Unsichtbares aus der Vergangenheit: Repräsentation in Rundgängen an Erinnerungsorten

ZISU – Zeitschrift für interpretative Schul- und Unterrichtsforschung 13 (2024): Unsichtbares sichtbar machen. Zur Praxis der Repräsentation mittels (digitaler) Visualisierungen an Erinnerungsorten

Unsichtbares sichtbar machen. Zur Praxis der Repräsentation mittels (digitaler) Visualisierungen an Erinnerungsorten

Olga Neuberger

ZISU – Zeitschrift für interpretative Schul- und Unterrichtsforschung, Heft 13 (2024), S. 45-61.

 

Zusammenfassung

Der Beitrag widmet sich der Praxis der Repräsentation in Rundgängen an einem Erinnerungsort. Vor dem Hintergrund des pädagogisch zu bearbeitenden Handlungsproblems der Sicht- und Unsichtbarkeit von Vergangenheit wird entlang von dichten Beschreibungen zweier Situationen herausgearbeitet, dass es zu einer Synchronisierung verschiedener Zeitschichten kommt. Unsichtbares aus der Vergangenheit wird dabei in Form von (digitalen) Bildern materialisiert und in ein Verhältnis zum lokalen Standort gesetzt. Die Materialisierung von Unsichtbarem hat im Fall der digitalen Raumbilder einen Anteil daran, dass die Repräsentationspraxis der Logik der Simulation folgt, sodass es zu einer räumlichen Verortung in der vergangenen Zukunft kommt.

Schlagwörter: Außerschulischer Lernort, Rundgang, NS-Gedenkstätte, Zeigen, Bilder, Virtual Reality, Ethnographie

 

Making the invisible visible. On the practice of representation using (digital) visualisations at memorial places

This article is dedicated to the practice of representation in guided tours of memorial places. Against the background of the pedagogical problem of the visibility and invisibility of the past, thick descriptions of two situations show that a synchronisation of different layers of time occurs. The invisible from the past is materialised in the form of (digital) visualisations that are placed in a relationship to the local location. In the case of digital spatial images, the materialisation of the invisible plays a part in the fact that the practice of representation follows the logic of simulation. As a result, a spatial positioning in the past future occurs.

Keywords: Out-of-School-Learning, guided tour, Nazi Memorial, representation, Virtual Reality, ethnography

 

1. Einleitung

Erinnerungsorte stellen zentrale Schauplätze der historischen Bildungsarbeit dar. Die Besonderheit des pädagogischen Vermittlungsgeschehens besteht darin, dass es „vom Ort aus[geht] und am Ort statt[findet]“ (Haug 2015b: 160).1 Mit dem Verständnis des Ortes „als steinernem Zeugen“ (Haug 2015b: 160) geht dabei häufig die Vorstellung einer unmittelbaren Sichtbarkeit von Vergangenheit einher. Allerdings ist nie ein unverstellter Blick auf Vergangenheit gegeben – unter anderem, weil sich unterschiedliche Zeitschichten am Ort überlagern (vgl. Haß 2015: 180). In Teilen sind zwar bauliche Überreste zu sehen, nicht aber damit in Verbindung stehende historische Ereignisse oder Deutungen des Ortes. Damit diese zum Lerngegenstand werden, bedarf es Kontextualisierungen und interaktiver Aushandlungen über sie, was ein Zeigen auf etwas Unsichtbares (vgl. Flügel & Landrock 2020: 71) einschließen kann. Ein etabliertes Format, in dem dies geschieht, sind Rundgänge vor Ort. In ihnen geht es „einerseits [darum], im Führungsnarrativ deduktiv von dem Sichtbaren oder Sichtbar-zu-Machenden auszugehen, und es andererseits induktiv mit Geschichten und Deutungsangeboten zu füllen” (Heyl 2015: 153). Die „ortsgebundene Pädagogik“ (Haug 2015b: 158) ist insofern spannungsreich: Sie bewegt sich zwischen Sicht- und Unsichtbarkeiten. Zur Bearbeitung dieses Handlungsproblems wird auf Repräsentationen zurückgegriffen. Diese organisieren Wissen und bieten Orientierung (vgl. Werneke 2022: 408). Repräsentationen können unterschiedliche Formen annehmen, z. B. Erzählungen oder (digitale) Visualisierungen. Als bedeutsame Repräsentation erweisen sich zudem die baulichen Überreste an den Orten (vgl. Knoch 2020: 22). In Rundgängen existiert in der Regel eine Vielzahl an Repräsentationen nebeneinander. Hier schließt der vorliegende Beitrag an und widmet sich der Praxis ausgewählter Repräsentationen an einem Erinnerungsort. Von Interesse ist, wie gegenwärtige Perspektiven auf Vergangenheit durch verschiedene Repräsentationen strukturiert sind.

Im Folgenden wird ein Verständnis von Repräsentationen entfaltet (2.) und anschließend ein Überblick zum Forschungsstand zu Rundgängen an Erinnerungsorten gegeben (3.). Nach einer Darstellung des methodischen Vorgehens (4.) wird die Logik der Repräsentationspraxis anhand von zwei Situationen aus verschiedenen Rundgangsformaten rekonstruiert (4.1 und 4.2) und kontrastiert (4.3). Im Fazit (5.) werden die Befunde vor dem Hintergrund des oben skizzierten Handlungsproblems perspektiviert.

2 Repräsentationen

Die Rede von Repräsentationen impliziert vier Bedeutungsebenen: etwas darstellen, vorstellen, abbilden und etwas stellvertreten (vgl. Werneke 2022: 407). Gemeinsam ist diesen Bedeutungsebenen, „dass sie sowohl den Aspekt der Stellvertretung eines Dinges oder einer Person in Abwesenheit als auch in Vergegenwärtigung und Darstellung eines Gegenstandes oder einer Person in ihrer Anwesenheit umfassen können“ (Werneke 2022: 407). Repräsentationen werden medial vermittelt. In einem weiten Verständnis von Medien kann u. a. zwischen Sprache (mündlich und schriftlich) und Abbildungstechnologien (z. B. Bilder) unterschieden werden (vgl. Kalthoff & Cress 2019: 377). Für die historische Bildung ließen sich Gebäude und architektonische Baureste als weitere Repräsentationen ergänzen (vgl. Knoch 2020: 22). Sie sind nicht allein „Kulisse“ (Heyl 2015: 153), sondern Dokumente der Vergangenheit, die stellvertretend für vergangene Ereignisse stehen.

In verschiedenen Disziplinen herrscht Konsens darüber, dass zwischen einem Sachverhalt und seiner Repräsentation keine 1:1-Entsprechung besteht (vgl. Krämer 2008; Hall 1982). Repräsentationen können vielmehr als Übersetzungen gefasst werden: Es herrscht zwar eine Referenzialität zwischen Gegenstand und Repräsentation, indem die Repräsentation stellvertretend für etwas steht und etwas darstellt, ohne aber es selbst zu sein. Repräsentationen sind insofern weit mehr als reine Veranschaulichungen von Inhalten (vgl. Haug 2015a: 290). Sie sind bereits interpretierte Gegenstände und stellen zugleich Interpretationsangebote bereit. Sie eröffnen „Sichtweisen einer Wirklichkeit“ (Burke 2003: 155) und präfigurieren dadurch das Was und Wie der Rezeption. Verkompliziert wird das Verständnis der Referenzialität von Gegenstand und Repräsentation dadurch, dass die Darstellungsleistung von Medien in der Regel verborgen bleibt (vgl. Krämer 2008: 28): Nicht der Bildrahmen wird gesehen, sondern das Bild. Es entsteht ein Eindruck von Unmittelbarkeit.

Erziehungswissenschaftliche Arbeiten zu Repräsentationen lassen sich in der Mediendidaktik finden. Hier werden unterschiedliche Darstellungsformen anhand von Codierungsarten und Sinnesmodalitäten unter der Frage nach der (angemessenen) Gestaltung von Lernsettings behandelt (vgl. Herzig & Aßmann 2011: 344). Proske und Niessen (2017: 3-4) weisen darauf hin, dass es zwar begrifflich-systematische erziehungswissenschaftliche Arbeiten zur Repräsentation – etwa unter dem Vermittlungsbegriff – gibt, Repräsentationen aber bisher kaum in ihrer Performativität analysiert worden sind. Hier schließt der Beitrag am Beispiel von Rundgängen an Erinnerungsorten an.

3 Forschungsstand zu Rundgängen an Erinnerungsorten2 und ihren Repräsentationen

Angeleitete Rundgänge gehören zu den häufigsten pädagogischen Angeboten an Erinnerungsorten (vgl. Haug 2015b: 161; Scharnetzky 2015: 239). Sie bezeichnen eine „geregelte Form der Erklärung von Gegenständen (Realien), Gebäuden, Topografien und, sich auf diese und externe Quellen beziehend“ (Gudehus 2006: 20). Insgesamt ist die Anzahl an Arbeiten zu Rundgängen – im Vergleich zu anderen Forschungssträngen wie der Besucher- oder Wirkungsforschung (zusammenfassend Werker 2016) – überschaubar. Dies gilt insbesondere für erziehungswissenschaftliche Analysen. Bei den meisten Arbeiten zu Rundgängen handelt es sich um Erfahrungsberichte mit teils normativer Konnotation (vgl. z. B. Scharnetzky 2015, Ehmann et al. 1995). Ein Großteil der Forschungsarbeiten ist zudem evaluativ ausgerichtet (vgl. z. B. Zumpe 2012; Christmeier 2009). Stärker an qualitativ-sinnverstehenden Zugängen orientierte Arbeiten widmen sich konkreten Interaktionen mit Fokus auf den kommunikativen Umgang mit dem Ort (vgl. Haug 2015a) sowie die kommunikative Herstellung des Lerngegenstands und der Adressierung als Lernsubjekte (vgl. Flügel & Landrock 2020). Darüber hinaus wurden Strukturen des Gedenkens (vgl. Haug 2015a) und darin wirkende Anerkennungsordnungen (vgl. Vehse 2020) sowie Paradoxien, z. B. in der Vermittlung von Wissen und

Werthaltungen vor dem Hintergrund der öffentlichen Erwartung einer Erziehung nach Ausschwitz (vgl. Proske & Haug 2022; Meseth 2008) erschlossen. Von Interesse waren bisher zudem spezifische Zielgruppen, etwa Schul- (vgl. Rechberg 2020; Haug 2015a) oder Kindergruppen (vgl. Flügel & Landrock 2020).

Ausgewählte Untersuchungen nehmen konkrete Repräsentationen wie das Erzählen in den Blick. Gudehus (2006) arbeitet für 16 Rundgänge in vier Gedenkstätten heraus, dass die in den Erzählungen eingeschriebenen Narrative an Moralisierungen und Emotionalisierungen der historischen Ereignisse orientiert sind. Die Analysen von Klei (2011) zur Architektur als Repräsentation legen nahe, dass bauliche Überreste einen Anteil daran haben, dass Besucher*innen den Ort als strukturiert und mit eindeutigen Funktionen statt als mehrschichtig und sich über die Zeit verändernd wahrnehmen. Die Forschung zur Eigenlogik des Einsatzes von (digitalen) Visualisierungen in der pädagogischen Vermittlungsarbeit steht trotz ihrer Omnipräsenz (vgl. Schwan 2022: 539) noch am Anfang. Das schließt auch Untersuchungen zu den sich zunehmend verbreitenden Virtual-Reality Technologien3 (VR) ein (kritisch dazu: Wagner 2020). Mit der Technologie wird die Distanz zwischen dem Medium und seinen Rezipient*innen via Head-Mounted Displays oder anderen Trackingsystemen so verringert, dass es ihnen möglich wird, digitale Bildräume zu begehen und von ihnen umschlungen zu werden (vgl. Hochscherf et al. 2011: 9). Przybylka (2022: 441) hat dies als „Entrahmung der Bildlichkeit“ beschrieben. Der Effekt der Unmittelbarkeit wird dadurch vermutlich verstärkt.

Anschließend an das ausgewiesene Handlungsproblem der Sicht- und Unsichtbarkeit von Vergangenheit sowie der Annahme, dass es zwar eine Verbindung zwischen dem Gegenstand und seiner Repräsentation gibt, aber keine abbildungstreue Entsprechung, richtet der Beitrag den Blick auf die Praxis der Repräsentation. Mir geht es im Folgenden darum, Repräsentationen als Hervorbringungen von Lerngegenständen zu betrachten (s. auch Proske & Niessen 2017: 4). Eine solche Perspektive betrachtet Repräsentationen als Inszenierungen und betont, dass mit Repräsentationen stets ein stiftendes Moment einhergeht: Ein Sachverhalt und die auf ihn eingenommene Perspektive wird durch seine Repräsentation zu einem spezifischem (vgl. Kalthoff & Cress 2019: 378). In der Rekonstruktion, wie sich die Praxis der Repräsentation ereignet, zeigt sich – so der Ausgangspunkt des Beitrags –, wie das Handlungsproblem der Sicht- und Unsichtbarkeit von Lerngegenständen situativ in Rundgängen bearbeitet wird.

1 Gegenwärtig ist zu beobachten, dass historische Orte zunehmend digital repräsentiert und dadurch digital besucht werden können. Die Fragen, wodurch diese Repräsentationspraxis gekennzeichnet ist und inwiefern damit ein Wandel in der Ortsgebundenheit der Pädagogik (Haug 2015b) einhergeht, kann hier nicht weiter berücksichtigt werden.
2 Ich spreche von Erinnerungsort, um der Selbstbezeichnung des Feldes zu folgen. In der Literatur ist die Bezeichnung als Gedenkstätte gebräuchlicher, wenngleich damit meist im engeren Sinne Konzentrationslager gemeint sind (vgl. Knoch 2020: 21). Teilweise wird zwischen Opfer- und Täterorten differenziert (vgl. Rechberg 2020: 24). Bei dem hier betrachteten historischen Ort handelt es sich um einen Täterort.
3 Die Anwendungen, die unter diesem Begriff formieren, reichen von digitalen Repräsentationen räumlicher Umgebungen bis hin zu digitalen Repräsentationen von Zeitzeug*innen in Form von Hologrammen. Das mit dieser Technologie in Verbindung stehende Konzept der Immersion (vgl. Hochscherf et al. 2011: 10-15) wird im Beitrag aufgrund seiner Vieldeutigkeit nicht näher bestimmt.

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