Ahndung geschlechtsbezogener und sexualisierter Gewalt als Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Deutschland

Femina Politica – Zeitschrift für feministische Politikwissenschaft 2-2022: Das deutsche Völkerstrafgesetzbuch als Austragungsort transnationaler Kämpfe um die Ahndung sexualisierter Gewalt in bewaffneten Konflikten

Das deutsche Völkerstrafgesetzbuch als Austragungsort transnationaler Kämpfe um die Ahndung sexualisierter Gewalt in bewaffneten Konflikten

Karina Theurer

Femina Politica – Zeitschrift für feministische Politikwissenschaft, Heft 2-2022, S. 41-56.

 

Zusammenfassung

Dieser Beitrag beschäftigt sich mit der Ahndung geschlechtsbezogener und sexualisierter Gewalt als Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Deutschland. Im Januar 2022 wurde im weltweit ersten Völkerstrafverfahren zu Folter in syrischen Haftanstalten ein ehemaliger Geheimdienstmitarbeiter vom Oberlandesgericht Koblenz wegen sexualisierter Gewalt als Verbrechen gegen die Menschlichkeit verurteilt. Dieses Strafverfahren ist aus feministischer juristischer Perspektive ein Meilenstein: Erstmals wurde der diesbezügliche Straftatbestand des Völkerstrafgesetzbuchs (§ 7 Abs. 1 Nr. 6 VStGB) erfolgreich in ein laufendes Verfahren eingebracht und der Angeklagte auch tatsächlich dafür verurteilt. Zudem vertrat die Bundesanwaltschaft eine dezidiert völkerrechtsfreundliche Auslegung des Straftatbestands der sexuellen Nötigung. In dieser Klarheit und Eindeutigkeit wurde diese Auslegung bis dahin eher von einer Minderheit feministischer und intersektional denkender Jurist*innen vertreten. Wird Recht als Verdichtung gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse begriffen, könnte das Koblenzer Verfahren einen Wendepunkt darstellen: weg von Strafbarkeitslücken im Völkerstrafgesetzbuch (VStGB) und hin zu einem nationalrechtlichen Völkerstrafrecht, das die Ermittlung und Ahndung aller sexualisierten und geschlechtsbezogenen Straftaten ermöglicht, die nach dem Statut des Internationalen Strafgerichtshofs strafbar sind.

Schlagwörter: Völkerstrafgesetzbuch, sexualisierte Gewalt/geschlechtsbezogene Gewalt, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, transnationale Normgenerierung, feministische Rechtswissenschaft

 

The German International Criminal Code as a Site of Transnational Struggles over the Punishment of Sexualised Violence in Armed Conflicts

Abstract

This article deals with the prosecution of sexual and gender-based violence as crimes against humanity in Germany. In January 2022, in the world’s first criminal trial on torture in Syrian detention centers, a former intelligence officer was convicted of sexual violence as a crime against humanity by the Higher Regional Court in Koblenz. From a feminist legal perspective, this trial is a milestone: for the first time, the relevant criminal legal norm of the German Code of Crimes against International Law (Section 7 (1) No. 6 CCAIL) was successfully introduced into an ongoing trial and the defendant was convicted of the crime. In addition, the Federal Prosecutor’s Office adopted a decidedly pro-international-law interpretation of the criminal offense of “sexuelle Nötigung” (sexual coercion) contained in Section 7 (1) No. 6 CCIL. Until then, this interpretation had been advocated for in this clarity and unambiguity only by a minority of feminist and intersectional lawyers. If law is understood as a condensation of societal power relations, the Koblenz proceedings could represent a turning point: Away from criminal liability gaps in the German Code of Crimes against International Law (CCAIL) towards a German criminal law that enables the investigation and punishment of all sexual and gender-based crimes that can be investigated and prosecuted under the statute of the International Criminal Court.

Keywords: International Criminal Code, sexual violence/gender-based violence, crimes against humanity, transnational norm generation, feminist jurisprudence

 

Einleitung

Am 13. Januar 2022 (OLG Koblenz 2022) und am 24. Februar 2021 (OLG Koblenz 2021) ergingen zwei Entscheidungen des Oberlandesgerichts Koblenz (OLG Koblenz) im weltweit ersten Strafverfahren zu Staatsfolter in syrischen Gefängnissen. Anwar R. und Eyad A. wurden wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit sowie wegen Beihilfe dazu zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt. Geführt wurde der Prozess auf der Grundlage des völkergewohnheitsrechtlich anerkannten Weltrechtsprinzips: Dieser Grundsatz ermöglicht die weltweite Ermittlung, Verfolgung und Ahndung eines international anerkannten Korpus strafrechtlicher Tatbestände unabhängig vom Tatort und von der Nationalität der Täter*innen oder Opfer vor nationalen Gerichten.1 Historisch bedeutsam sind die Entscheidungen, weil erstmals gerichtlich festgestellt wurde, dass die syrische Regierung spätestens seit Ende April 2011 einen ausgedehnten und systematischen Angriff auf die Zivilbevölkerung führte, und weil zwei ehemalige Mitarbeiter des syrischen Geheimdienstes für dabei begangene Verbrechen gegen die Menschlichkeit verurteilt wurden.

Warum ist das Verfahren vor dem Oberlandesgericht Koblenz und die Entscheidung vom 13. Januar 2022 gerade aus deutscher Perspektive ein Meilenstein in transnationalen Normgenerierungsprozessen um sexualisierte Gewalt in bewaffneten Konflikten? Zunächst deshalb, weil zum ersten Mal in der Geschichte des deutschen Völkerstrafrechts eine Anklage wegen sexualisierter Verbrechen gegen die Menschlichkeit nach § 7 Abs. 1 Nr. 6 des deutschen Völkerstrafgesetzbuches (VStGB) nachträglich in ein laufendes Verfahren aufgenommen und der Angeklagte, Anwar R., auch dafür verurteilt wurde. Hinzu kommt, dass die Bundesanwaltschaft eine bis dahin primär von zivilgesellschaftlichen feministischen Akteur*innen vorgebrachte juristische Auslegung des § 7 Abs. 1 Nr. 6 VStGB vertrat, die auf Völkerrechtskonformität im Hinblick auf das Römische Statut des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH-Statut) abstellt. Konkret wählte sie nun im Koblenzer Verfahren einen pragmatischen Umgang mit der Tatbestandsalternative der „sexuellen Nötigung“ in § 7 Abs. 1 Nr. 6 VStGB, die bei der Schaffung des Völkerstrafgesetzbuches – wie ich im Weiteren zeigen werde – in widersprüchlicher Weise aus dem IStGH-Statut übertragen und zu starr an einen Tatbestand des nationalrechtlichen Strafgesetzbuches (StGB) angelehnt wurde. Die ausdrückliche Klarstellung der Bundesanwaltschaft im Koblenzer Verfahren macht es Ermittlungsbehörden und Praktiker*innen zukünftig einfacher, sexualisierte Gewalt gemäß § 7 Abs. 1 Nr. 6 VStGB nach internationalen strafrechtlichen Standards auszulegen. Bisher war eine primär völkerrechtskonforme Auslegung nur unter erhöhtem Begründungsaufwand möglich, weil der besagte Tatbestand in widersprüchlicher Weise zugleich nach nationalem und nach internationalem Strafrecht ausgelegt werden sollte. Insgesamt kann festgehalten werden, dass durch die ausdrückliche völkerrechtskonforme Auslegung durch die Bundesanwaltschaft nunmehr Strafbarkeitslücken im Bereich sexualisierter Gewalt bei der Anwendung des VStGB im Vergleich zum IStGH-Statut besser vermieden werden können – bis die deutsche Legislative die nötige gesetzgeberische Reform und die Anpassung des Wortlauts des § 7 Abs. 1 Nr. 6 VStGB an das IStGH-Statut vollzogen haben wird.

Wie war es im Bereich sexualisierter Gewalt zu Strafbarkeitslücken im deutschen Völkerstrafrecht im Vergleich zum IStGH-Statut gekommen? Nachdem das IStGHStatut als Grundlage der Arbeit des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) im Jahr 1998 international verhandelt und angenommen worden war, musste die Bundesregierung eine Entscheidung darüber treffen, auf welche Weise dessen Straftatbestände in das deutsche Recht Eingang finden sollten. Sie entschied sich dafür, eine Arbeitsgruppe einzusetzen, um einen Entwurf eines gesonderten Völkerstrafgesetzbuchs (VStGB) zu erarbeiten, das neben das nationale Strafgesetzbuch (StGB) treten würde. Ausdrückliches Ziel dieses Völkerstrafgesetzbuchs sollte sein, alle Straftatbestände des IStGH-Statuts auch nach deutschem Recht strafrechtlich verfolgen zu können (Bundestags-Drucksache 14/8524, 12-13). Dies geschah auch im Hinblick auf fast alle Straftatbestände durch das im Jahr 2002 in Kraft getretene Völkerstrafgesetzbuch. Allerdings wurde der im Hinblick auf geschlechtsbezogene, sexualisierte und reproduktive Gewalt progressive Artikel 7 Abs. 1 lit. g des IStGH-Statuts sehr restriktiv in das deutsche VStGB übertragen. Meiner Annahme zufolge ist dieser Vorgang ein zentrales Beispiel dafür, wie progressive internationale Rechtsetzung in nationalen Rechtskontexten konterkariert und ausgebremst werden kann. Dieses Phänomen scheint gerade im Bereich geschlechtsbezogener Gewalt kein Einzelfall zu sein.2 In diesem Beitrag stelle ich dar, inwiefern im VStGB Strafbarkeitslücken existieren und welche Bedeutung das Verfahren in Koblenz und insbesondere die Entscheidung vom 13. Januar 2022 für eine weltweite Ahndung sexualisierter Gewalt hat. Zudem zeige ich, welche rechtlichen Interventionen aus einem Netzwerk zivilgesellschaftlicher feministischer und intersektional denkender Akteur*innen im deutschen Kontext bisher stattfanden, um sexualisierte Gewalt als Verbrechen gegen die Menschlichkeit gemäß § 7 Abs. 1 Nr. 6 VStGB in das Verfahren in Koblenz einbringen zu können und so dazu beizutragen, die im Völkerstrafgesetzbuch eingeschriebene geschlechtsbezogene Diskriminierung abzumildern. Die leitende Fragestellung dieses Beitrags ist folglich, inwiefern das deutsche Völkerstrafgesetzbuch ein Austragungsort transnationaler Kämpfe um Ahndung geschlechtsbezogener, sexualisierter und reproduktiver Gewalt ist und welche Fortschritte im Verlauf des Koblenzer Verfahrens errungen werden konnten.

Wenn wir transnationale Normgenerierungsprozesse als fortwährende Kämpfe um die Schaffung, Umsetzung und (Neu-)Auslegung von Recht weltweit begreifen, die eben nicht nur international, sondern auch innerhalb nationaler Rechtsordnungen und weiterhin auch transnational, mithin innerhalb eines komplexen und fragmentierten Mehrebenensystems, ausgefochten werden (Buckel 2008), so wird auch das deutsche Völkerstrafrecht und spezifisch die Norm des § 7 Abs. 1 Nr. 6 VStGB als Austragungsort transnationaler Auseinandersetzungen um die rechtliche Anerkennung des Unrechts sexualisierter Gewalt weltweit erkennbar. Insbesondere die Bemühungen des schon erwähnten Netzwerks feministischer und intersektional denkender Jurist*innen in Deutschland, die sich für die regelmäßige Einbeziehung des § 7 Abs. 1 Nr. 6 VStGB in strafgerichtlichen Verfahren sowie für die völkerrechtskonforme Auslegung aller Tatbestandsalternativen dieser Norm einsetzten, sind ein Beispiel für erfolgreiche Partizipation und Intervention. Sie trugen maßgeblich dazu bei, die beiden genannten Meilensteine zu ermöglichen und beeinflussten transnationale Normgenerierungsprozesse so ganz wesentlich.

Um dies zu zeigen, werde ich in diesem Beitrag zunächst die mangelhafte Übertragung der Straftatbestände des IStGH-Statuts zu geschlechtsbezogener und sexualisierter Gewalt im deutschen Kodifizierungsprozess des Völkerstrafgesetzbuchs nachzeichnen. Ich werde die dadurch entstandenen Strafbarkeitslücken vorstellen, die eine geschlechtsbezogene Diskriminierung in Strafverfahren aufgrund des Weltrechtsprinzips in Deutschland im Vergleich zu Verfahren vor dem IStGH darstellen. Ich beschreibe die rechtlichen Interventionen in Deutschland, die darauf abzielten, im Koblenzer Verfahren die Ahndung sexualisierter Gewalt nach internationalen Standards zu ermöglichen, bevor ich die in diesem Verfahren errungenen Meilensteine zusammenfasse. Insgesamt zeigt der Beitrag aus rechtswissenschaftlicher Perspektive, wie strategische Prozessführung in einem deutschen Völkerstrafverfahren eingesetzt wurde, um die Ahndung sexualisierter Gewalt als Verbrechen gegen die Menschlichkeit nach internationalen Standards weltweit durchzusetzen, und wie somit das deutsche Völkerstrafgesetzbuch als Austragungsort transnationaler Normgenerierungsprozesse begriffen werden kann.

Die mangelnde Berücksichtigung geschlechtsbezogener Gewalt im deutschen Völkerstrafgesetzbuch – eine rechtshistorische Einordnung

In ihren Ausführungen zu transnationalen Normgenerierungsprozessen im Bereich sexueller Sklaverei in bewaffneten Konflikten zeichnet Sonja Buckel (2008) detailliert eine Kultur der Straflosigkeit für Gewaltverbrechen gegen Frauen auf globaler Ebene noch während der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nach. Sie bezieht sich dabei primär auf Normen des internationalen Rechts und rechtsförmige Verfahren auf internationaler Ebene. Als Meilenstein des Aufbrechens dieser Kultur der Straflosigkeit und mithin erfolgreicher transnationaler Normgenerierungsprozesse zur zunehmenden rechtlichen Anerkennung und Ahndung geschlechtsbezogener – und somit auch sexualisierter – Gewalt nennt sie die Kodifizierung des IStGH-Statuts. Im Juni und Juli 1998 wurden die Grundlagen der Arbeit des Internationalen Strafgerichtshofs sowie die einzelnen Straftatbestände, die seiner Jurisdiktion unterstehen sollten, von Verhandlungsdelegationen unterschiedlichster Staaten in Rom erörtert und schließlich als Vertragstext angenommen. Entgegen teils massiver Widerstände einzelner Verhandlungsdelegationen konnten geschlechtsbezogene, sexualisierte und reproduktive Gewalt als Verbrechen gegen die Menschlichkeit und als Kriegsverbrechen ausdrücklich – und zudem im Vergleich zu den meisten nationalrechtlichen Strafrechtsordnungen – in recht progressiver Weise in diesem Vertragstext als Straftatbestände kodifiziert werden. Insofern teilen auch zahlreiche andere Autor*innen Buckels Einschätzung und beschreiben das IStGH-Statut als vorläufigen Kulminationspunkt eines transnationalen gegenhegemonialen Projekts zur strafrechtlichen Anerkennung und Ahndung geschlechtsbezogener, sexualisierter und reproduktiver Gewalt (Steains 1999; Seibert-Fohr 2006; Schabas 2016; Altunjan/Steinl 2021).

Buckels (2008) Ansatz, Recht als materielle Verdichtung gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse zu lesen und transnationale Normgenerierungsprozesse daraufhin zu rekonstruieren, ist deshalb so gewinnbringend für die Frage nach dem VStGB als Austragungsort transnationaler Rechtskämpfe, weil er die Ungleichzeitigkeit des Erfolgs der sozialen Kämpfe um strafrechtliche Anerkennung und Ahndung geschlechtsbezogener und sexualisierter Gewalt sowohl auf der internationalen Ebene als auch im deutschen Kontext nachvollziehbar macht. Trotz dieser Ungleichzeitigkeit sind die jeweiligen Kämpfe weltweit aber untrennbar miteinander in einem transnationalen Normgenerierungsprozess verwoben, da mittlerweile zuvor (stärker) getrennte Ebenen der Rechtsetzung (etwa international und national), aber auch öffentliche und private Rechtsnormen (und Akteur*innen) in komplexer Weise miteinander verschränkt sind und sich in der Folge gegenseitig beeinflussen und voneinander abhängen. Zahlreiche Rechtstheoretiker*innen verweisen auf diese Transnationalität der Entstehungs-, Umsetzungs- und Wirkungsweise von Recht (Zumbansen 2005; Hanschmann 2008). Nachzuvollziehen, warum die Straftatbestände des IStGH-Statuts zu Beginn nur unzulänglich im Hinblick auf geschlechtsbezogene und sexualisierte Gewalt in das deutsche Völkerstrafgesetzbuch umgesetzt wurden und welche Interventionen im deutschen Kontext nachträglich dazu führten und weiterhin dazu beitragen, die bestehenden Strafbarkeitslücken zu schließen – und damit wiederum auch die internationalen Standards zu stärken –, ist auch von Bedeutung für die Forschung um strategische Prozessführung. Retrospektiv zu verstehen, weshalb konkrete (lokale) gegenhegemoniale Projekte Eingang in den (weltweiten) Mainstream finden konnten, eröffnet zwar sicherlich noch keine Garantie für zukünftige Erfolge (Weiss 2019). Es trägt aber dazu bei, auf Butterfly-Politics hinwirken und darauf hinarbeiten zu können, durch rechtliche Interventionen systemische Veränderungen im Verständnis geschlechtsbezogener Gewalt herbeizuführen und dadurch zu einer Veränderung der Rechtsnormen und einer Verschiebung gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse beizutragen (MacKinnon 2017).

Eine der Normen des IStGH-Statuts, die beispielhaft für die Ende des 20. Jahrhunderts progressive internationale Rechtsetzung im Strafrecht stehen, ist Art. 7 Abs. 1 lit. g IStGH-Statut. Dieser Strafnorm zufolge sind Vergewaltigung, sexuelle Sklaverei, Nötigung zur Prostitution, erzwungene Schwangerschaft, Zwangssterilisation oder jede andere Form sexueller Gewalt von vergleichbarer Schwere als Verbrechen gegen die Menschlichkeit einzustufen, wenn sie im Rahmen eines ausgedehnten oder systematischen Angriffs gegen die Zivilbevölkerung begangen werden. Im Jahr 1999, als das Bundesjustizministerium – der Entscheidung der Bundesregierung entsprechend – eine Arbeitsgruppe mit der Kodifizierung eines Völkerstrafgesetzbuches zur Umsetzung des IStGH-Statuts beauftragte, war sexualisierte Gewalt in Deutschland demgegenüber nur unter engen Voraussetzungen überhaupt strafbar. Die einschlägige Norm im deutschen Strafrecht war §177 StGB.

In einer Studie aus dem Jahr 2014 dokumentierte das Deutsche Institut für Menschenrechte (DIMR), inwiefern der bis 2016 geltende §177 StGB in seiner Anwendung zur Straflosigkeit bei sexualisierter Gewalt führte: Vergewaltigung und sexuelle Nötigung waren überhaupt nur strafbar, wenn das vermeintliche Opfer beweisen konnte, sich gegen sexualisierte Gewalt gewehrt oder sich infolge einer unmittelbar auf die Durchsetzung der sexualisierten Gewalt gerichteten Drohung gegen Leib und Leiben nicht gewehrt zu haben (Rabe/Normann 2014). Eine gesetzgeberische Reform zur Strafbarkeit von Vergewaltigungen und sexueller Nötigung durch das Ausnutzen einer schutzlosen Lage durch den Täter war durch eine restriktive Auslegung der Tatbestandsmerkmale durch den Bundesgerichtshof (BGH) praktisch zunichte gemacht worden (Hörnle 2016). Beispielsweise wurde das Vorliegen einer Vergewaltigung nach §177 StGB (in seiner damaligen Fassung) in einem Fall verneint, in dem eine Frau gegenüber ihrem Partner gesagt hatte, sie wolle keinen Analverkehr und auch während des Geschlechtsverkehrs weinte, aber bewusst darauf verzichtete, sich lauthals zu wehren, um angesichts des früher bereits gewalttätig gewordenen Mannes ihre zwei im Nebenzimmer schlafenden Kinder zu schützen (BGH, 20. März 2012, 4 StR 561/11). In einem anderen Fall wurde die Vergewaltigung einer Jugendlichen nach §177 StGB (in seiner damaligen Fassung) verneint, weil der Täter sie zwar absichtlich zu einem verlassenen Anwesen gelockt hatte, letztlich aber – laut Ansicht des Gerichts – der Überraschungsmoment und nicht Angst angesichts der Abgeschiedenheit des Orts dazu geführt habe, dass die Frau sich nicht ausreichend gewehrt habe (BGH, 8. November 2011, 4 StR 445/11). Die vom Bundesgerichtshof entwickelte ‚objektive‘ ex-post-Perspektive sowie die ständige Rechtsprechung zu einem möglichen Irrtum des Täters über den entgegenstehenden Willen des Opfers, aber auch die regelmäßigen diskriminierenden Nachfragen nach möglicher Promiskuität und sexuellen Vorlieben der Opfer sind Paradebeispiele für einen in das materielle Recht verwobenen patriarchalen männlichen Blick, wie ihn Susanne Baer (2001) oder auch Catharine MacKinnon (1989, 237-249) beschreiben. Insgesamt dominierte im deutschen Kontext in den 1990er-Jahren und bis zur Reform im Jahr 2016 eine diffuse Angst davor, die Strafbarkeit sexualisierter Gewalt adäquat rechtlich anzuerkennen, weil Sexualität nicht mehr unbeschwert gelebt werden könne und es zu unzähligen Falschanzeigen kommen würde (Fromme 2003; Lembke 2012; Hörnle 2016). Im Jahr 2016 wurde dann der Ansatz „Nein ist Nein“ ins deutsche Strafrecht eingeführt. Seitdem ist gemäß §177 StGB (in seiner neuen Fassung) auch der sexuelle Übergriff strafbar (Altunjan/Steinl 2021).

Wie stark die Kultur der Straflosigkeit bezüglich sexualisierter Gewalt in den 1990er-Jahren in Deutschland verankert war, lässt sich auch daran ablesen, wie zahlreiche Abgeordnete des Bundestages auf die ersten Anträge reagierten, Vergewaltigung in der Ehe unter Strafe zu stellen. Nicht wenige von ihnen lachten oder lehnten sich demonstrativ in ihren Sesseln zurück, und dies obwohl Bundestagsdebatten öffentlich sind. Reproduktive Rechte, die den Frauen in der Deutschen Demokratischen Republik gewährt worden waren, wurden nach der Wiedervereinigung für das gesamte Bundesgebiet wieder eingeschränkt. Insgesamt lässt sich konstatieren, dass die sozialen Kämpfe um strafrechtliche Anerkennung und Ahndung geschlechtsbezogener und sexualisierter Gewalt sowie um reproduktive Rechte in Deutschland in den 1990er-Jahren im Vergleich zu feministischen Rechtskämpfen auf internationaler Ebene und im internationalen Recht trotz kleinerer Erfolge, wie die Anerkennung der Vergewaltigung in der Ehe, stagnierten.

Die Übertragung der Straftatbestände des IStGH-Statuts in das bundesdeutsche Völkerstrafgesetzbuch ist vor dem Hintergrund dieses Status Quo einer androzentrischen Rechtsauslegung und darauf bezogener gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse zu lesen. Insofern überrascht es nicht, dass das Hauptargument der Arbeitsgruppe zur Abwehr einer geschlechtergerechten Kodifizierung des VStGB darin bestand, dass die Straftatbestände des IStGH-Statuts zu geschlechtsbezogener und sexualisierter Gewalt teils zu weit gingen. Juristisch argumentierte sie, dass einzelne Straftatbestände dem in Deutschland geltenden verfassungsrechtlichen Bestimmtheitsgrundsatz nicht genügten (Werle 2001). Artikel 103 Abs. 2 des Grundgesetzes (GG) fordert, dass die Voraussetzungen der Strafbarkeit so konkret umschrieben sein müssen, dass Tragweite und Anwendungsbereich der Norm erkennbar sind und sich durch Auslegung ermitteln lassen. Die Wahrnehmung, dass die Straftatbestände des IStGH-Statuts zu weit gingen und es mithin im Vorfeld nicht mehr bestimmbar sei, welche Handlungen darunterfallen würden, ist beachtlich, weil die Verhandlungsdelegationen aus allen Ländern weltweit stammten und gerade der Abschlusstext zu Art. 7 Abs. 1 lit. g IStGH-Statut ohnehin nur den kleinsten gemeinsamen Nenner darstellte (Schabas 2016). Im Hinblick auf die mangelnde Bestimmtheit des Auffangtatbestands der sexualisierten Gewalt im IStGH-Statut lässt sich entgegenhalten, dass die Vergleichbarkeit mit den anderen Tatbeständen des Art. 7 Abs. 1 lit. g IStGH-Statut ausreichende Konkretisierung ermöglicht (Schwarz 2019). Dass ausnahmslos alle vom Bundesjustizministerium in die Arbeitsgruppe berufenen Personen männlich waren (Gebauer 2012, Rn. 7), mag dazu beigetragen haben, dass weder persönliche Erfahrungen geschlechtsbezogener Diskriminierung noch kritische, feministische Perspektiven ausreichend Eingang in die Betrachtung der damals geltenden Strafnormen zu geschlechtsbezogener Gewalt fanden.3

1 Zum Weltrechtsprinzip mit spezifischem Bezug zu Strafverfahren in Deutschland und zu den in Syrien begangenen Verbrechen vgl. vertiefend Kaleck/Kroker (2018).
2 Interessant sind diesbezüglich gegenwärtig wieder restriktiver werdende Abtreibungsgesetze in einzelnen nationalen Rechtsordnungen wie den USA oder Polen; dazu und für weitere Beispiele: Scheele/Roth/Winkel 2022.
3 Feministische, intersektional denkende Rechtstheoretiker*innen wie Susanne Baer (2004, 2008) oder Anna Katharina Mangold (et al. 2021) weisen beständig auf die Bedeutung von Diversität sowohl in Rechtsetzungs- als auch in Rechtsdurchsetzungsprozessen hin. Zum Nischendasein feministischer Rechtstheorie an juristischen Fakultäten in Deutschland vgl. Beate Rudolf (2006).

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