Tornisterkinder in Österreich im 19. und frühen 20. Jahrhundert

BIOS – Zeitschrift für Biographieforschung, Oral History und Lebensverlaufsanalysen 1-2022: Tornisterkinder. Österreichische Identität im Wandel von der Monarchie zur Republik

Tornisterkinder. Österreichische Identität im Wandel von der Monarchie zur Republik

Tamara Scheer

BIOS – Zeitschrift für Biographieforschung, Oral History und Lebensverlaufsanalysen, Heft 1-2022, S. 49-66.

 

Zusammenfassung

Die lange zurückreichende imperiale Prägung Österreichs führte zu einer starken Binnenmigration der nach Sprache, Ethnie und Religion so diversen Bevölkerung. Imperiale Autoritäten blickten oftmals auf eine wiederkehrende berufliche Migration, die dazu führte, dass die Ehefrau einer anderen Nationalität entstammte und die Kinder in den unterschiedlichsten Gegenden zur Welt kamen und zur Schule gingen. Dies traf nicht nur, aber insbesondere auf die Militärangehörigen zu, weshalb sie es auch waren, denen der Begriff Tornisterkind in erster Linie zugeschrieben wurde. Dieser Beitrag zeigt am Begriff „Tornisterkind“, wie sehr imperiale Biographien durch kollektive Diskurse geformt wurden, wie diese Diskurse das Bild von Imperium mitgestalteten und wie gleichzeitig verschiedene Bezugsrahmen miteinander konkurrierten. Zu diesen Bezugsrahmen zählten „Nation“ und „Imperium“, vorangegangene Epochen ebenso wie zeitgenössische politische Verhältnisse und Wunschvorstellungen für die Zukunft. Auch die Rolle des Militärs wandelte sich mehrmals im Laufe des in diesem Beitrag untersuchten Zeitraums von mehr als einhundert Jahren. Die Quellenanalyse ergab vor diesem Hintergrund folgende Periodisierung der Begriffsentwicklung: das „Vormärz-Tornisterkind“ (bis 1867), das „Ausgleichs-Tornisterkind“ (1867-1918) und das „Umbruchs-Tornisterkind“ (ab 1918).

 

Einleitung

Welches Territorium mit welcher Regierungsform unter Österreich zu verstehen ist, wandelte sich im Verlauf des Besprechungszeitraums. Bis 1804 bezeichnete der Begriff Österreich vor allem jene Länder, die direkt von den Habsburgern unter unterschiedlichen Titeln regiert und verwaltet wurden. Da diese Herrscherfamilie auch die Kaiserwürde des Heiligen Römischen Reiches besaß, wurde der Begriff oftmals als Abgrenzung verstanden. Mit dem Ende des Heiligen Römischen Reiches entstand 1804 das Kaiserreich Österreich, das zentral von Wien aus regierte wurde. Dieses Österreich wandelte sich 1867 mit dem Ausgleich mit Ungarn zur so genannten Doppelmonarchie. Die von Habsburg regierten Ländern wurden zweigeteilt: in das kaiserliche Österreich und das Königreich Ungarn. Beiden gemein war die Person des Herrschers. Mit dem Ende des Ersten Weltkriegs entstand aus einem Teil der „Konkursmasse“ die Republik Österreich. Dieses Österreich hatte zwar Wien als ehemaligen Reichs- und Residenzzentrum noch als Hauptstadt, aber setzte sich nurmehr aus einigen wenigen ehemaligen Kronländern bzw. Teilen davon zusammen.

Gerade die lange zurückreichende imperiale Prägung Österreichs führte zu einer starken Binnenmigration der von Sprache, Ethnie und Religion so diversen Bevölkerung. Die imperialen Autoritäten blickten oftmals auf eine wiederkehrende berufliche Migration, die dazu führte, dass die Ehefrau einer anderen Nationalität entstammte und die Kinder in den unterschiedlichsten Gegenden zur Welt kamen und zur Schule gingen. Dies traf nicht nur, aber insbesondere auf die Militärangehörigen zu, weshalb sie es auch waren, denen der Begriff Tornisterkind in erster Linie zugeschrieben wurde.

Dieser Beitrag strebt an, am Begriff „Tornisterkind“ aufzuzeigen, wie sehr imperiale Biographien durch kollektive Diskurse geformt wurden, wie diese Diskurse das Bild von Imperium mitgestalteten und wie gleichzeitig verschiedene Bezugsrahmen miteinander konkurrierten. Zu diesen Bezugsrahmen zählten „Nation“ und „Imperium“, vorangegangene Epochen ebenso wie zeitgenössische politische Verhältnisse und Wunschvorstellungen für die Zukunft. Auch die Rolle des Militärs wandelte sich mehrmals im Laufe des in diesem Beitrag untersuchten Zeitraums von mehr als einhundert Jahren. Die Quellenanalyse ergab vor diesem Hintergrund folgende Periodisierung der Begriffsentwicklung: das „Vormärz-Tornisterkind“ (bis 1867), das „Ausgleichs-Tornisterkind“ (1867-1918) und das „Umbruchs-Tornisterkind“ (ab 1918). Die jeweiligen politischen Bezugsrahmen und die Organisation der Armee sind immer eingangs in den Kapiteln besprochen, um Brüche und Wandel deutlich zu machen.

Eine Begriffsgeschichte

Der Begrif des „Tornisterkindes“ taucht wiederkehrend in der wissenschaftlichen Literatur auf, zumeist nur als Zuschreibung, seltener mit erklärenden Merkmalen. István Deák, der eines der Grundlagenwerke zur k.u.k. Armee veröffentlicht hat, schreibt ihn mit Charakteristikum einem Offizier zu. Er sei insbesondere deswegen ein „typisches Tornisterkind“ gewesen, da er mehrere Sprachen oder „vielmehr Sprachgemische“ beherrscht habe (Deák 1990: 266). Tibor Balla stellt fest, dass es kaum möglich sei, die Zahl der ungarischen Generale in der k.u.k. Armee festzumachen, da viele von ihnen Tornisterkinder gewesen seien. Sie seien daher nicht in Ungarn geboren worden, sondern entstammten Eltern unterschiedlicher Nationalität (Balla 2010: 14). Im Zusammenhang mit Alexander Sacher-Masochs Biographie erwähnt Boris Previšić: „Er wächst zweisprachig (ungarisch und deutsch) auf und hat ein Leben als Tornisterkind zu führen, ist innerhalb der Doppelmonarchie ständig von Garnison zu Garnison unterwegs und folgt somit von Kindesbeinen an der mobilen imperialen Militärverwaltung“ (Previšić 2017: 217 f.). Neben diesen Bezeichnungen mit Charakterisierung ist dem Großteil der Tornisterkind-Nennungen allerdings gemein, dass der Begriff auf eine Weise Verwendung findet, als ob er auch heute noch selbsterklärendes Allgemeinvokabular wäre. Nicht nur, dass der Begriff des Tornisterkinds aus dem allgemeinen Sprachgebrauch verschwunden ist, es fehlte bislang auch an einer wissenschaftlichen Beschäftigung mit dessen Begriffsgeschichte.

Der Begriff des Tornisterkinds war – geht man von der Häufigkeit der Verwendung aus – im Wortschatz des habsburgisch regierten deutschsprachigen Raums des langen 19. Jahrhunderts gängig und blieb es bis viele Jahre nach 1918, also nach dem Ende der Monarchie. Neben dem Tornisterkind gab es eine Fülle an Modewörtern im langen 19. Jahrhundert, die dazu dienten, politische, wirtschaftliche und soziale Phänomene zu beschreiben. Einige davon finden sich in den für diesen Beitrag herangezogenen Quellen wieder, wie etwa das „Fisolenhaus“ (Militärschule) oder „ärarischer Zögling“ (Kind von im Staatsdienst stehenden Vätern). Viele dieser Begriffe resultierten aus den administrativen und politischen Rahmenbedingungen, aber auch der Vielschichtigkeit des Reiches mit seinen unzähligen Kulturen, Sprachen, Nationalitäten und Religionen. Vielen war außerdem gemein – dies trifft auch auf das Tornisterkind zu –, dass weder ihr geografischer und zeitlicher Ursprung noch ihr Urheber oder eine offizielle Definition ausfindig zu machen sind (vgl. Scheer 2019). Meist bestachen diese Begrifflichkeiten nicht durch ihre Langlebigkeit. Der Begriff des Tornisterkindes hingegen blieb über einen längeren Zeitraum in Gebrauch und wandelte sich gleichsam mit dem Bezugsgebiet, in dem die so Bezeichneten lebten und wirkten. Ganz wie der Tornister suggeriert, wurde der Begriff wie ein Rucksack über Jahrzehnte und politische Umbrüche mitgetragen. Ihm wurde aber immer wieder eine neue Bedeutungs- und Sinnebene zugesprochen, die auf die jeweilige politische Situation zugeschnitten war. Es waren somit die Merkmale, die ein Tornisterkind ausmachten, die sich veränderten. Die Enzyklopädien schrieben dem Begriff des Tornisters eindeutig einen militärischen Kontext zu, wie etwa das damals weit verbreitete Meyers Konversationslexikon: „Hauptbestandteil des Gepäcks der Fußsoldaten […] wird an zwei Riemen oben auf dem Rücken getragen, dient nebst dem Brotbeutel zum Fortschaffen der nicht am Körper befindlichen Ausrüstungsstücke des Soldaten“ (Autorenkollektiv 1885-1892: 764). Dieser militärische Kontext war ein Hauptbezugspunkt für die Tornisterkind-Zuschreibung und gleichsam die – mit wenigen Ausnahmen – einzige Konstante im Wandel.

Der Begriff des Tornisterkindes lässt sich in unterschiedlichen Quellenarten des langen 19. Jahrhunderts finden. Da der Begriff so häufig Verwendung fand, gibt es eine schier unendliche Fülle an Quellenmaterial, das für eine wissenschaftliche Betrachtung herangezogen werden kann. Eine Begriffsgeschichte dieser Art zu verfassen, wäre allerdings vor nur zehn Jahren wegen des Zeitaufwands kaum durchführbar gewesen. Erst die Digitalisierung gedruckter (und auch ungedruckter) Quellen, vor allem zeitgenössischer Biographien, Zeitschriften und Magazinen mit der Möglichkeit der Schlagwortsuche bietet nunmehr die Möglichkeit, eine große Menge an Quellen zu finden und einer vergleichenden Analyse zu unterziehen.1 Diese bieten darüber hinaus die Möglichkeit, die als Tornisterkind beschriebenen Personen namentlich zu suchen. Hier war die Erkenntnis, dass nicht bei allen biographischen Abrissen die Zuschreibung als Tornisterkind erfolgte, sich aber dennoch die Merkmale finden lassen.

Da der Begriff in unterschiedlichen Quellengattungen Verwendung fand, stützt sich dieser Beitrag in erster Linie auf eine vergleichbare serielle Quellenart: biographische Abrisse in Zeitungsbeiträgen, in denen allerdings nicht in jedem Fall eine Autorenschaft angegeben wurde. Diese Quellenart wird im Verlauf des Untersuchungszeitraums überall in der Habsburgermonarchie immer dichter, da Mitte des 19. Jahrhunderts auch aufgrund der gestiegenen Alphabetisierung ein Printmedienboom einsetzte. Dieser half, Begrifflichkeiten rascher zu verbreiten, da diese nicht mehr nur einem geografisch und gesellschaftlich begrenzten Kreis zugänglich wurden, sondern in breiten Bevölkerungskreisen auch über die rein mündliche Tradierung hinaus bekannt wurden. Printmedien wurden häufig von weit entfernten Orten im Abonnement bezogen oder gar nicht selbst gekauft, da sie in Kaffeehäusern und Gastwirtschaften auslagen, bzw. von Bekannten weitergereicht wurden. Der geografische Bezugsraum war somit weitaus größer, als der Verlagsort vermuten lässt.

Es gilt allerdings, das Genre der biographischen Darstellung kritisch zu hinterfragen. Arno Dusini schreibt, dass der Verfasser autobiographischer Texte dem jeweiligen Zeitraum geschuldeten Kriterien folgt und stets das Interesse reflektiert, das eigene Leben zu inszenieren (Dusini 2002: 9). Dies trifft auch dann zu, wenn Biographien von anderen Personen verfasst werden. In diesem Fall wird ein anderes Leben inszeniert und in (Wunsch-)Vorstellungen und Diskurse eingebettet. Bei der Analyse von Zeitungsbeiträgen gilt es ebenfalls einzubeziehen, was Pieter M. Judson für den veröffentlichten Nationalitätendiskurs der späten Habsburgermonarchie beschrieben hat: „Printed media sources tell the historian far more about their producers than about their subjects“ (Judson 2006: 182). Dies bedeutete, dass der Kontext von Medium und Autor zumindest ebenso wichtig für die Analyse ist, wie die darin beschriebene Person oder Situation.

In biographischen Zeitungsbeiträge tritt das Tornisterkind nicht nur als Fremdzuschreibung in Erscheinung, sondern auch als Eigenbezeichnung. So etwa in der von der Historiographie vielzitierten Memoirenschrift des österreichisch-ungarischen Generals August von Urbański Das Tornisterkind (Urbański o. D.: 95). Die Analyse hat außerdem ergeben, dass der Begriff zwar über einen langen Zeitraum verwendet wurde, die sich damit assoziierten Eigenschaften allerdings veränderten. Deren Zuschreibung konnte dabei durchaus diachron erfolgen: In Nachrufen wurden so Personen diejenigen Eigenschaften zugeschrieben, die zu deren Wirkungszeit mit Tornisterkindern verbunden waren, obwohl die entsprechenden Assoziationen sich zum Zeitpunkt der Publikation bereits gewandelt hatten.

Da der Begriff nicht immer – aber im häufigsten Fall – einen militärischen Bezugspunkt hatte, sind es beinahe ausschließlich Männer, die als Tornisterkinder bezeichnet wurden. Bei der Analyse konnte nur ein einziges Beispiel gefunden werden, in dem eine Frau als solches bezeichnet wurde. Sie hatte allerdings mit den männlichen Vertretern den persönlichen militärischen Kontext gemein. In der fiktiven Geschichte handelte es sich um ein junges Mädchen, das eine Vorliebe für Soldaten hatte (N. N. 1869: 1).2

1 Um nur die umfangreichsten für den hier besprochenen geografischen Raum und Besprechungszeitraum zu nennen: Historische Zeitungen und Zeitschriften der Österreichischen Nationalbibliothek (ANNO), Digitales Forum Mittel- und Osteuropa e. V. (Difmoe), Digitální knihovna Kramerius der Národní knihovna České, der tschechischen staatlichen Bibliotheken (Kramerius) und Közgyűjteményi portál, die Sammlung aus ungarischen Bibliotheken und Archiven (Hungaricana).
2 Das Feuilleton bezog sich auf ein Sammelwerk mit dem Titel Tornister-Geschichten von Jakob Eggenburg (1870).

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