Erfolgsbedingungen für die neue Bundesregierung – Zum Glück haben wir die Wahl!

Bundestagswahl 2025 neue Bundesregierung Ortwin Renn

Was bedeuten die aktuellen Polykrisen für die neue Bundesregierung? Ein Gastbeitrag von Prof. Dr. Ortwin Renn, ehemaliger wissenschaftlicher Direktor am Institute for Advanced Sustainability Studies (IASS), seit 2023 umbenannt in „Forschungsinstitut für Nachhaltigkeit – Helmholtz Zentrum Potsdam (RIFS)

 

„Zum Glück haben wir die Wahl!“ – Was ist das?

„Zum Glück haben wir die Wahl!“ – unter diesem Motto teilen unsere Autor*innen ihre Perspektiven auf die Bundestagswahl 2025. Demokratie ist eine der größten Errungenschaften unserer Gesellschaft, doch sie ist keine Selbstverständlichkeit. Sie lebt davon, dass wir sie aktiv gestalten, schützen und immer wieder aufs Neue mit Leben füllen.

Mit dieser Beitragsreihe möchten wir die Vielfalt der Stimmen sichtbar machen und gemeinsam ein Zeichen setzen: für die Freiheit, die Demokratie uns gibt, und für die Verantwortung, die sie mit sich bringt.

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Die neue Herausforderung: Polykrise

Die deutsche Gesellschaft ist in den letzten Jahren einer Vielzahl von schweren Krisen ausgesetzt. Risikoforscher und -forscherinnen sprechen hier von Polykrisen[1]. Erst kam Corona, dann kamen die weiteren Auswüchse der Klimakrise beispielsweise in Form von Überschwemmungen und Waldbränden, der Krieg in der Ukraine und im Nahen Osten, Nahrungsmittelkrisen in der Welt, Inflation, galoppierende Energiepreise und es werden täglich mehr. Kennzeichen von Polykrisen sind die gegenseitige Verstärkung von verschachtelten, miteinander verkoppelten Risiken. Zum Beispiel kam es in Folge der Corona-Maßnahmen zu einer Störung von Lieferketten. Außerdem treten sogenannte Domino-Effekte auf, wenn etwa der Ukraine-Krieg Engpässe bei der Getreidelieferung auslöst.

Jede einzelne Krise – ob politisch, epidemiologisch, militärisch, wirtschaftlich oder ökologisch – zwingt die Gesellschaft dazu, das alltägliche Verständnis von dem, was normal ist und erwartet wird, neu zu definieren und zu gestalten. In einem Moment erschüttert eine Pandemie die Grundfeste der Gesellschaft, im nächsten ist der Fortbestand liberal geprägter Demokratien ernsthaft in Frage gestellt, und dann droht über allem noch die Möglichkeit eines Atomkriegs. Dieses Nebeneinander von Krisen zeigt auf, dass man es mit einem komplexen Geflecht von oberflächlich betrachtet unterschiedlichen, aber in Wirklichkeit tief miteinander verwobenen Krisen zu tun hat. Und gerade, weil diese Krisen so kausal und funktional miteinander verwoben sind, verursachen sie weltweit einen Schaden, der weitaus größer ist als die Summe ihrer einzelnen Schäden.

Sieht man sich die weltweiten ökologischen, ökonomischen und soziokulturellen Wandlungserscheinungen, die wir oben mit dem Begriff der Polykrise charakterisiert haben, näher an, dann entdeckt man eine Reihe von miteinander gekoppelten und sich gegenseitig beeinflussenden Risiken, die nicht genügend beachtet werden und bei denen die relevanten Akteure wie Regierungen, Wirtschaftsunternehmen oder zivilgesellschaftliche Gruppen weltweit nach wie vor große Probleme haben, sie effektiv zu begrenzen. Diese schleichenden und die Wohlfahrt der Menschen bedrohenden Risiken lassen sich mit dem Begriff der systemischen Risiken belegen.[2] Die bislang geläufigen Ursache-Wirkungs-Modelle greifen immer weniger in einer Welt, die von systemischer Durchdringung geprägt und durch die technischen, insbesondere kommunikationstechnischen Möglichkeiten in ihren Teilbereichen miteinander so verbunden ist, dass die Wirkung von Eingriffen oft nicht lokal begrenzt bleibt. Dies gilt für die Welt als Ganzes, aber ebenso für ihre zahlreichen Teilsysteme.

 

Implikationen für die Politik

Und damit sind wir bei der Politik. Bisher waren wir daran gewöhnt, dass für jede potentielle Krise und für jede politische Herausforderung ein dafür zuständiges Ministerium oder eine eigene Behörde mit einem Satz von institutionellen Regeln und Lösungsansätzen bereitsteht, um gezielt das auftretende Problem anzugehen. Diese arbeitsteilige Vorgehensweise erweist sich so lange als effektiv, wie man jedes einzelne Problem getrennt behandeln und bearbeiten kann. Sobald aber die verschiedenen Probleme in ihren Auswirkungen miteinander vernetzt und verschränkt sind, kommt eine eindimensionale Optimierung an ihre Grenzen.

Vielfach bedeutet eine optimale Lösung für ein Teilproblem eine wesentliche Verschärfung des Gesamtproblems. Dies hat man deutlich bei der Bearbeitung der Corona Pandemie in Deutschland spüren können. Solange der Gesundheitsschutz das einzige und dominante Ziel der politischen Maßnahmen war, konnte die Politik durch effektive und wissenschaftsgestützte Maßnahmen die Menschen in Deutschland gesundheitlich schützen und auch politisch überzeugen. Als aber Ende des Jahres 2020 deutlich wurde, dass es nicht nur um Gesundheitsschutz, sondern auch um Bildungsdefizite aufgrund geschlossener Schulen, häusliche Gewalt aufgrund von Ausgehverboten und Konkursen von auf Publikum angewiesenen Unternehmen ging, versagte die auf eine Zielgröße fixierte Politik der Bundesregierung[3].

In dem Moment, in dem eine offene Debatte über die Verhältnismäßigkeit und Angemessenheit von politischen Maßnahmen geführt wurde, entwickelte sich eine stärkere interdisziplinäre Diskussion über die relative Gewichtung von gesundheitlichen, wirtschaftlichen, sozialen und finanziellen Zielen bei der Abwägung über die zu treffenden politischen Maßnahmen. Gleichzeitig eröffnete diese Vielschichtigkeit  auch ein neues Feld für politische Akteure, sich gegenseitig zu beschuldigen und sich als die besseren Krisenmanager zu profilieren (besonders auf Landesebene in Deutschland).[4] Insgesamt hatte dies aber zur Folge, dass, das Vertrauen in die Problemlösungskapazität der Politik drastisch absank.[5]

Dieses Beispiel zeigt, dass eine erfolgreiche Politik die Mehrdimensionalität und Vernetzung der einzelnen Politikbereiche als Ganzes in den Blick nehmen muss. Das ist leichter geschrieben als umgesetzt, denn unser politisches System ist in seiner Struktur auf Arbeitsteilung, sektorale Optimierung und sogar Wettbewerb zwischen den Ministerien ausgelegt. Politische Lösungen, die für die Behandlung von Polykrisen geeignet sind, beruhen aber auf sektorübergreifenden Analysen, Kooperation zwischen Ministerien und Behörden, und einem nachvollziehbaren Prozess des Umgangs mit Zielkonflikten.  Denn die Aussicht auf Lösungen, die gleichzeitig alle Probleme zu lösen verspricht, ist in einer hoch vernetzten und von Wertepluralität geprägten Gesellschaft illusorisch.

Wie schwierig es ist, mit Zielkonflikten, politisch umzugehen, zeigt sich auch deutlich bei der Bilanz der gerade gescheiterten Ampelkoalition. Der berechtigte und ethisch motivierte Wunsch, den Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine finanziell nicht zu unterstützen, führte zur Aufweichung der Klimaschutzziele, indem Flüssiggasanlagen in Windeseile gebaut wurden, die eine besonders ungünstige CO2-Bilanz aufweisen. In die gleiche Richtung zielen Maßnahmen zur Ankurbelung der erlahmten Wirtschaft, die eine Streckung der Klimaschutzmaßnahmen erforderlich machen. Nicht zuletzt zeigt das Beispiel der Wärmeschutzverordnung, bei der ein für den Klimaschutz wichtiges Gesetz an mangelnder Akzeptanz und operativen Problemen der praktischen Umsetzbarkeit gescheitert ist, wie schnell mangelnde Sensibilität für Zielkonflikte das Vertrauen in die Regierungspolitik erschüttern kann. Von diesem Rückschlag hat sich Wirtschaftsminister Habeck bis heute nicht erholen können.

 

Forderungen an die neue Bundesregierung

Was bedeutet das für die künftige Bundesregierung? Vor allem geht es um mehr Kooperation zwischen den Ministerien, zwischen dem Bund und den Ländern und den Gemeinden und zwischen den wichtigen subpolitischen Akteuren wie Gewerkschaften, Arbeitgeberverbände und Zivilgesellschaftliche Gruppen. Kooperation bedeutet nicht Zwang zum Konsens, sondern eine auf Verständigung ausgerichtete Behandlung von Zielkonflikten:

  • Was hat Priorität, was kann warten?
  • Wo können wir in begrenztem Maße negative Auswirkungen tolerieren, um positive Auswirkungen zu erzielen, die in der gegebenen Situation Vorrang haben?
  • Was können wir, was müssen wir bestimmten Gruppen in der Gesellschaft zumuten, damit das Ganze nicht leidet?

Eine solche transparente und gut begründete Abwägungskultur kann aber politisch nur erfolgreich sein, wenn die Zielkonflikte deutlich kommuniziert und der Prozess, diese Konflikte sachlich kompetent und ethisch begründbar anzugehen, nach nachvollziehbaren demokratischen Prinzipien gesteuert wird. Nichts ist politisch riskanter als so zu tun, als ob es diese Konflikte nicht gäbe und es nur darauf ankomme, die „richtigen“ Maßnahmen umzusetzen, die eine Patentlösung für alle sektor- und problemübergreifenden Herausforderungen versprechen.

Gerade mit diesem illusionären Versprechen machen die rechtsextremen Parteien in Deutschland und Europa ihr Geschäft. Wenn Ihr uns wählt, geht es der Wirtschaft gut, die Migration wird eingedämmt, die Umwelt wird nicht weiter belastet, weil es die drängenden Klimakrise in der Schärfe, wie von der Wissenschaft dargestellt, gar nicht gibt, und die Menschen werden wieder glücklicher werden, weil alles Fremde verbannt wird.

In diesem Konzert von „Wünsch Dir was und wir bieten es Dir“ können die demokratischen Parteien nicht mithalten, vor allem, wenn sie in der Verantwortung stehen. Die neue Bundesregierung muss, unabhängig davon, welche Koalition im Endeffekt die Regierung übernehmen wird, von Anfang an deutlich machen, dass es bei Polykrisen nicht nur Gewinner geben kann, sondern auch Verlierer, dass es ohne Belastungen nicht vorwärts gehen wird, diese aber durch politische Maßnahmen gerecht verteilt werden können, und dass sich die Mühen und Opfer lohnen werden, um eine gerechte, nachhaltige und dauerhafte Zukunft für die kommenden Generationen zu sichern.

Eine solche ehrliche und für Zielkonflikte sensible Politik wird es nicht leicht haben Akzeptanz zu finden. Umso wichtiger ist es deshalb, dass einschneidende Maßnahmen durch eine aktive, professionell strukturierte und von Interessen unabhängige Bürgerbeteiligung generiert, reflektiert und, wo nötig, modifiziert werden. Gemäß dem Motto „Vom Stammtisch zum Runden Tisch“ sollten die Bürgerinnen und Bürger, die sowohl von den Auswirkungen der Polykrisen wie von deren Lösungsversuchen betroffen sind, auch an der Gestaltung ihrer weiteren Zukunft beteiligt werden. In jüngster Zeit sind hier vor allem auf nationaler Ebene Bürgerräte, bei denen Bürgerinnen und Bürger nach dem Zufallsprinzip ausgewählt werden, ins Leben gerufen worden, um für wichtige politische Fragestellungen sozialverträgliche Lösungen zu entwickeln[6].

Mehr Transparenz über Zielkonflikte, bessere Kommunikation über zumutbare und sozial gerecht verteilte Belastungen, mehr demokratische Aushandlungs- und Beteiligungsprozesse sowie eine auf Kooperation ausgerichtete Politikgestaltung sind die zentralen Schlagworte, nach denen die neue Bundesregierung ihren Koalitionsvertrag ausrichten sollte.

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[1] Lawrence, M., Homer-Dixon, T., Janzwood, S., Rockstöm, J., Renn, O. & Donges, J.F (2024).: Global Polycrisis: The Causal Mechanisms of Crisis Entanglement. Global Sustainability, 1 ,1-36. doi:10.1017/sus.2024.1

[2] Zur Definition von systemischen Risiken vgl. Renn, O.; Laubichler, M.; Lucas, K.; Schanze, J.; Scholz, R. und Schweizer, P.-J (2022): Systemic Risks from Different Perspectives. Risk Analysis, 42, (9), 1902-1920,

[3] Renn, O. (2023): Gefühlte Wahrheiten: Orientierung in Zeiten postfaktischer Verunsicherung. Budrich: Frankfurt am Main, S, 121ff.

[4] Bogner, A. & Menz, W. (2021): Wissen und Werte im Widerstreit. Zum Verhältnis von Expertise und Politik in der Corona-Krise. Leviathan, 49 (1): 111-132.

[5] Reinhardt, D., Friedrich, H. & Mullis, D. (2022): Fragiles Vertrauen-Zwischen sozialen Bewegungen und Politikverdrossenheit: Jugend und Demokratie in Zeiten der Corona-Krise. Social Science Open Access Repository, https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:0168-ssoar-80007-9

[6] Oppold, D. und Renn, O. (2022): Bürgerräte auf nationaler Ebene – Erkenntnisse und Handlungsempfehlungen. In T. Hauser, & D. Winkler (Eds.), Gehört werden: Neue Wege der Bürgerbeteiligung (pp. 68-86). Stuttgart: Kohlhammer. https://knoca.eu/legitimacy-and-resonance-of-climate-assemblies-in-wider-society/

 

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Der Autor

Prof. Dr. Dr. h.c. Ortwin Renn, ehemaliger wissenschaftlicher Direktor am Institute for Advanced Sustainability Studies (IASS), seit 2023 umbenannt in „Forschungsinstitut für Nachhaltigkeit – Helmholtz Zentrum Potsdam (RIFS)

 

Über das Buch

Wir befinden uns in einem Zeitalter überlappender Krisen: Corona-Pandemie, die Invasion Russlands in die Ukraine, steigende Inflationsraten, sich verschärfender Klimawandel, Gasknappheit. Wie sollen wir mit diesen Krisen umgehen? Wie können wir entscheiden, was stimmt, welche Maßnahmen wirkungsvoll und gerechtfertigt sind und was moralisch geboten ist? Wo werden wir Opfer von „Fake News“ und wo nutzen Populisten und Populistinnen die Angst der Menschen aus? In diesen unübersichtlichen Zeiten wächst das Misstrauen in die Politik. Die Fairness der Wirtschaft wird bezweifelt und die Unabhängigkeit der Wissenschaft in Frage gestellt. Über vertiefende Einblicke in die Leistungsfähigkeit der Wissenschaft und in die intuitive Wahrnehmung von komplexen Zusammenhängen veranschaulicht der Autor Wege aus Überforderung, Angst und Verunsicherung. Zudem soll mit diesem Buch mehr Zutrauen in die eigene Gestaltungsfähigkeit bei der Bewältigung kollektiver Herausforderungen geweckt werden.

 

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© Foto Ortwin Renn: IASS Potsdam/Lotte | Titelbild: gestaltet mit canva.com