„Aufbrüche, Umbrüche, Abbrüche“: Leseprobe

Aufbrüche, Umbrüche, Abbrüche

Wegmarken qualitativer Bildungs- und Biographieforschung

von Thorsten Fuchs, Christine Demmer und Christine Wiezorek (Hrsg.)

 

Über das Buch

Die Institutionalisierung qualitativer Bildungs- und Biographieforschung in der Erziehungswissenschaft reicht bis in das Jahr 1978 zurück. Es waren Dieter Baacke und Theodor Schulze, die mit ihrer Thematisierung der wissenschaftlichen Erschließung autobiographischer und literarischer Quellen für pädagogische Erkenntnisabsichten seinerzeit nicht nur die Grundlinien einer biographisch orientierten, narrativen Pädagogik formulierten und programmatische Hinweise zur „Einübung pädagogischen Verstehens“ gaben, sondern auch – zusammen mit anderen Fachvertretenden – Zugängen und Methoden der qualitativen Forschung insgesamt Raum und Gehör verschafften. Rund vierzig Jahre später blickt der Band genauer auf die Wegmarken in theoretischer, methodologischer und methodischer Perspektive. Welche Errungenschaften sind seitdem zu verbuchen? Welche der einst formulierten Anliegen sind uneingelöst geblieben? Welche Herausforderungen, Bruchstellen und Wendepunkte lassen sich ausmachen? Die Beiträge beleuchten damit Auf-, Um- und Abbrüche biographischer Pädagogik sowie qualitativer Bildungs- und Biographieforschung.

Leseprobe aus den Seiten 9 bis 13

 

Einleitung

von Thorsten Fuchs, Christine Demmer und Christine Wiezorek

Aufbrüche, Umbrüche, Abbrüche – das sind mithin nicht nur elemen­tare Verlaufsformen von Biographien, von denen es heißt, dass sie in der Spätmoderne vielfältiger werden. Aufbrüche, Umbrüche und Ab­brüche lassen sich auch zur Beschreibung der Theoriebildung in einem abgesteckten thematischen Feld oder auch in ganzen wissenschaftli­chen Disziplinen heranziehen. Durch Aufbrüche entstehen neue The­men, die Altes hinter sich lassen, sich ihren Weg bahnen, zu neuen wissenschaftlichen Orientierungen werden und sogar zum „Paradig­menwechsel“ (Kuhn 1973: 83) führen können. Insbesondere letzteres geschieht zwar nicht sonderlich häufig; zumindest deutlich seltener als der Begriff für Veränderungen im Wissenschaftssystem Verwen­dung findet. Revolutionen, die radikal Neues an die Stelle bisheriger Probleme und (Macht-)Strukturen setzen, sind im wissenschaftlichen Feld – wie auch in der Politik – eher die Ausnahme denn die Regel (vgl.Schubert/Klein 2018: 287). Dass Themen- und Methodenkonjunkturen jedoch im wissenschaftlichen Feld immer wieder und aufs Neue aus­zumachen sind, die sich in Form von Aufbrüchen konkretisieren, dürf­te unbestreitbar sein (vgl. Stroß/Thiel 1998; Reichertz 2009). Und viel­leicht kann man die Ursachen von solchen Aufbrüchen dabei durchaus nach den Kriterien unterscheiden, die auch die Kausalität von Revo­lutionen zu erläutern vermögen: jene nämlich von exogenen und en­dogenen. Als exogene Ursachen von Aufbrüchen lassen sich dann ge­sellschaftliche Entwicklungen begreifen, die eine Veränderung der ge­gebenen wissenschaftlichen Gestalt geradezu notwendig machen.Das, was es in der Gesellschaft zu beobachten, zu beschreiben oder zu ana­lysieren gilt, kann erst auf der Basis neuer Theorien und Methoden an­gemessen untersucht werden.Endogene Ursachen wiederum lassen sich auf ein systeminternes Movens der Veränderung zurückführen – wie der Unmut über Unzulänglichkeiten etablierter Denkfiguren, etwa begründet durch die Einsicht, dass diese mit ideologischen Anschau­ungen einhergehen, die nicht länger breite Zustimmung in einer Scien­tific Community erfahren können.Nach beiden Varianten geht der Auf­bruch Hand in Hand mit einem Umbruch.Neues kommt auf, Beste­hendes wird revidiert oder sogar gänzlich fallen gelassen. Derartige Entwicklungen sind zunächst und zumeist von einer Offenheit charak­terisiert. Sie setzen eine Ordnung außer Kraft und damit Irritationen frei.Das kann durchaus eine produktive Seite haben – gibt aber auch Anlass für Ungewissheit und das Risiko des Fehlgehens.Es stellen sich insofern Fragen wie: Ist das neu Entstehende belastbar? Ist es tragfä­higer als das, was einer Veränderung ausgesetzt worden ist? Oder er­weist es sich bei Lichte betrachtet und nach einigem zeitlichen Abstand als eine Illusion, von der nicht nur Sigfried Bernfeld (1925) behauptet hat, dass die Pädagogik recht anfällig für sie sei? Dies bedeutet: Um­brüche müssen sich implizit im Forschungsgeschehen oder explizit – d.h.nach eingehender Prüfung – bewähren.Wenn dabei festgestellt werden kann, dass die Umbrüche eine breite Palette an wissenschaft­lichen Weiterführungen ermöglicht haben, dann wird man spätestens einige Jahre danach die Veränderung als wegweisend bilanzieren und sie als durch und durch gelungen nobilitieren können.Wenn aber of­fensichtlich wird, dass Neues nicht mit Besserem koinzidiert und das im Prozess des Umbruchs Verworfene mithin mancherlei gute Ant­wort hätte geben können, nun aber nicht mehr so rasch zu revitalisie­ren ist, weil seine Zugänge verschüttgegangen sind, dann bleibt – so­fern überhaupt noch möglich – nur der Weg der aufwändigen Spuren­suche auf zurückgelegten Wegen.

Aufbrüche, Umbrüche, Abbrüche – das war auch das Motto der 2018er-Jahrestagung, die von der Kommission „Qualitative Bildungs- und Biographieforschung“ an der Universität Koblenz ausgetragen wurde.Der Anlass der Tagung war gleichsam ein doppelter: die Auf­nahme des Wegs einer Institutionalisierung ziemlich genau vier De­kaden davor auf dem 1978er-DGfE-Kongress in Tübingen und die 1998 vollzogene Etablierung als eigenständige Kommission (zunächst unter der Bezeichnung „Erziehungswissenschaftliche Biographiefor­schung“). Seinerzeit waren es Dieter Baacke und Theodor Schulze, die mit ihrem Vorhaben der wissenschaftlichen Erschließung autobiographischer und literarischer Quellen für pädagogische Erkenntnis nicht nur die Grundlinien einer narrativen Pädagogik formulierten und programmatische Hinweise zur „Einübung pädagogischen Ver­stehens“ (Baacke/Schulze 1979a) vorgelegt hatten, sondern auch qua­litativen Zugängen und Methoden im erziehungswissenschaftlichen Denken insgesamt stärker Raum und Gehör verschafften – zusammen mit anderen Fachvertretenden jener Stunde.20 Jahre später – im Jahr 1998 – hat dieses Bemühen insofern Früchte getragen, als innerhalb der neuformierten Sektion „Allgemeine Erziehungswissenschaft“ die Arbeit als eine von vier Kommissionen verstetigt werden konnte (vgl.Krüger/Marotzki 1999: 7; Cloer 2002: 123).

Es liegt so besehen auf der Hand, dass sich bis ins Jahr 2018 eine ganze Reihe von Aufbrüchen ereigneten: zunächst eben jener von Die­ter Baacke und Theodor Schulze (1979b: 7) initiierte, der von der Inten­tion geleitet gewesen ist, innerhalb der wissenschaftlichen Pädagogik ein „neues Terrain“ (ebd.), wie sie es seinerzeit formulierten, „zu er­obern“ (ebd.). Wenngleich sie keine Revolution wollten, so artikuliert sich doch der große Veränderungswille – nachzulesen in der ein Jahr später veröffentlichen Publikation – darin, dass jegliche „umfassende gesellschaftskritische Programmatik fehlgeht, wenn sie nicht den An­schluß im Subjekt sucht“ (ebd.). Seinen Niederschlag fand dies in der Wertschätzung von Lebensgeschichten, die nicht nur „generelle Struk­turmomente menschlicher Entwicklung und Selbstverständigung greifbar“ (ebd.) werden lassen sollten, sondern auch einem „kritischen Diskurs“ (ebd.: 10) Geltung verschaffen wollten. Schon seinerzeit wur­de zur Umsetzung eines solchen Vorhabens im Band auf ganz unter­schiedliche Theorien rekurriert und ganz unterschiedliche Methoden zur Anwendung gebracht: Es hieß, dass geneigte Lesende „weder ein einheitliches Methodenverständnis noch einen identischen theoreti­schen Bezugsrahmen finden“ (ebd.: 8) werden. Und dennoch: Die be­stehenden Gemeinsamkeiten waren gewiss nicht zufälliger Art.Me­thodologisch verorteten Baacke und Schulze sie „entlang der beiden Linien Objektivität versus Subjektivität und Ausschnitt versus Ganzes“ (ebd.: 9), wobei Subjektivität als eine doppelte verstanden wurde: die der Auswahl und Zusammenstellung des Erzählten einerseits, die der Deutung durch die Interpretierenden andererseits. Unter inhaltlicher Fokussierung wiederum war es das gemeinsame Interesse an „einer Reihe von Begriffen wie ‚Fall‘, ‚kritisches Ereignis‘, […] Schlüsseler­lebnis‘, ‚Knotenpunkt‘“ (ebd.) usw., die in ihrem dialektischen Zusam­menhang von individueller Lebensgeschichte und gesellschaftlichem Allgemeinen aufzuklären waren. Dass diese Auseinandersetzung of­fensichtlich nachhaltig gewesen ist, dokumentiert sich im Erscheinen einer „Neuauflage“ (Baacke/Schulze 1993a) des Vorhabens, aus Ge­schichten zu lernen, in der die beiden Herausgeber 15 Jahre nach der Erstveröffentlichung bilanzieren konnten, nicht mehr von Grund auf dem Interesse an Lebensgeschichten und autobiographischen Reflexi­onen zusprechen zu müssen, da sich inzwischen ein ganzes Programm hierzu entfaltet habe und entsprechende methodische Zugänge in der Erziehungswissenschaft etabliert werden konnten.Als im Jahr 1998 dann aus der ehemaligen Arbeitsgruppe eine Kommission innerhalb der Sektion „Allgemeine Erziehungswissenschaft“ wurde, war das Feld so weit bestellt, dass der Stand ihrer Forschungen in dem sogleich folgenden ersten „Handbuch Erziehungswissenschaftliche Biographie­forschung“ (Krüger/Marotzki 1999) zusammengetragen werden konn­te – durchaus in Ergänzung zu etlichen weiteren Handbüchern und Überblickswerken, die Ende der 1990er Jahre erschienen sind.Zu nen­nen sind etwa der Band „Erziehungswissenschaftliche Biographiefor­schung“ von Heinz-Hermann Krüger und Winfried Marotzki (1995), das „Handbuch Qualitative Forschung in der Erziehungswissenschaft“ von Barbara Friebertshäuser und Annedore Prengel (1997), „Biogra­phieforschung und Kulturanalyse“ (1998) von Ralf Bohnsack und Win­fried Marotzki sowie „Biographische Methoden in den Humanwissen­schaften“ von Gerd Jüttemann und Hans Thomae (1998). In Anbetracht dieser Lage hat Theodor Schulze (1995: 13) in Aufnahme einer einpräg­samen Metapher davon gesprochen, dass eine Landschaft regelrecht aufgeblüht ist.

Weitere Aufbrüche kündigen sich hier schon an. Unter anderem sollte es darum gehen, „die Verfahren der Interpretation und Deutung zu verfeinern“ (Baacke/Schulze 1993b: 9) oder auch „eine fortlaufende Bibliographie [aufzubauen], die […] alle veröffentlichten und halbver­öffentlichten Materialien“ (Schulze 1995: 23) im Nexus von Erziehungs­wissenschaft und Biographie verzeichnet.Damals wurde das noch als ein Stück „Hoffnung“ (Baacke/Schulze 1993b: 10) verstanden. Weitere 20 Jahre später – im Jahr 2018, als die Kommissionstagung stattfand, – hat sich das Bild abermals verändert: um den metaphorischen Sprach­gebrauch wieder aufzunehmen – die Landschaft sieht durch Raum­gewinnung anders aus, das Areal ist deutlich größer geworden, was sich nicht zuletzt in der Bezeichnung „Qualitative Bildungs- und Bio­graphieforschung“ widerspiegelt.Es sind dadurch etliche neue Ge­wächse dazugekommen – in theoretisch und methodisch mannigfalti­ger Ausprägung. Auch neue Wege wurden beschritten, breite Straßen wie verschlungene Pfade.Nicht nur sind die Verfahren selbst, deren Geburtsstunden vielfach in den späten 1970er Jahren liegen, seit ihrer Hervorbringung permanent weiterentwickelt worden.Auch haben sie sich teilweise enorm ausdifferenziert. Vielfältiger ist zudem das Ma­terial geworden, dem sich empirisch angenommen wird: Denn inzwi­schen gehört es zum common sense, dass über Texte hinaus etwa Bil­der und Videos ein ungemein reichhaltiges Quellenmaterial darstellen, das mit eigenen methodischen Zugängen zu erschließen ist (vgl. Koke­mohr/Koller 1994; Friebertshäuser/von Felden/Schäffer 2007). Worüber ehemals noch intensiv diskutiert werden musste, konnte zur Selbstver­ständlichkeit bzw.zum state of the art gerinnen, wie z.B.die Frage nach der Triangulation (vgl. Ecarius/Miethe 2018). Und thematische Zugän­ge, für die man zuvor noch intensiv hatte werben müssen und denen eine besondere Begründungsbedürftigkeit abverlangt wurde, gehören inzwischen zum Kernbestand qualitativer Bildungs- und Biographie­forschung.Die aktuelle Diskussion um Datenspeicherung und die Idee von Open Data deuten darauf hin, dass sich das Areal qualitativer Bil­dungs- und Biographieforschung auch zukünftig in teils noch nicht ab­zusehender Weise verändern wird.

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Thorsten Fuchs, Christine Demmer und Christine Wiezorek (Hrsg.):
Aufbrüche, Umbrüche, Abbrüche. Wegmarken qualitativer Bildungs- und Biographieforschung

Schriftenreihe der DGfE-Kommission Qualitative Bildungs- und Biographieforschung, Band 5

© Titelbild gestaltet mit canva.com