Stadt-Land-Differenzsetzungen in raumbezogener qualitativer Empirie

ZQF – Zeitschrift für Qualitative Forschung 2-2023: Umgang mit Differenzsetzungen in Forschungen zu ländlichen Räumen

Umgang mit Differenzsetzungen in Forschungen zu ländlichen Räumen

Claudia Kühn, Julia Franz & Annette Scheunpflug

ZQF – Zeitschrift für Qualitative Forschung, Heft 2-2023, S. 233-252.

 

Zusammenfassung: Mit diesem Beitrag zum Umgang mit Differenzsetzungen in der Forschung zu ländlichen Räumen wird die Frage verfolgt, wie mit Stadt-Land-Differenzsetzungen in raumbezogener qualitativer Empirie umgegangen werden kann. Ausgehend von der Thematisierung von Stadt-Land-Differenzen in Forschungsdiskursen wird exemplarisch anhand einer Studie zur informellen Aushandlung und Weitergabe von alltagskulturellem Wissen in ländlichen Räumen reflektiert, wie Stadt-Land-Differenzsetzungen in der Konzeption und Durchführung qualitativer Forschungsdesigns relevant werden. Darauf aufbauend werden Beobachtungen aus dem Forschungsprozess – vom Feldzugang bis zur dokumentarischen Auswertung – beschrieben und methodisch im Hinblick auf den Umgang mit Stadt-Land-Differenzsetzungen reflektiert. Deutlich wird, dass Forschungen zu ländlichen Räumen vor der methodischen Herausforderung stehen, mit eigenen und fremden Stadt-Land-Differenzsetzungen reflexiv umzugehen sowie unterschiedlichen Wissensformen zum Ländlichen Rechnung zu tragen. Reflexionsinstrumente der qualitativ-rekonstruktiven Forschung besitzen besonderes Potenzial, um für die Reproduktion Diskurs prägender Vorstellungen von Stadt-Land-Unterschieden zu sensibilisieren. Insbesondere die dokumentarische Methode ermöglicht es mit der Unterscheidung kommunikativer und konjunktiver Wissensformen, kommunikatives Wissen zu Stadt-Land-Differenzen nicht zu reproduzieren, sondern durch die Kontrastierung mit konjunktivem Wissen dem Alltagshandeln und Lebenswelten ländlicher Räume auf die Spur zu kommen.

Schlagwörter: Forschungen zu ländlichen Räumen, Land und Stadt, Differenz, methodische Herausforderungen; Dokumentarische Methode

 

Dealing with differentiation research on rural studies

Abstract: This contribution on dealing with differentiations in research on rural areas, pursues the question of how urban-rural differences can be dealt with in spatial qualitative research. Starting from the thematization of urban-rural differences in research discourses, a study on informal negotiation and transmission of everyday cultural knowledge in rural areas will be used as an example to reflect on how urban-rural differences become relevant in the conception and implementation of qualitative research designs. Based on this, observations from the research process – from the field access to the reconstructive documentary analysis – are described and reflected methodologically with regard to dealing with urban-rural differences. The result shows that research on rural areas faces the methodological challenge of reflexively dealing with own and foreign urban-rural differentiations and that different forms of knowledge about the rural are relevant. Reflective instruments of qualitative-reconstructive research have potential to sensitize for discourse-forming urban-rural differences. In particular, the documentary method, with its distinction between communicative and conjunctive forms of knowledge, makes it possible not to reproduce urban-rural differences, but rather, by contrasting them with conjunctive knowledge, to trace the everyday actions and life environments of rural areas.

Keywords: Research on rural areas, rural and urban, difference, methodological challenge, documentary method

 

1 Einleitung

Die Auseinandersetzung mit ländlichen Räumen oder Regionen gewinnt in Praxis- und Forschungsdiskursen zunehmend an Bedeutung. Ausgehend von gesellschaftlichen Entwicklungsprozessen – wie zum Beispiel demographischen Veränderungen – wird der Blick verstärkt auf ländliche Räume gerichtet. Hier wird beispielsweise diskutiert, wie insbesondere sogenannte strukturschwache ländliche Räume gestärkt werden und welchen Beitrag lokale Regionalentwicklungsprojekte dazu leisten können. Damit verknüpft sind auch eine Reihe von Förderlinien zur Erforschung ländlicher Räume, die u.a. an der Frage ansetzen, welche Potenziale für Bildung, kulturelle Aktivitäten (z.B. BMBF 2019) oder Digitalisierungsprozesse in ländlichen Räumen (z.B. BLE 2018) vorhanden sind, wie Vernetzungen und Kooperationen zwischen lokalen Akteur*innen aussehen oder wie Strukturen ehrenamtlichen Engagements (z.B. BLE 2019) aufgebaut sind. Dabei wird beispielsweise davon ausgegangen, dass Städte und strukturstarke Regionen „über eine größere Dichte an Kulturinstitutionen verfügen“ und umfassender erforscht sind als ländliche und periphere Regionen (vgl. BMBF 2019) und dass vor diesem Hintergrund geförderte Forschungsvorhaben zu einer „langfristig erfolgreiche(n) kulturelle(n) Bildungsarbeit in ländlichen Räumen“ (Kolleck/Büdel 2020) beitragen sollen.

Gemeinsam ist vielen Diskursen in Forschung und Praxis, dass sie – implizit oder explizit – auf einer Differenzsetzung von Stadt und Land aufbauen und urbane Räume ruralen gegenübergestellt werden (vgl. Kap. 2). Solche Stadt-Land-Differenzsetzungen sind in politischen, wissenschaftlichen und alltäglichen Diskursen wirkmächtig (z.B. Derridia 1972), schließlich wird beispielsweise der strukturschwache ländliche Raum erst im Kontrast zur Strukturstärke von Städten sichtbar, ebenso wie eine dichte und „graue“ Besiedlung von Städten in Kontrast zu „grünen“ und weitläufigeren ländlichen Siedlungsstrukturen erkennbar wird. Bei der Differenzsetzung von Stadt und Land scheint es sich um ein relativ stabiles Denkmuster zu handeln, das auch Forschungen in und zu ländlichen Räumen prägen kann.

Wenn es nun darum geht, in Forschungen Strukturen, Haltungen und Besonderheiten von ländlichen Räumen zu erfassen, die über die Reproduktion von Diskurs prägenden Stadt-Land-Differenzsetzungen hinausgehen, bedarf es methodologischer und methodischer Reflexionsmechanismen. Insbesondere in qualitativ-rekonstruktiven Forschungsprojekten, in denen es darum geht, implizite und handlungsleitende Orientierungen von Bewohner*innen und Akteur*innen zu ihren Lebensweisen, Lern- und Bildungsprozessen oder ehrenamtlichen Aktivitäten in ländlichen Räumen zu erfassen, erscheint es von großer Bedeutung, sensibel und reflexiv mit Differenzsetzungen von Stadt und Land umzugehen. Schließlich geht es in solchen Forschungen in der Regel nicht um die Kontrastierung von Stadt und Land, sondern um die Besonderheiten des Erlebens lokal und regional geprägter Lebenswelten, die von den Befragten selbst relevant gesetzt werden (sollen).

An dieser Stelle setzt unser Beitrag zum Umgang mit Differenzsetzungen in Forschungen zu ländlichen Räumen an. In einem eigenen Forschungsprojekt ging es darum, zu untersuchen, wie in zwei ländlichen Gemeinden alltagskulturelles Wissen (Traditionen, Fertigkeiten, Dialekt, Sagen etc.) informell in unterschiedlichen intergenerationellen Gruppen (Familie, Vereine, Nachbarschaften etc.) ausgehandelt und weitergegeben wird (vgl. Kühn/Franz/Scheunpflug 2022). Dazu wurden Gruppendiskussionen mit entsprechenden Personengruppen durchgeführt und mithilfe der dokumentarischen Methode qualitativ-rekonstruktiv ausgewertet (vgl. Kap. 3). Im gesamten Forschungsprozess wurde dabei der Versuch unternommen, methodisch kontrolliert mit Differenzsetzungen von Stadt und Land umzugehen – einerseits, um diese nicht selbst als Forschende in Erhebungs- und Auswertungssituationen hinein zu tragen und andererseits, um deren Thematisierung seitens der befragten Bewohner*innen und Akteur*innen sensibel zu reflektieren. Vor dem Hintergrund unserer Erfahrungen wird in diesem Beitrag exemplarisch die Frage bearbeitet, wie methodisch-kontrolliert mit Diskurs prägenden Differenzsetzungen von Stadt und Land in Forschungen zu ländlichen Räumen umgegangen werden kann, um Wissensbestände zu ländlich geprägten Lebenswelten aus Sicht der dort lebenden Menschen offen zu erfassen.

Dazu wird in einem ersten Schritt ein systematischer Blick auf aktuelle Forschungs- und Theoriedebatten zu Ländlichkeit und ländlichen Räumen geworfen, um danach zu fragen, welche Umgangsweisen mit Differenzsetzungen von Stadt und Land dort bereits thematisiert werden (2). In einem zweiten Schritt wird unser Forschungsdesign genauer beschrieben und reflektiert, an welchen Stellen Stadt-Land-Differenzen zum Tragen kommen, bevor im dritten Schritt Reflexionen zum Umgang mit Differenzsetzungen im Forschungsprozess entfaltet werden (3). Dabei werden wir zunächst auf unser Vorgehen hinsichtlich des Feldzugangs eingehen und in einem zweiten Schritt auf den Umgang mit Differenzsetzungen im konkreten qualitativen Auswertungsverfahren (4). Abschließend werden wir in einem kurzen Fazit die Bedeutung solcher Reflexionsprozesse für qualitative Forschungen in ländlichen Räumen in den Blick nehmen (5).

2 Umgang mit Stadt-Land-Differenzsetzungen im Forschungsdiskurs

Um die Frage nach einem methodischen Umgang mit Stadt-Land-Differenzsetzungen in Forschungen systematisch zu bearbeiten, erscheint es zunächst wichtig, den Blick darauf zu richten, wie das Verhältnis von Stadt und Land in aktuellen Forschungsdiskursen zu Ländlichkeit und ländlichen Räumen thematisiert wird. Dabei können drei raumtheoretische Diskurslinien unterschieden werden, auf die im Folgenden schlaglichtartig eingegangen wird: Stadt-Land-Differenzen werden in Diskursen zur Klassifikation ländlicher Räume, zu territorialen Ungleichheiten urbaner und peripherer Räume und zu Konstruktionslinien von Ländlichkeit thematisiert.

2.1 Klassifikation ländlicher Räume: Typologien im Stadt-Land-Kontinuum

In einer ersten Diskurslinie geht es um die Klassifikation ländlicher Räume. Im Kontext der Raumplanung und -forschung wurden Kriterien geleitet Klassifikationen und Typologien erarbeitet, die auf raumstrukturellen und sozioökonomischen Merkmalen von Regionen beruhen. Vom Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumplanung werden beispielsweise Kreistypen klassifiziert, mit denen ländliche und städtische Räume entlang von Zentralität und Peripherie unterschieden werden (BBSR 2018). Durch die gewählten Kriterien werden hier „Informationen über Unterschiede und Entwicklungstrends“ bereitgestellt, durch die eine „Stadt-Land-Dichotomie“ (Küpper/Milbert 2020, S. 90f.) (re)produziert werde. Andere Ansätze zielen darauf ab, solche Dichotomien zu vermeiden und ein Kontinuum zwischen Stadt und Land sichtbar zu machen. So orientieren sich beispielsweise die Typen ländlicher Räume des Thünen-Instituts an siedlungsstrukturellen und sozioökonomischen Aspekten, um die „Vielfalt ländlicher Räume besser ab(zubilden) als reine Stadt-Land-Unterscheidungen oder eindimensionale Typisierungen“ (Küpper 2020, S. 7). Mit Klassifizierungsansätzen werden damit differierende Kriterien zur Bestimmung ländlicher und städtischer Räume eingesetzt, was auch dazu führt, dass der Grad an Ländlichkeit einer Region je nach Ansatz unterschiedlich ausfallen kann.

Im Hinblick auf den Umgang mit Differenzsetzungen zeigt die Diskurslinie der Klassifikationen, dass hier Dichotomien zwischen Stadt und Land gesetzt werden und dass diese Setzungen durch eine stärkere Orientierung an einem Stadt-Land-Kontinuum weiterentwickelt werden, um die Vielfalt ländlicher Räume sichtbarer zu machen (vgl. Redepenning 2022, S. 74; Küpper/Milbert 2020, S. 88). Gleichwohl erscheinen Differenzsetzungen in Kriterien geleiteten Ansätzen kaum vermeidbar und es gilt diese im Kontext von Forschungen in ländlichen Räumen explizit zu reflektieren, insbesondere, weil sich Förderlinien oft auf diese Klassifikationen stützen und ländliche periphere Untersuchungsregionen fokussieren (z.B. BMBF 2019).

2.2 Territoriale Ungleichheit: Lebensverhältnisse peripherer und zentraler Regionen

In einer zweiten Diskurslinie werden territoriale Ungleichheiten fokussiert. Dabei wird neben dem Besiedlungskriterium das der Lage hinzugezogen und eine Relation von peripheren und zentralen Regionen thematisiert, bei denen Ungleichheiten zu Ungunsten peripherer Regionen in den Mittelpunkt rücken, die tendenziell als strukturschwach charakterisiert werden (vgl. Küpper/Steinführer 2017, S. 45). Periphere Regionen werden dabei teilweise als „Raum ohne Zukunft“ beschrieben (vgl. Hefner/Redepenning/Dudek 2018, S. 108) und mit Aspekten der Abkopplung von Agglomerationsräumen, Abwanderung, Abhängigkeit und Stigmatisierung verbunden (z.B. Kühn/Weck 2013). Damit wird eine defizitäre Perspektive auf ländliche Räume impliziert, die sich auch in Diskussionen zur Teilhabe an (kulturellen) Bildungsangeboten entlang regionaler Disparitäten widerspiegelt (vgl. Kegler 2018) und mit Themen wie Bildungsungleichheit, Kulturarmut und Nachwuchsproblemen assoziiert wird (z.B. BMVBS/Berlin-Institut 2019). In diesem Diskursstrang wird gleichzeitig aber auch dieser defizitäre Blick kritisch reflektiert und für zukunftsoffene Sichtweisen auf territoriale Gerechtigkeit plädiert. Es ginge dann um eine Vorstellung von räumlicher Gerechtigkeit, „die Differenz als gleichberechtigt anerkennt und Verschiedenartiges zulässt“ (Barlösius/Neu 2007, S. 91).

Mit Blick auf den Umgang mit Differenzsetzungen in Forschungen zu ländlichen Räumen lässt sich zusammenfassen, dass im Diskurs zur territorialen Ungleichheit Stadt-Land-Differenzen in Form einer Differenzierung strukturstarker Zentren und strukturschwacher Peripherien reproduziert werden und um eine Überwindung der damit verbundenen defizitären Sicht auf ländliche Räume gerungen wird. Dieser Diskurs sensibilisiert in der Beforschung ländlicher Räume auch dafür, in entsprechenden Forschungen Ländlichkeit nicht per se mit unterschiedlichen Formen von Strukturschwäche in Relation zu setzen.

* * *

Sie möchten gerne weiterlesen? Dieser Beitrag ist in Heft 2-2023 unserer ZQF – Zeitschrift für Qualitative Forschung erschienen.

 

 

 

Mehr Leseproben …

… finden Sie auf unserem Blog.

 

© Unsplash 2024, Foto: Jeremy Ricketts