Eine Leseprobe aus dem Beitrag Exit als Folge von Ungerechtigkeit im Profifußball? Gerechtigkeitstheoretische Ansätze zur systematischen Begründung einer möglichen Abwendung von Fußballfans von Sebastian Björn Bauers, Axel Faix & Christoph Wolf, FuG – Zeitschrift für Fußball und Gesellschaft, Heft 2-2020, S. 201-220
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1. Einleitung
Die Kommerzialisierung des professionellen Fußballs ist einerseits positiv zu beurteilen. Hervorzuheben sind beispielsweise die Arbeitsplätze in den verschiedenen Bereichen des Profifußballs (DFL 2019; siehe auch z.B. Frick 2000 sowie Horch/Schütte 2005). Ebenfalls ergeben sich durch die TV-Übertragung sowie die jüngsten Entwicklungen im Zuge der Digitalisierung verschiedene Formen des Konsums, wobei der Zugang zum Gut live bzw. on demand ermöglicht wird (Ludwig et al. 2018). Andererseits sind die Entwicklungen der Kommerzialisierung teilweise auch kritisch zu hinterfragen. Betrachtet man in Anlehnung an Walsh/Giulianotti (2007: 14) die vier Hauptmerkmale einer sogenannten Überkommerzialisierung,1 so lassen sich im Profifußball bereits erste Indizien einer solchen Entwicklung konstatieren. Vor diesem Hintergrund ergibt sich die Frage nach den Auswirkungen einer Überkommerzialisierung. Denkbar sind insbesondere Auswirkungen auf die Stakeholder des Profifußballs (Senaux 2008; García/Welford 2015) sowie damit verbundene Folgeprobleme.
Unsere Untersuchung fokussiert auf das Verhalten von Fußballfans. Diese Stakeholder-Gruppe nimmt im professionellen Fußballsport eine tragende Rolle ein. Fußballfans sind zahlende Zuschauer_innen im Stadion, agieren dort bei der Produktion des Gutes zugleich als Co-Produzent_in (Edensor 2015; Roose/Schäfer 2017) und haben teilweise durch Mitbestimmungsmöglichkeiten Einfluss auf die Klubpolitik (Adam et al. 2019). Zudem entrichten Fußballfans Entgelte für den Konsum von Fußballübertragungen und Merchandisingartikel. Bezogen auf die kritisch zu hinterfragende Entwicklung der Kommerzialisierung ergibt sich folgende zentrale Frage: Beeinträchtigt die (Über-)Kommerzialisierung des Fußballs die von Fans wahrgenommene Gerechtigkeit und begünstigt damit einen Exit (Hirschman 1970) von Fußballfans? Eine erste diesbezügliche Untersuchung deutscher Fußballfans kommt bereits zu der Erkenntnis, „dass der Profifußball vor einer Zeitenwende steht und die reale Gefahr besteht, dass sich immer mehr Zuschauer vom Profifußball abwenden“ (FC PlayFair 2017: 4).
Ein möglicher Exit von Fußballfans und die dafür relevanten Gründe wurden in der Literatur bislang lediglich von wenigen Untersuchungen aufgegriffen (Ward et al. 2012; FC PlayFair 2017; Flatau 2018; Faix 2019). Die Hintergründe sind naheliegend: Aufgrund der emotionalen Bindung und der damit verbundenen Loyalität zum Klub ist bislang davon auszugehen, dass Fußballfans unabhängig von der „Qualität des Angebots“ (Roose/Schäfer 2017: 320) eher die sogenannte Voice-Option (Hirschman 1970) wählen, während nicht-loyale „Kunden_innen“ eher die Exit-Option ergreifen. Erste Beispiele aus der Praxis – wie etwa die Gründung der Amateurklubs HFC Falke (Heike 2018) und FC United of Manchester (Kiernan 2017; siehe auch Porter 2015 sowie Millward 2011: 94ff.) in Folge einer Abwendung von Fans der Klubs Hamburger SV und Manchester United – zeigen jedoch gegenteilige Fanreaktionen.
Angesichts dieser Beobachtungen stellt sich folgende Frage: Handelt es sich bei den erwähnten Praxisbeispielen um Einzelfälle bzw. welches potentielle Ausmaß ist mit dem neuartigen Phänomen verbunden? Zur Beantwortung der Frage sind konzeptionelle und theoretische Überlegungen zu den möglichen Gründen einer Abwendung von Fußballfans erforderlich. Sinnvoll erscheint in diesem Zusammenhang ein Ansatz, mit dem die Gründe systematisch erarbeitet und in einem theoretischen Bezugsrahmen erfasst werden. Ein erstmaliger Versuch wird im Rahmen des vorliegenden Beitrags vorgenommen. Hierzu ziehen wir bewährte gerechtigkeitstheoretische Ansätze heran: die Tauschgerechtigkeit, die Leistungsgerechtigkeit sowie die soziale Gerechtigkeit. Die dabei zugrundeliegende Vermutung ist, dass eine von Fans wahrgenommene Ungerechtigkeit im Profifußball die Fan-Loyalität beeinträchtigt, wodurch der Exit von Fußballfans wahrscheinlicher wird.2 Somit erweitern wir die Exit-Voice-Theorie von Hirschman (1970), indem wir in unserem Bezugsrahmen gerechtigkeitstheoretische Ansätze integrieren. Durch die systematische Grundlage zur Begründung einer Abwendung von Fußballfans liefert die vorliegende Untersuchung einen zentralen methodologischen Grundstein für zukünftige empirische Untersuchungen. Die Durchführung empirischer Studien erscheint von besonderer Wichtigkeit, um Ursachen für das Phänomen eines Exits von Fans im Profifußball bestimmen und Hinweise für die Praxis ableiten zu können.
Der Beitrag ist wie folgt aufgebaut: Das nachfolgende Kapitel beschreibt die theoretischen Hintergründe des Beitrags. Relevant sind gerechtigkeitstheoretische Perspektiven sowie die Exit-Voice-Theorie von Hirschman (1970). Ebenfalls werden in diesem Zusammenhang kontextrelevante Untersuchungen aufgezeigt und die Forschungslücke identifiziert (Kapitel 2). Auf dieser Basis erfolgt eine systematische Analyse möglicher Gründe für eine Abwendung von Fußballfans. Die Ausführungen basieren auf drei Arten der Gerechtigkeit: Tauschgerechtigkeit, Leistungsgerechtigkeit und soziale Gerechtigkeit (Kapitel 3). Um die elementare Bedeutung einer Abwendung von Fußballfans hervorzuheben, werden anschließend potentielle Folgeprobleme beschrieben (Kapitel 4). Angesichts der Neuartigkeit der vorliegenden Thematik und des hohen Forschungsbedarfs wird abschließend im Rahmen des Fazits eine mögliche Agenda zukünftiger Forschungen erarbeitet und dargestellt (Kapitel 5).
2. Theoretische Hintergründe und Identifizierung der Forschungslücke
Gerechtigkeit
Die Disziplinen Philosophie, Theologie, Soziologie und Politologie prägten sehr wesentlich den Begriff der Gerechtigkeit. Vor dem Hintergrund der facettenreichen Diskussion verwundert es nicht, dass der Gerechtigkeitsbegriff im wissenschaftlichen Kontext (und im allgemeinen Sprachgebrauch) nicht einheitlich gefasst wird (im Überblick Feldmann 2010: 1ff.; Heidenreich 2011; Grümme 2014: 40ff.). Aufgrund der Vielfalt der Beiträge zur Gerechtigkeit werden nachfolgend kontextrelevante Eckpunkte der Diskussion angeführt:
In der Antike richtet sich ein Großteil der philosophischen Bemühungen auf die Bestimmung und Begründung der Gerechtigkeit als normatives, universal gültiges Prinzip. Sie bildet den Maßstab für die Beurteilung zahlreicher weltlicher Erscheinungen. Die Bezüge reichen vom einzelnen Menschen (Gerechtigkeit als „Kardinaltugend“ von Individuen) bis hin zur Erörterung von Gerechtigkeit als fundamentalem gesellschaftlichem Prinzip (Feldmann 2010: 11f.). Die von Immanuel Kant in der Aufklärung entwickelte Vernunftethik wendet sich gegen die ab dem Mittelalter herrschenden Verständnisse (etwa: Gerechtigkeit als göttliche Größe) und formuliert Gerechtigkeitsprinzipien („Kategorischer Imperativ“), die konkretere Leitlinien für menschliches Verhalten bedeuten. Die Auffassung des Menschen als eigenverantwortlich handelndes Subjekt in neuzeitlichen Gesellschaften fördert die Entwicklung von Vertragstheorien, die sich auf Gesellschaftsverträge richten, die Individuen miteinander schließen.
John Rawls („A Theory of Justice“ 1971) entwirft einen Ansatz, der Gerechtigkeit als faire Kooperation zwischen freien und gleichen Partnern versteht. Verhandeln diese Partner über Gerechtigkeitsprinzipien als Basis einer realen Gesellschaftsordnung, folgt aus der von Rawls (1971) unterstellten Denkfigur,3 dass zwei Grundsätze gewählt werden: (1) Jedermann soll gleiches Recht auf das umfangreichste System gleicher Grundfreiheiten haben, das mit dem gleichen System für alle anderen verträglich ist. (2) Soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten sind so zu gestalten, dass (a) vernünftigerweise zu erwarten ist, dass sie zu jedermanns Vorteil dienen, und (b) sie mit Positionen und Ämtern verbunden sind, die jedem offenstehen (Rawls 1971: 54ff.). Nicht zuletzt rücken die in vielen Gesellschaften bestehenden ökonomischen Probleme die soziale Dimension der Gerechtigkeit in den Mittelpunkt der Betrachtung. Das Schaffen und Sichern der sozialen Gerechtigkeit soll Ungleichheiten abbauen und allen Individuen gleiche Chancen und gleichwertige Lebensbedingungen in ihren sozialen Bezügen ermöglichen.
Mit Blick auf die verschiedenen Facetten der Gerechtigkeit konzentriert sich der Beitrag auf drei Ausprägungen der Gerechtigkeit. Die folgenden Ausprägungen sind nicht völlig unabhängig voneinander, erlauben aber eine umfassende, systematische Diskussion aktueller Gerechtigkeitsprobleme im Profifußball. Die Tauschgerechtigkeit bezieht sich auf den eingeschätzten Wert eines materiellen oder immateriellen Gegenstandes, der gegen andere Gegenstände eingetauscht werden soll. In der Regel wird bei Tauschhandlungen Geld eingesetzt, das auch als Wertmaßstab fungiert. Damit ein Gütertausch zustande kommt, müssen die an einer Transaktion Beteiligten – sieht man von Zwangslagen ab – jeweils zu der Bewertung kommen, dass Leistung und Gegenleistung in einem angemessenen Verhältnis stehen. Die Annahme, dass das gleichwertige Empfinden der an einem Tausch Beteiligten die wesentliche Voraussetzung für die Tauschgerechtigkeit ist, wurde bis in die Neuzeit vertreten. Seitdem bilden nicht mehr die Merkmale von Waren und Leistungen, sondern die Rahmenbedingungen einer Transaktion den Anker der Theorie (Koller 2016a). Die Leistungsgerechtigkeit nimmt grundsätzlich auf die Anwendung akzeptierter Verteilungsprinzipen Bezug. Zur Bestimmung von Leistungskriterien kann beispielsweise eine Einteilung in eine Aufwands- und Ergebnisdimension oder aber der Beitrag zur gesellschaftlichen Reproduktion als Bemessungsgrundlage genutzt werden – was in der Theorie allerdings auch kritisch betrachtet wird, da ein zu hohes Vertrauen in den Funktionalismus vorliegt (Neckel/Dröge 2004: 142f.). So wird die Verteilung individueller Einkommen in einer Gesellschaft gemeinhin als gerecht bewertet, wenn diese der Höhe der jeweils erbrachten Leistungen für die Gesellschaft entspricht (Köllman 2016). Die soziale Gerechtigkeit wird als Erweiterung dieser Sichtweisen unter dem Aspekt einer angemessenen Verteilung von Rechten und Pflichten von Akteuren in ihren unterschiedlichen Bezügen und Institutionen verstanden (Koller 2016b).
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1 Die Umwandlung von Vereinen in Unternehmen, die starke Ausbreitung hochbezahlter Sportler, der starke Anstieg von Werbe- und Merchandisingmaßnahmen im Sport sowie die Dominanz wirtschaftlicher Interessen bilden die vier Hauptmerkmale einer Überkommerzialisierung (Walsh/Giulianotti 2007: 14).
2 Ebenfalls wie Hirschman (1970) betrachten wir die „Loyalität“ als einen zentralen vermittelnden Faktor für die Wahrscheinlichkeit der Exit-Option.
3 Nach dieser befinden sich die Vertragspartner in einem hypothetischen „Urzustand“ („original position“), in dem sie hinter einem Schleier des Nichtwissens („veil of ignorance“) agieren. Da die Entscheidungsträger im „Urzustand“ nicht wissen, welchen Status sie in der zu bestimmenden Ordnung selbst einnehmen werden, ist zu erwarten, dass die gewählten Gerechtigkeitsprinzipien als Grundlage der Gesellschaftsordnung im beschriebenen Sinne ausfallen (Rawls 1971: 118ff.). Mit diesem Rekurs auf das Fairnessprinzip (siehe auch Mieth et al. 2016: 25) basiert der Ansatz auf der zentralen Leitidee für sportliche Auseinandersetzungen.
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Die Autor*innen
Dr. Sebastian Björn Bauers, Akademischer Assistent in der Abteilung Sportökonomie und Sportmanagement an der Sportwissenschaftlichen Fakultät der Universität Leipzig. Forschungsschwerpunkte liegen in der Partizipation von Fans sowie in der Entwicklung von Sportorganisationen.
Prof. Dr. Axel Faix, Fachbereich Wirtschaft der Fachhochschule Dortmund. Forschungsschwerpunkt liegt im Organisations- und Innovationsmanagement sowie der Partizipation und Regulation im Profisport.
Christoph Wolf absolviert aktuell seinen Business Management Master an der Technischen Hochschule Wildau und ist beruflich im Venture Capital-Bereich tätig. Forschungsschwerpunkte sind die Partizipation und Regulation im Profisport.
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© Unsplash 2023, Foto: Andriyko Podilnyk