„Haltungen. Zugänge aus Perspektiven qualitativer Bildungs- und Biographieforschung“: Leseprobe

Cover "Haltungen. Zugänge aus Perspektiven qualitativer Bildungs- und Biographieforschung"

Eine Leseprobe aus den Seiten 9 bis 12 aus Haltungen. Zugänge aus Perspektiven qualitativer Bildungs- und Biographieforschung von Juliane Engel, Thorsten Fuchs, Christine Demmer und Christine Wiezorek (Hrsg.), Beitrag „Haltungen – Perspektiven der qualitativen Bildungs- und Biographieforschung“.

 

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Haltungen – Perspektiven der qualitativen Bildungs- und Biographieforschung

Juliane Engel, Christine Demmer, Thorsten Fuchs, Benjamin Jörissen, Christine Wiezorek

Erziehungs-, Sozialisations-, Lern- und auch Bildungsprozesse erzeu­gen Haltungen und werden unter dem Einfluss von Haltungen erzeugt. Jene Interaktionsgeschehen lassen sich durch die Haltungen und (wer­tenden) Einstellungen sowohl aufseiten der Adressat*innen des päda­gogischen Handelns als auch aufseiten der pädagogischen Akteure be­schreiben. Sie können implizit oder explizit vermittelt sein, intendiert oder in Form von nicht intendierten Folgen pädagogischen Handelns, eingelagert in den „pädagogischen Takt“ (Herbart 1895: 129), wirksam werden. In der Gestalt werden Haltungen tradiert wie auch transfor­miert. Dies gilt sowohl für klassische pädagogische Settings, die von interaktiven Vermittlungsprozessen ausgehen, als auch für Praktiken der Peer Culture, wie sie etwa im Kontext postdigitaler (jugend-)kultu­reller Szenen oder beispielsweise in politischen Bewegungen entstehen. An- und Einsätze der erziehungswissenschaftlichen Forschung unter­suchen diese Haltungen in Hinblick auf ihr orientierendes Potenzial und somit auch als ordnungs- und gesellschaftspolitische Phänome­ne. Gegenwärtig stellt sich vor dem Hintergrund zu verzeichnender antipluralistischer Tendenzen (vgl. Andresen / Oelkers 2018; Heitmeyer 2018) und unter der Signatur von (Post-)Globalisierungsbewegungen etwa die Frage, inwiefern pädagogisches Denken und Handeln in die­se Entwicklungen verstrickt sind (vgl. Koller 2023; Engel et al. 2021a), noch einmal neu und anders. Inwiefern sind sie gegebenenfalls sogar an einer Dissemination antidemokratischer Haltungen beteiligt bzw. inwiefern können sie dies verhindern und an der Stärkung demokra­tischer Haltungen mitwirken? Für zeitgemäße erkenntnis- und wis­senschaftspolitische Diskussionen einer erziehungswissenschaftlichen Erforschung von Haltungen scheinen sich insbesondere forschungs­methodologische Reflexionen zu eignen (vgl. Jergus / Thompson 2011; Ricken 2011), welche die eigene Involviertheit in die (Re-)Produkti­on sozialer Ungleichheit thematisieren (vgl. Spivak 2012; Chadderton 2018).Hierbei kann auch an Diskurse der Chicagoer Schule und deren konsequenten Fokus auf Prozesse sozialer Desintegration angeschlos­sen werden, der durch eine pluralistisch angelegte Methodenentwick­lung vorangetrieben wurde (vgl. Mead 1972, 2002, 2015; Engel et al. 2021b). In herrschaftskritischer Perspektive wird im Kontext der Cultu­ral Studies (vgl. Hall 1997) darauf verwiesen, wie kulturelle Praktiken in ihrer Machtförmigkeit und Prozesshaftigkeit ungleiche Verhältnis­se schaffen, und dabei der Blick für den kritischen Gesellschaftsbezug von Methodenentwicklungen geschärft. Aber auch wissenssoziologi­sche Forschungen haben die Entstehung neuer, pluraler Forschungs­methoden – etwa indem sie implizites Wissen als erkenntnispolitische Positionierung betonen – entscheidend inspiriert und die Methoden­entwicklung somit in wissenschaftspolitischer Haltung reflektiert (vgl. Mannheim 1980; Bohnsack 2017).

Aus einer autoritätssensiblen Perspektive erzeugen Haltungen Handlungsmacht, und Handlungsmacht wiederum erzeugt Haltun­gen (vgl. Foucault 1981; Butler 2001). Reflektiert man diese Prozesse im Kontext aktueller Transformationsdynamiken wie der Postkolonialität und Postdigitalität, die eine Dezentrierung des Subjekts zum Analy­segegenstand der Entstehung von Haltungen machen, so rücken Fra­gen verteilter Agency in den Vordergrund. Qualitative Bildungs- und Biographieforschung ist aufgefordert, diese sicht-, hör- und nachvoll­ziehbar zu machen sowie die dabei zum Tragen kommende eigene Si­tuiertheit, wie sie Haraway (1988) beschrieben hat, noch konsequenter in den Blick zu nehmen. Insbesondere aus postkolonialer Sicht ermög­licht eine hierfür erforderlich werdende Dezentrierung des westlichen Blicks auf die Entstehung von Haltungen (vgl. Said 1978; Spivak 1988) die hegemoniekritische Auseinandersetzung mit Bezeichnungsprakti­ken erziehungswissenschaftlicher Forschung.

Es lässt sich diskutieren, wie Haltungen empirisch sichtbar ge­macht werden können und beispielsweise bei Ritualen in Familien machtsensibel als Performativität des Erzieherischen zugänglich wer­den oder wie sie generations- und sozialisationstheoretische Reflexio­nen von Kindheit(en) inspirieren (vgl. Wulf et al. 2001; Audehm 2007; Andresen et al. 2011, 2015); wie sie im Kontext von Interaktionsord­nungen in der Schule (vgl. Asbrand 2009; Nohl 2019; Kessl et al. 2022) oder in der Kita (vgl. Hünersdorf et al. 2022) zum Tragen kommen und als Scharnier bei der Weitergabe und Transformation von Wissen fun­gieren. Die qualitativ-rekonstruktive Forschungsmethodik beschäftigt sich in diesem Zusammenhang stets mit erkenntnistheoretischen Fra­gen der empirischen Zugänglichkeit und einer (kritischen) Perspekti­vierung der Entstehung und Tradierung des orientierenden Potenzi­als von Haltungen. So etwa bei der Diskussion über (Un-)Möglichkei­ten ethnographischer Beobachtungen oder qualitativ-rekonstruktiver Videographieforschung, die auf die Analyse der diskursiven Verhan­delbarkeit von Haltungen, z. B. auf der Ebene von Mimik, Gestik und Performanz, abzielen. Gegenstandstheoretisch gewendet lässt sich so­dann untersuchen, wie über Blicke oder bestimmte Gesten Haltungen artikuliert, tradiert und transformiert werden (vgl. Engel et al. 2019b). Haltungen sind zudem sprachlich vermittelt und teilen sich sowohl auf einer expliziten als auch auf einer impliziten Ebene mit (vgl. Dietrich 2010; Dietrich et al. 2022; Nohl 2017): als explizite Bewertungen und als implizite Werthaltungen (vgl. Engel et al. 2019a; Engel et al. 2020).

Doch nicht nur menschliche Akteure sind bei der Hervorbringung von Haltungen beteiligt, sondern auch Architektur und soziomaterielle Ordnungen bringen auf einer beispielsweise körperlich-disziplinieren­den Ebene Haltungen hervor (vgl. Grabau / Rieger-Ladich 2014). Post­digitale Bildungstheorien wiederum problematisieren, dass die Entste­hung von Agency, also von Handlungsmacht, inzwischen stark durch „unsichtbare“ algorithmisierte Ordnungen geprägt ist und hier Fra­gen des Designs neue Subjektfigurationen hervorbringen. So ließe sich fragen, wessen Haltung in postdigitalen Settings überhaupt hervorge­bracht wird (vgl. Demmer / Engel 2022; Donner / Jörissen 2022).

Eine ungleichheitstheoretische Perspektive sensibilisiert quer zu diesen vielfältigen Gegenstandsfeldern für diskriminierende Haltun­gen, die Menschen in Forschung z. B. (un-)sichtbar werden lassen. So verdeutlicht Sasha Marianna Salzmann in ihren Arbeiten zu postmi­grantischen Lebenszusammenhängen, wie Fragen der Genese von Haltungen im Kontext von Zugehörigkeitsordnungen differenz- und herrschaftssensibel (vgl. hierzu auch Wrana et al. 2022; Wrana 2023) bearbeitet werden können. Sie reflektiert hierzu eine machtbezogene Dimension, wenn sie autoethnographisch betont:

Ich werde nie wissen, was es heißt, unsichtbar zu sein. […] Wie es ist, sich nicht ständig in Selbstgesprächen zu beschwichtigen, wenn man mehrmals am Tag gefragt wird, ob man Deutsch verstehe. Mich in der Menge aufzulösen, ist kei­ne Option für mich. Ich gehöre gleich mehreren Minderheiten an; das kaschie­ren zu wollen, birgt für mich größere Gefahren als meine Positionen zu benen­nen. (Salzmann 2019: 13)

An diesem Beispiel wird nachvollziehbar, wie eng die Entstehung von Haltungen an ihre Anerkennbarkeit geknüpft ist. Unsichtbarkeit wird in Salzmanns Argumentation als Phänomen diskutiert, das Bezeich­nungs- und Markierungspraktiken sowie damit verbundene Haltun­gen zugänglich macht. Sie beschreibt, was sie sein könnte, wenn sie nicht als different markiert würde. Verletzbarkeit bezieht sich bei ihr somit darauf, dass sie markiert wird und niemals unsichtbar in der Masse aufgehen kann. In anderen Argumentationsfiguren lassen sich jedoch auch Formen der Verletzbarkeit durch ein Unsichtbarsein bzw. -machen empirisch beobachten (vgl. Hall 1997; Engel et al. 2019a). Be­trachtet man Haltungen dementsprechend aus einer intersubjektivi­tätstheoretischen Perspektive, entstehen sie in Adressierungs- und An­rufungsprozessen, und es lässt sich danach fragen, „was zur Wahrneh­mung, zum ‚Erkennen‘ einer Person [eines Subjekts; d. A.] hinzutreten muss, um daraus einen Akt der Anerkennung zu machen“ (Honneth 2003: 11). In diesem Verständnis wird die Verletzbarkeit von Haltun­gen besonders deutlich. Welche Haltungen bleiben verborgen oder fin­den in pädagogischen Settings keinen Zuspruch, keine Anerkennung? Axel Honneth unterscheidet Grade der „Verletzbarkeit durch ein sol­ches Unsichtbarsein“ (ebd.: 12) danach, „wie aktiv das wahrnehmen­de Subjekt daran beteiligt ist“ (ebd.), Sichtbarkeiten oder Unsichtbar­keiten erzeugen zu können. Die hier angesprochene Aktivität knüpft er wiederum an die Medialität von Anerkennungsprozessen, d. h. an subjektivierende Artikulationspraktiken, wenn er betont: „[D]ie Aner­kennung ist im Unterschied zum Erkennen, das ein nicht-öffentlicher, kognitiver Akt ist, auf Medien angewiesen, in denen zum Ausdruck kommt, dass die andere Person ‚Geltung‘ besitzen soll“ (ebd.: 15). For­schungsmethodologisch und -methodisch wäre demnach zu fragen, wessen Haltungen wie sichtbar gemacht werden können, und gegen­standstheoretisch ist zu reflektieren, wie Praktiken der sozialen (Un-)Sichtbarmachung Artikulationsräume und -modi eröffnen können, die das Potenzial haben, als Anerkennungskontexte pluralisierende Hal­tungen hervorzubringen.

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Cover "Haltungen Zugänge aus Perspektiven qualitativer Bildungs- und Biographieforschung"Juliane Engel, Thorsten Fuchs, Christine Demmer, Christine Wiezorek (Hrsg.):

Schriftenreihe der DGfE-Kommission Qualitative Bildungs- und Biographieforschung, Bd. 7

 

 

 

Die Autor*innen

Prof. Dr. Juliane Engel, Goethe-Universität Frankfurt am Main
Prof. Dr. Thorsten Fuchs, Universität Koblenz-Landau
Jun.-Prof. Dr. Christine Demmer, Universität Bielefeld
Prof. Dr. Christine Wiezorek, Justus-Liebig-Universität Gießen

 

Über das Buch

Erziehungsprozesse bringen Haltungen hervor, tradieren und transformieren sie. Programmatische Fluchtpunkte von erziehungswissenschaftlicher Forschung, pädagogischen Prozessen, handlungsleitenden Orientierungen und Legitimationsmustern pädagogischen Handelns sind eng an gesellschaftliche Diskurse und Wandlungsprozesse, etwa der Digitalisierung und kulturelleren Pluralisierung geknüpft. Der Sammelband widmet sich insofern Fragen von Haltungen, die sich gegenstandsbezogen, methodologisch und methodisch diskutieren lassen.

 

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