„Um- und Abbrüche charakterisieren jedes wissenschaftliche Feld.“ – Interview mit den Herausgeber*innen von „Aufbrüche, Umbrüche, Abbrüche. Wegmarken qualitativer Bildungs- und Biographieforschung”

 

 

Über das Buch

Die Institutionalisierung qualitativer Bildungs- und Biographieforschung in der Erziehungswissenschaft reicht bis in das Jahr 1978 zurück. Es waren Dieter Baacke und Theodor Schulze, die mit ihrer Thematisierung der wissenschaftlichen Erschließung autobiographischer und literarischer Quellen für pädagogische Erkenntnisabsichten seinerzeit nicht nur die Grundlinien einer biographisch orientierten, narrativen Pädagogik formulierten und programmatische Hinweise zur „Einübung pädagogischen Verstehens“ gaben, sondern auch – zusammen mit anderen Fachvertretenden – Zugängen und Methoden der qualitativen Forschung insgesamt Raum und Gehör verschafften. Rund vierzig Jahre später blickt der Band genauer auf die Wegmarken in theoretischer, methodologischer und methodischer Perspektive. Welche Errungenschaften sind seitdem zu verbuchen? Welche der einst formulierten Anliegen sind uneingelöst geblieben? Welche Herausforderungen, Bruchstellen und Wendepunkte lassen sich ausmachen? Die Beiträge beleuchten damit Auf-, Um- und Abbrüche biographischer Pädagogik sowie qualitativer Bildungs- und Biographieforschung.

 

Liebe Herausgeber*innen, bitte fassen Sie den Inhalt Ihrer aktuellen Publikation Aufbrüche, Umbrüche, Abbrüche für unsere Leser*innen zusammen.

Thorsten Fuchs: Der Band beschäftigt sich mit einem Stück Disziplingeschichte der Kommission Qualitative Bildungs- und Biographieforschung, ohne allerdings rein im Historischen zu verbleiben. Indem bis in die 1970er-Jahre hinein zurückgeblickt wird, um auf der einen Seite die wissenschaftlichen Errungenschaften und Erträge in der Entwicklung zu bilanzieren, auf der anderen Seite aber auch auszuloten, welche der einst formulierten Anliegen trotz aller offensichtlichen Fortschritte uneingelöst und damit auf der Strecke geblieben sind, erfolgt eine Betrachtung der zurückgelegten Wege wie auch aktuellen Debatten. Die Perspektive auf den Zusammenhang von Aufbrüchen, Umbrüchen und Abbrüchen in der wissenschaftlichen Entwicklung ist hierbei leitend und wird in insgesamt 15 Beiträgen, die der Band umfasst, für die qualitative Bildungs- und Biographieforschung genauer inspiziert.

Christine Wiezorek: Solche Um- und Abbrüche charakterisieren im Grunde genommen jedes wissenschaftliche Feld. Bestehendes wird revidiert oder sogar gänzlich fallen gelassen, Neues kommt auf – mancherlei Vorschlag zur Weiterentwicklung stößt auf fruchtbaren Boden, findet breite Anerkennung und etabliert sich. Kurzum: Umbrüche gehen einher mit neuen Aufbrüchen. Welche Theorien waren ehemals zentral, welche sind es nun? Wie kam es vor allem zu dem Wandel? Solche Fragen werden in dem Band aufgeworfen, aber die Antworten beziehen sich nicht nur auf den Bereich der Theorieentwicklung, sondern werden auch im Hinblick auf das breite Spektrum von methodologischen und methodischen Veränderungen gegeben.

Christine Demmer: Zum Beispiel wird im Beitrag von Sabine Reh die Herausbildung einer qualitativ konzeptualisierten Unterrichtsforschung in den 1950er- und 60er-Jahren zum Thema gemacht und ermittelt, wie es dazu kam, dass ein interaktionistisches Verständnis von Unterricht und schulischem Lernen zunächst in zentralen bundesdeutschen Institutionen der Bildungsforschung ausgearbeitet worden ist, sodann aber von einem anderen Paradigma abgelöst wurde, sodass sich keine Kontinuität in der Ausarbeitung dieser qualitativ-empirischen Unterrichtsforschung einstellen konnte. Viele Jahre bzw. sogar Jahrzehnte später musste Unterrichtsforschung mit qualitativen Mitteln und Erkenntnismöglichkeiten neu gestaltet werden. Solche Einblicke sind es, die Um- und Abbrüche als denknotwendige Bedingungen von Aufbrüchen sehen lassen und vorsichtig machen, rasch von Fortschritten in allen Belangen einer Wissenschaftsentwicklung zu sprechen. Dies unterstreichen die Beiträge des Bands auf je unterschiedliche Weise, wenn sie an den Wegmarken qualitativer Bildungs- und Biographieforschung ‚verweilen‘, sie analysieren und konkretisieren.

 

Wie kamen Sie auf die Idee, dieses Buch herauszugeben? Gab es einen „Stein des Anstoßes“?

Christine Wiezorek: Der Anlass war gleich durch ein doppeltes Jubiläum begründet, als die Arbeit an dem Band ihren Anfang nahm: die Aufnahme des Wegs biographischer Pädagogik auf dem 1978er-Kongress in Tübingen und die 1998 vollzogene Etablierung als eigenständige Kommission in der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft – seinerzeit zunächst noch unter der Bezeichnung „Erziehungswissenschaftliche Biographieforschung“. Im Jahr 1978 waren es Dieter Baacke und Theodor Schulze, die mit ihrem Vorhaben der wissenschaftlichen Erschließung autobiographischer und literarischer Quellen für pädagogische Erkenntnis zunächst nicht nur die Grundlinien einer biographisch orientierten, narrativen Pädagogik formulierten und programmatische Hinweise zur „Einübung pädagogischen Verstehens“ vorlegten. Sie sorgten zusammen mit anderen Fachvertretenden jener Stunde hierdurch auch dafür, dass qualitativen Zugängen und Methoden im erziehungswissenschaftlichen Denken insgesamt eine viel größere Bedeutung zukam als zuvor.

Thorsten Fuchs: Man kann also sagen, dass der „prosperierende Wissenschaftszweig“, von dem zur Etikettierung der qualitativen Forschung gesprochen wurde, in der Erziehungswissenschaft ganz wesentlich auf diese Initialzündung des Jahres 1978 zurückgeführt werden kann. 20 Jahre später – im Jahr 1998 – hat dieses Bemühen insofern Früchte getragen, als innerhalb der neuformierten Sektion „Allgemeine Erziehungswissenschaft“ die Arbeit als eine von vier Kommissionen verstetigt und ausgebaut werden konnte.

Christine Demmer: In Anbetracht dieser Lage hatte seinerzeit Theodor Schulze, der für den Band seine Sicht der Dinge in einem Interview übrigens nochmals ausführt, mit einer einprägsamen Metapher davon gesprochen, dass eine Landschaft regelrecht ‚aufgeblüht‘ sei.

 

Welche Themenverschiebungen lassen sich im Laufe der über 40 Jahre bestehenden qualitativen Bildungs- und Biographieforschung ausmachen?

Thorsten Fuchs: Dazu ließe sich eine ganze Menge sagen. Vermutlich kann ohne Übertreibung festgehalten werden, dass in den zurückliegenden Jahrzehnten die sichtbarsten Innovationen der qualitativen Bildungs- und Biographieforschung im Methodischen liegen. Nicht nur sind die Verfahren selbst, deren Geburtsstunden vielfach in den späten 1970er-Jahren liegen, seit ihrer Hervorbringung permanent weiterentwickelt worden. Auch haben sie sich teilweise enorm ausdifferenziert und es sind neue hinzugekommen. Andere Verfahren hingegen können im Diskurs der qualitativen Bildungs- und Biographieforschung kaum noch Geltung beanspruchen und Anerkennung finden, weil sie etwa nicht länger als methodisch kontrollierte Verfahren aufgefasst werden. Zugleich werden einige Facetten, wie z.B. die vor einigen Jahren noch intensiv diskutierte Triangulation eher nicht mehr breit thematisiert – vermutlich, weil sie inzwischen zum state of the art wurden. Und es kann festgestellt werden, dass sich die Konzentration auf Texte in ihrer ‚Reinform‘ mehr und mehr verloren hat. Denn inzwischen gehört es zum Alltag der Forschungspraxis qualitativer Forscher*innen ebenso hinzu, dass etwa Bilder und Videos berücksichtigt werden. Sie stellen ein ungemein reichhaltiges Quellenmaterial dar, das mit eigenen methodischen Zugängen zu erschließen ist.

Christine Demmer: Auch in der Theorieentwicklung hat sich viel getan. Die seinerzeit besonders akzentuierten interaktionistischen, psychoanalytischen, sozialgeschichtlichen und ideologiekritischen Ansätze sind nicht mehr unbedingt diejenigen, die aktuell den Ton angeben. Bildungs- und subjektivationstheoretische Ansätze wurden zuletzt sehr breit aufgenommen. Aktuell sind es u.a. machtkritische Konzepte und Perspektiven der Postcolonial Studies, die der qualitativen Bildungs- und Biographieforschung neue Impulse geben.

 

Und welche Aspekte qualitativer Bildungs- und Biographieforschung werden Ihrer Einschätzung nach künftig stärker in den Fokus rücken?

Christine Demmer: Die aktuellen Diskussionen um Digitalität und Open Data deuten darauf hin, dass sich das Areal qualitativer Bildungs- und Biographieforschung zukünftig in teils noch nicht abzusehender Weise verändern wird.

Christine Wiezorek: Datenschutz, Archivierung, Forschungsethik und Sekundärnutzung qualitativer Daten, also der gesamte Bereich des Forschungsdatenmanagements stellt vor dem Hintergrund der Vereinfachung und Veralltäglichung von Möglichkeiten, Daten zu erheben, zu teilen und auszuwerten, komplexe Anforderungen an die wissenschaftliche Forschung. Seit 2018 gibt es einen regen Austausch hierzu – und das über die Kommissionsgrenzen hinaus. Einiges hat sich bereits getan, zwei Stellungnahmen sind etwa hierzu erschienen. Aber es wird deutlich, dass noch viel in Bewegung zu setzen ist.

Thorsten Fuchs: Vielleicht auch noch ein Punkt, der mir gegenstandsbezogen auf die Frage erwähnenswert ist. Es bieten auch Formate wie TikTok-Videos und andere soziale Medien einen Anlass, um über postdigitale Biographien nachzudenken und zugleich auch Möglichkeiten zu entwickeln, sie erforschen zu können. Noch weiter geht sicherlich ein Aspekt, den Theodor Schulze in seinem Interview erwähnt, wenn er darin das Thema Künstliche Intelligenz anspricht und nach Biographisierungen von Robotern fragt. Das erscheint aktuell vielleicht gar nicht mehr so sehr weg, auch wenn die Antwort hierauf sicherlich noch eine offene ist.

 

Darum sind wir Autor*innen bei Budrich

Thorsten Fuchs: Seit vielen Jahren bin ich bereits Autor beim Verlag Barbara Budrich, mehrere Beiträge sind in den Büchern und betreuten Zeitschriften erschienen und an einigen Mitherausgeberschaften war ich beteiligt. Sehr positiv fällt mir auch auf, dass die Mitarbeiter*innen des Verlags mit Ideen auf den Kommissionsvorstand und mich zukommen, ohne dabei aufdringlich zu sein. Das finde ich richtig gut. Daher freue ich mich schon auf die nächsten Bücher, die demnächst erscheinen werden. Drei haben wir aktuell in Vorbereitung – aufregend, aber dank der Professionalität auf Seiten des Verlags bin ich dann im Grunde genommen doch gelassen.

Christine Demmer: Seit 2016 besteht nun auch schon die eigene Schriftenreihe der Kommission Qualitative Bildungs- und Biographieforschung bei Barbara Budrich, wobei festzuhalten ist, dass auch schon die ganzen Jahre zuvor die Tagungsbände ausschließlich an dieser für uns ‚ersten Adresse‘ veröffentlicht wurden. Auch einschlägige Promotionen erscheinen mittlerweile in unserer Schriftenreihe. Ich schätze sehr die Zuverlässigkeit der Mitarbeiter*innen vom Verlag Barbara Budrich und auch insgesamt das Unkomplizierte in den Absprachen.

Christine Wiezorek: Den Einschätzungen kann ich mich voll und ganz anschließen. Es sind durchweg nur positive Erfahrungen, von denen ich berichten kann. Vielen herzlichen Dank dafür – und auch für die Gelegenheit, ein Interview zu unserer Neuerscheinung führen zu können.

 

Kurzvitae der Herausgeber*innen in eigenen Worten

Prof. Dr. Thorsten Fuchs hat die Fächer Erziehungswissenschaft, Philosophie, Soziologie und Psychologie an den Universitäten Koblenz-Landau und Wuppertal sowie Deutsch und Philosophie/Ethik an der Justus-Liebig-Universität Gießen studiert. In Gießen wurde er im Jahr 2010 promoviert. Nach mehreren Jahren wissenschaftlicher Tätigkeit an der Universität Wien sowie einer Professurvertretung an der Pädagogischen Hochschule Freiburg wurde er im Jahr 2017 zum Professor für Allgemeine Erziehungswissenschaft an die Universität Koblenz-Landau, Campus Koblenz berufen.

 

Jun.-Prof. Dr. Christine Demmer studierte Lehramt für die Primarstufe an der Universität Siegen und war anschließend Stipendiatin der Montag Stiftung Jugend und Gesellschaft. Im Jahr 2012 wurde sie promoviert. Nach ihrer Beschäftigung als Wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Allgemeinen Pädagogik wechselte sie 2015 nach Bielefeld, um eine Juniorprofessur für Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt qualitative Forschungsmethoden unter besonderer Berücksichtigung von schulischer Inklusion zu übernehmen.

 

Prof. Dr. Christine Wiezorek studierte Erziehungswissenschaft an der Freien Universität Berlin. In mehreren Forschungsprojekten war sie daraufhin als Mitarbeiterin tätig. Im Jahr 2003 wurde sie in Jena promoviert, 2012 folgte die Habilitation. Nach Professurvertretungen in Jena ist sie seit 2013 Professorin für Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Pädagogik des Jugendalters an der Justus-Liebig-Universität Gießen.

 

 

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Thorsten Fuchs, Christine Demmer, Christine Wiezorek (Hrsg.):

Aufbrüche, Umbrüche, Abbrüche. Wegmarken qualitativer Bildungs- und Biographieforschung

Schriftenreihe der DGfE-Kommission Qualitative Bildungs- und Biographieforschung, Band 5

Auch im Open Access verfügbar.

 

© Herausgeber*innenfotos: privat