Sprachliche Diversität in Deutschland

Diskurs Kindheits- und Jugendforschung / Discourse. Journal of Childhood and Adolescence Research 4-2021: Warum wir so wenig über die Sprachen in Deutschland wissen. Spracheinstellungen als Erkenntnisbarriere

Warum wir so wenig über die Sprachen in Deutschland wissen. Spracheinstellungen als Erkenntnisbarriere

Astrid Adler, Maria Ribeiro Silveira

Diskurs Kindheits- und Jugendforschung / Discourse. Journal of Childhood and Adolescence Research, Heft 4-2021, S. 403-419

 

Zusammenfassung
Bislang gibt es keine akkuraten, repräsentativen Statistiken dazu, welche Sprachen in Deutschland gesprochen werden. Zwar wird in verschiedenen Erhebungen nach Muttersprachen oder nach zuhause gesprochenen Sprachen gefragt; aufgrund einiger Mängel im Erhebungsdesign bilden die Ergebnisse der vorliegenden Erhebungen jedoch die sprachliche Realität der in Deutschland lebenden Bevölkerung nicht angemessen ab. Im Beitrag wird anhand von drei Erhebungen gezeigt, dass bereits die Instrumente zur Erhebung von Sprache von Spracheinstellungen geprägt sind und dass dadurch die Gültigkeit der Ergebnisse stark eingeschränkt wird. Diese Mängel gelten für Sprachstatistiken im Hinblick auf die gesamte Bevölkerung Deutschlands – Kinder und Jugendliche eingeschlossen.

Schlagwörter: Spracheinstellungen, Sprachstatistiken, Erhebungsmethoden

 

Why we know so little about the languages in Germany. How attitudes affect insights into languages

Abstract
To date, there are no accurate, representative statistics on languages spoken in Germany. Various surveys ask about mother tongues or languages spoken at home. However, due to shortcomings in the design of the items, the results of these surveys do not adequately reflect the linguistic reality of the population living in Germany. On the basis of three surveys, this paper illustrates that instruments used to survey language are often influenced by attitudes towards languages. Thus the results of these surveys are strongly limited. These limitations apply to language statistics for the entire population of Germany – therefore also for children and adolescents.

Keywords: language attitudes, language statistics, survey methods

 

1 Einleitung: Sprachstatistiken und Spracheinstellungen in Deutschland

Wie viele Kinder in Deutschland sprechen welche Sprachen? Welche Sprachen sprechen sie in ihren Familien, in der Schule und anderswo? Sprechen alle Deutsch? Das sind alles äußerst relevante Fragen – nicht nur, aber insbesondere im schulischen Kontext. In deutschen Städten und Ballungsräumen wird etwa jedes zweite Kind in eine Familie mit Migrationsgeschichte geboren (Gogolin, 2021, S. 298). Es ist also von einer hohen sprachlichen Diversität gerade bei Kindern auszugehen. Insbesondere im Kontext von Bildung und Schule sind detaillierte Kenntnisse über das Ausmaß und die Zusammensetzung dieser Vielfalt unabdingbar. Leider gibt es keine offiziellen, repräsentativen Datengrundlagen, die zur Beantwortung dieser Fragen herangezogen werden können – und zwar weder für Kinder und Jugendliche noch für die erwachsene Bevölkerung Deutschlands. Es gibt vereinzelt Erhebungen, die Daten zur Sprache beinhalten; deren Ergebnisse bilden jedoch entweder aufgrund der mangelhaften Erhebungsitems die sprachliche Vielfalt nicht ab oder aber sie sind aufgrund einer nicht ausreichend großen Stichprobe nicht detailliert genug (siehe im Folgenden). Oft behilft man sich mit Stellvertretervariablen wie z.B. der Staatsangehörigkeit. So ist es etwa üblich, aufgrund einer nicht-deutschen Staatsangehörigkeit abzuleiten, welche Sprache eine Person spricht. Diese Ableitung funktioniert jedoch nicht einwandfrei (z.B. kann von einer Staatsangehörigkeit nicht zwangsläufig auf eine bzw. manchmal mehrere dezidierte Sprachen geschlossen werden). Ein weiteres statistisches Behelfskonstrukt zur Bemessung der sprachlichen Vielfalt ist der „Migrationshintergrund“ (s.o.), bei dem sich eine ganz ähnliche Problematik ergibt. Außerdem ist diese konstruierte Kategorie selbst überaus fragwürdig (z.B. Petschel & Will, 2020).1

Eng verknüpft mit Sprachstatistiken sind Meinungen über Sprachen. In Deutschland herrscht eine Einsprachigkeitsideologie vor, die auch als monolingualer Habitus bezeichnet wird (Gogolin, 1994; auch „monolingual mindset“ nach Ellis et al., 2010 oder „monolingual ways of seeing“ nach Piller, 2016). Demnach ist Deutsch die natürliche Nationalsprache und Einsprachigkeit der Normfall. Daraus folgt, dass sowohl andere Sprachen als Deutsch als auch Mehrsprachigkeit als Abweichungen von einer homogenen, nationalsprachlich einsprachigen Norm (z.B. Bloomaert & Verschueren, 1998) wahrgenommen werden. Wie solche Einstellungen zu Sprache und Sprachen (Spracheinstellungen2) mit Sprachstatistiken zusammenhängen, wird im Folgenden gezeigt. Zunächst wird jeweils die Sprachfrage von drei ausgewählten Erhebungen vorgestellt und analysiert. Dabei wird herausgearbeitet, wie sich in diesen Sprachfragen Spracheinstellungen manifestieren und teilweise zu Mängeln in der Frage führen. Anschließend erfolgt eine statistische Auswertung von explizit zu Spracheinstellungen erhobenen Daten.

2 Sprachen zählen und Sprachbewertungen erfassen (Erhebungsmethoden)

Bei der Erhebung von Statistiken zu Sprache und auch Einstellungen zu Sprache und Sprachen sind zwei Aspekte grundlegend: Wen und was bemisst man und wie und womit misst man? Zunächst zum ersten Aspekt: Gerade in der Erhebung von Einstellungen ist besonders wichtig, wen man befragt. Gemeint sind damit nicht soziodemographische Merkmale der Befragten, sondern Merkmale, die das Wissen zu den erhobenen Themen (also das „was“) betreffen. Denn es geht nicht darum, das Wissen von Experten zu ergründen, sondern um das Wissen und die Konzepte von sogenannten Laien (z.B. Bock & Antos, 2019). Um außerdem den Einfluss bestimmter soziodemographischer Merkmale auszuschließen, ist eine möglichst vollumfängliche Stichprobe sinnvoll (wie z.B. im Zensus). Eine solche Stichprobe zu erzielen, ist nicht ganz einfach, deshalb wird oftmals auf nicht vollumfängliche, aber recht große und insbesondere repräsentative Stichproben gesetzt (z.B. der Mikrozensus, das Sozio-oekonomische Panel; s.u.). Alternativ werden bestimmte Teilstichproben in den Fokus gesetzt, z.B. nach Alter oder Funktion von Personen (z.B. die PISA-Erhebung).

Der zweite angesprochene Aspekt („Wie und womit misst man?“) ist eng verknüpft mit dem ersten Aspekt („Wen oder was bemisst man?“), denn bei sehr großen Stichproben können nur bestimmte Instrumente eingesetzt werden. Der Einsatz zeitintensiver Interviewbefragungen mit großen Anteilen an freien Sprechzeiten wird aufgrund des hohen Aufwands in sehr großen Stichproben vermieden. Dieser Gegensatz wird mit dem Begriffspaar qualitativ vs. quantitativ beschrieben, also quantitative Erhebung von vielen Datenpunkten vs. qualitative Befragung von wenigen Befragten (Soukup, 2019). In quantitativen Erhebungen werden bevorzugt kurze und geschlossene Items eingesetzt. Diese sind dann sowohl bei der Befragung als auch bei der Auswertung mit weniger Aufwand verbunden. Da bei einer solchen Art der Befragung die eingesetzten Instrumente nicht im Gespräch mit den Befragten verhandelt werden können, ist es besonders wichtig, wie diese Instrumente gestaltet sind. Bei ausführlicheren mündlichen Befragungen ist das anders, darin können die Befragten Konzepte beispielsweise hinterfragen und eigene Definitionen vorlegen. Den erfragten Kategorien und Instrumenten kommt also ein hoher Stellenwert zu.

3 Erhebungen zu Sprachen in Deutschland

In diesem Beitrag werden drei Erhebungen genauer betrachtet: der Mikrozensus, die PISA-Erhebung und die Deutschland-Erhebung 2017 des Leibniz-Instituts für Deutsche Sprache. Es gibt noch weitere Repräsentativerhebungen in Deutschland, die Angaben zur Sprache der Bevölkerung erheben (z.B. im Rahmen des NEPS, das Nationale Bildungspanel, oder in den Schulstatistiken der Bundesländer). Hier wird jedoch nur eine begrenzte Auswahl beschrieben. Der Mikrozensus wurde ausgewählt, weil er die wesentliche amtliche Statistik in Deutschland darstellt. Die PISA-Erhebung ist eine sehr bekannte und viel genutzte Erhebung. An der dritten Erhebung, der Deutschland-Erhebung 2017, waren die beiden Autorinnen dieses Beitrags an Erstellung und Auswertung beteiligt; darin wurde ein alternativer Ansatz zur Erhebung von Sprachen gewählt.

3.1 Mikrozensus

In Deutschland wird der Zensus, d.h. eine vollumfängliche Volkszählung, üblicherweise im zehnjährigen Rhythmus durchgeführt. Der erste Zensus nach der Wiedervereinigung fand 2011 statt. Der nächste Zensus wird voraussichtlich 2022 stattfinden. Der Zensus wird größtenteils registergestützt durchgeführt. Die zentralen Organe für die amtliche Statistik sind das Statistische Bundesamt, eine Bundesbehörde des Bundesministeriums des Innern, und die Statistischen Landesämter. Die amtliche Statistik wird ergänzt durch den Mikrozensus. Der deutsche Mikrozensus erhebt regelmäßig Daten zur in Deutschland lebenden Bevölkerung. Einmal im Jahr wird dafür eine für die deutsche Wohnbevölkerung repräsentative Stichprobe befragt. Der Mikrozensus ist (neben dem Zensus) mit etwa 810.000 Befragten aus etwa 370.000 privaten Haushalten die umfangreichste Befragung dieser Art in Deutschland. Der Mikrozensus umfasst inzwischen einen sehr umfangreichen Fragekatalog: 2018 enthielt der Fragebogen 220 Fragen; 1957 waren es lediglich 52 (Anders, 2018). Für die meisten Fragen im Fragebogen gilt eine gesetzlich verankerte Auskunftspflicht. Einige wenige Fragen sind freiwillig. Seit 2017 wird im Mikrozensus eine Pflichtfrage zur Sprache der Bevölkerung gestellt. Im Zensus wird eine solche Frage derzeit nicht gestellt. Das letzte Mal wurde die Bevölkerung in der Volkszählung 1950 zu ihrer Sprache befragt (Gesetz über eine Zählung der Bevölkerung, Gebäude, Wohnungen, nichtlandwirtschaftlichen Arbeitsstätten und landwirtschaftlichen Kleinbetriebe im Jahr 1950 (Volkszählungsgesetz 1950)).

3.2 PISA

In der weltweit durchgeführten PISA-Erhebung (Programme for International Student Assessment) werden Schülerleistungen erfasst. Die Erhebung wurde von der OECD (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung) initiiert. In Deutschland ist seit 2012 das Zentrum für internationale Bildungsvergleichsstudien e.V. für die Erhebung zuständig. Dafür wurden 2018 in einer repräsentativen Stichprobe 5.451 Schülerinnen und Schüler von 223 Schulen befragt (die befragten Jugendlichen sind im Jahr 2002 geboren; Weis & Reiss, 2019, S. 16-17). In der PISA-Erhebung werden auch Daten zur Sprache der Schülerinnen und Schüler erhoben.

3.3 Deutschland-Erhebung 2017

Die Deutschland-Erhebung 2017 (DE2017) wurde im Winter 2017/2018 vom Leibniz-Institut für Deutsche Sprache (IDS) in Kooperation mit dem Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) im Rahmen der Innovationsstichprobe des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP-IS) des DIW durchgeführt (Adler & Ribeiro Silveira, 2020; Richter & Schupp, 2012). Die Erhebung besteht aus zwei Teilen: einer direkten Befragung in einem Interview (N=4.380) sowie einer optionalen Zusatzbefragung mittels eines Online- Fragebogens (N=1.439). Sowohl die Gesamtstichprobe der DE2017 als auch die Teilstichprobe der Zusatzbefragung sind repräsentativ. Ziel dieser Datensammlung ist die Erhebung der Sprachen und Spracheinstellungen der Bevölkerung (erstere im Interview, letztere sowohl im Interview als auch in der Zusatzbefragung). Dazu wurden den befragten Personen insgesamt etwa 60 Fragen gestellt. Einige Ergebnisse der DE2017 wurden bereits beschrieben (z.B. Adler & Plewnia, 2020; Adler & Ribeiro Silveira, 2020, 2021).

1 Wenngleich eine gewisse Nähe zwischen Sprache und „Migrationshintergrund“ wohl angenommen werden kann, handelt es sich dabei keinesfalls um eine eindeutige Relation. Nichtsdestotrotz wird etwa in der Schulstatistik einiger Bundesländer Sprache wiederum als Proxy (Stellvertretervariable) zur Bestimmung des Migrationshintergrunds eingesetzt. Das ist per se schon überaus fragwürdig, noch gravierender wird es durch das sehr schlechte Design der Sprachvariable (z.B. Kemper, 2017).
2 Allgemein werden Einstellungen beschrieben als „a psychological tendency that is expressed by evaluating a particular entity with some degree of favour or disfavour“ (Eagly & Chaiken, 1993, S. 1) und Spracheinstellungen etwa als „predispositions to respond to (speakers of) specific language/speech styles and language situations with a certain type of (language) behavior“ (Vandermeeren, 2005, S. 1319).

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