem untersuchten Berliner Bezirk Marzahn-Hellersdorf, im Osten Berlins gelegen, herausgefunden, dass es viele im Gemeinwesen aktive Personen, Initiativen und Vereine gibt, die allerdings kaum vernetzt sind und über wenige Informationen anderer Initiativen verfügen. Abhilfe haben wir im Rahmen des BMBF-Projektes damit geschaffen, dass wir ein entsprechendes Informationsportal aufgebaut haben, das jetzt von einem sozialen Träger dauerhaft gepflegt wird: https://mitwirkung-marzahn-hellersdorf.de/

Eine wichtige Rolle im Quartier für den sozialen Zusammenhalt kommt den Wohnungsbaugesellschaften und -genossenschaften zu. Sie haben in ihren Objekten die Möglichkeit, Räume für Begegnungen mit der Nachbarschaft zu schaffen, so dass diese sich im vorpolitischen Raum austauschen können. Dies ist insofern von Bedeutung, als wir im Rahmen des Projektes feststellen mussten, dass es durch den Wegfall von Gastronomie und anderer Infrastruktur in manchen Stadtteilen kaum noch kostenfreie oder kostengünstige Treffpunkte gibt. Folglich gibt es einen Mangel an „Sozialen Orten“ [1] nicht nur im ländlichen Raum.

Eine weitere Notwendigkeit ist es, bereits in Kita und Schule Demokratie erfahrbar und erlebbar zu machen. Hier geht es vor allem darum, den Unterschied zwischen formalem Demokratielernen und der informellen eigenen Erfahrung abzubauen. Mit einer qualitativ explorativen Studie, die auf der Annahme beruhte, dass demokratisches Verhalten vorrangig durch kooperative Gruppenprozesse gelernt wird, wurde Rahmen des BMBF-Projektes herausgearbeitet, dass die Hierarchisierung formaler Lernprozesse in der Schule sowie die zeitliche Begrenztheit und Taktung dieser Lernprozesse einem subjektiv als positiv erlebten Demokratielernen entgegenstehen (Rathke 2022). Entscheidungen zum Einpflegen von Demokratielernen sind hochgradig abhängig vom Engagement einzelner motivierter Lehrer:innen und kommen daher kaum systematisch in allen untersuchten Schulen vor. Deutlich wurde zudem, dass das Gelernte selten bis gar nicht in die Organisation Schule implementiert wird, es schlägt sich nicht in der Veränderung von Strukturen und Arbeitsprozessen der Organisation nieder. An dieser Stelle sind die Autoren gerade dabei, Lernwerkstätten für Demokratiebildung an Berliner Schulen zu konzipieren und im Rahmen eines angestrebten Nachfolgeprojektes aufzubauen und zu etablieren.

 

Die Politische Bildung als Werkzeug

Schließlich muss politische Bildung vor dem Hintergrund der Erkenntnisse zur „Demokratiedistanz“ stärker aufsuchend gestaltet werden. Gefördert durch die Bundeszentrale für politische Bildung wurden im Projekt „Aufsuchende politische Bildung im Quartier“ Ansätze der aufsuchenden politischen Bildung erprobt, in welchen Akteure der politischen Bildung und der sozialen Quartiersentwicklung zusammengearbeitet haben (vgl. Pfeffer-Hoffmann 2024, insbesondere Stapf-Finé 2024). In Berlin hat die Landeszentrale für politische Bildung im Rahmen des Projekts „Gleiche politische Teilhabe“ aufsuchende politische Bildung erprobt und wissenschaftlich evaluieren lassen. Hierbei erfolgte eine enge Kooperation zwischen politischen Bildnerinnen und sozialen Einrichtungen vor Ort, die jeweils ihre politikdidaktischen bzw. sozialpädagogischen Kompetenzen haben einfließen lassen. Die Ergebnisse der Evaluation werden im Handbuch zur aufsuchenden politischen Bildung zusammengefasst, das gerade im Erscheinen ist (Gill/Stapf-Finé/Wallentin 2025).

Die sozialräumliche Demokratieentwicklung benötigt aber ein bundes- und landespolitisches Umfeld was die sozialen Sicherungsversprechen der Demokratie auch wirklich einlöst, nur dann kann die Diskrepanz zwischen Zustimmung zur Idee der Demokratie und der Unzufriedenheit mit ihrer Verwirklichung wieder aufgelöst werden.

 

Literatur

Brodowski M, Stapf-Finé H. (Hg.) (2022): Sozialen Zusammenhalt stärken. Entstehung von demokratiefernen Einstellungen und Möglichkeiten sozialräumlicher Demokratieentwicklung. Leverkusen: Barbara Budrich

Gill, T., Stapf-Finé, H. & Wallentin, A. (Hg.) (2025). Handbuch aufsuchende politische Bildung. Wochenschau Verlag. Im Erscheinen.

Hannemann, R (2019b): Der ostdeutsche Citoyen. Beobachtungen zu Tiefenstrukturen der Demokratieentwicklung in Marzahn-Hellersdorf. Generationen, Erfahrungen, Erkenntnisschranken. In: Sozialer Fortschritt, Jg. 68, Heft 8/9 (August/September). S. 701-731.

Hebenstreit J., Holtmann E., Jaeck T., Pollak R., Reiser M., Sand M., Zissel P. (2025): Deutschland-Monitor 2024. Gesellschaftliche und politische Einstellungen. „In welcher Gesellschaft wollen wir leben?“ Halle (Saale), Jena und Mannheim. Verfügbar unter: https://deutschland-monitor.info/ [18.1.2025]

Pfeffer-Hoffmann, C. (Hg.). Politische Bildung findet Stadt. Erfahrungen und Reflexionen zu aufsuchender politischer Bildung im Quartier. Berlin.

Rathke, N. (2022). Informelles und formales Lernen im Kontext von Demokratielernen und -erleben an Sekundarschulen im Bezirk Marzahn-Hellersdorf. Eine qualitativ-explorative Studie. In M. Brodowski & Stapf-Finé, H. (Hrsg). Sozialen Zusammenhalt stärken (S. 143-186). Barbara Budrich. https://doi.org/10.3224/84742531

Stapf-Finé, H. (2024). Haltung zur Demokratie in sozial benachteiligten Quartieren. In: C. Pfeffer-Hoffmann (Hg.): Politische Bildung findet Stadt. Erfahrungen und Reflexionen zu aufsuchender politischer Bildung im Quartier (S. 31-40). Berlin.

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[1] Zum Soziale-Orte-Konzept siehe: https://www.uni-goettingen.de/de/das+soziale-orte-konzept/633428.html

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Cover Brodowski Stapf-Finé Sozialen Zusammenhalt stärken 150 pxMichael Brodowski, Heinz Stapf-Finé (Hrsg.):

Sozialen Zusammenhalt stärken. Entstehung von demokratiefernen Einstellungen und Möglichkeiten sozialräumlicher Demokratieentwicklung

 

 

 

 

Die Autoren

Brodowski, Michael © privat

Prof. Dr. Michael Brodowski, Professor für Leitung und Management von Bildungseinrichtungen, Alice Salomon Hochschule Berlin

Stapf-Finé, Heinz © privat

 

Prof. Dr. Heinz Stapf-Finé, Professor für Sozialpolitik, Alice Salomon Hochschule Berlin

 

Über „Sozialen Zusammenhalt stärken“

Wie entstehen demokratieferne Einstellungen in einer Kommune? Diese Studie stellt heraus, dass Menschen sich von der Demokratie abwenden, wenn diese ihr Versprechen auf soziale Gleichheit nicht erfüllt. Der Bereitschaft, sich zu engagieren, steht die schwere Erreichbarkeit der etablierten Politik gegenüber. Von diesen Beobachtungen ausgehend entwickeln die Autor*innen Ansätze, wie auf kommunaler Ebene die repräsentative Demokratie durch direktere Formen der Mitwirkung gestärkt werden könnte.

 

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© Fotos Autoren: privat | Titelbild: gestaltet mit canva.com