Solidarität im Bereich der kritisch emanzipativen (Erwachsenen-)Bildung

Debatte. Beiträge zur Erwachsenenbildung 2-2021: Solidarität als widerständige Beziehungsweise und kritisches Prinzip emanzipativer Bildung

Solidarität als widerständige Beziehungsweise und kritisches Prinzip emanzipativer Bildung

Lukas Eble

Debatte. Beiträge zur Erwachsenenbildung, Heft 2-2021, S. 112-134.

 

Zusammenfassung
Der Beitrag nimmt sich den in aktuellen gesellschaftlichen Debatten vielgenutzten Begriff der ‚Solidarität‘ vor und erörtert ihn historisch-systematisch vor dem Hintergrund herrschafts- und machtkritischer Bildungstheorie und -arbeit. Solidarität wird dabei als spezifische, widerständige Beziehungsweise gefasst und möchte sie so emanzipativen Diskussionen und Reflexionen zugänglich machen. Leitend ist dabei die Frage, inwiefern sich Solidarität als Maßstab und Zielsetzung für eine kritisch emanzipative (Erwachsenen-)Bildung eignet.

 

Solidarität – Bildungstheorie – Emanzipation – Beziehungsweise – Gegenbewegung

Vor etwa 20 Jahren formulierte Klaus-Peter Hufer – entgegen den Tendenzen im disziplinären Diskurs – die Hoffnung auf eine Wiederbelebung der „Zielidee Solidarität und Gerechtigkeit“ für die politische Erwachsenenbildung (Hufer 2003, S. 125). Mit dem Begriffspaar ‚Solidarität und Empathie‘ wollte er einen Impuls gegen die Ökonomisierung und Neoliberalisierung des sozialen Rechtsstaats sowie weiterer Lebensbereiche setzen (Hufer 2003, S. 126); zuvor hatte bereits Oskar Negt (2001a) eine neuerliche Diskussion angeregt. Beide knüpfen mit ihren Einsprüchen an Ende der 1960er Jahre einsetzende, emanzipatorische Diskussionsstränge der Erziehungs- und Bildungswissenschaft an (Zeuner 2012; Bernhard 2012), in denen der Begriff der Solidarität zwar umfangreich genutzt wurde, insbesondere in seiner adjektivierten Form, eine grundlegende Verständigung über dessen Bedeutungsgehalt aber eher die Ausnahme blieb (Pfützner 2017, S. 36–37). Gesellschaftspolitisch betrachtet, fällt die in Hufers Aussage implizierte Forderung in einen Zeitraum, in dem sich der sog. Neoliberalismus als ‚alternativlose‘ Ideologie in vollem Umfang in allen Lebens- und Bildungsbereichen in Deutschland durchsetzt und die Debatten um die damit kompatible bildungspolitische EU-Strategie des ‚Lifelong Learnings‘ Fahrt aufnehmen, die im Rahmen der Lissabon- Strategie zur Sicherung und Steigerung europäischer Wettbewerbsfähigkeit ausformuliert wird (Borg & Mayo 2004; Pongratz 2010, S. 153–166; Klingovsky 2013).

Der Impuls, so meine Interpretation an dieser Stelle, die Bedeutung von Diskursen zur Zielsetzung von Erwachsenenbildung unter dem Referenzpunkt Solidarität zu stärken und Bildung als eine individuelle und kollektive „Gegenbewegung“ (Zeuner 2020, S. 07–3) in Position zu bringen, versandete; die von Hufer befürchteten Entwicklungen entfalteten sich hingegen in den darauffolgenden Jahren stetig und schwächten die „solidarische[n] Bindekräfte“ nachhaltig, nicht zuletzt aufgrund von verschärften existenziellen Exklusionsängsten (Negt 2001a, S. 1, S. 7). In Bezug auf den Bereich der (Erwachsenen-)Bildung ist – neben der Orientierung an ‚employabilty‘ – bspw. an eingeführte Projektlogiken, inkl. entsicherter Arbeitsverhältnisse, Verringerung der strukturellen Grundsicherung, Manageralisierungen der Weiterbildungsorganisationen und eine damit verbundene, abstrakte Qualitätssicherung, eine affirmative Kompetenzorientierung, protegiert durch die Europäische Union (EU) und die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD), zu erinnern; auf der theoriesystematischen Ebene werden die eingreifenden, kritischen Subjekte durch die Idee ‚gemachter‘ Subjekte ersetzt oder sie verschwinden sogleich.

In der gewerkschaftlichen Bildungsarbeit ist Solidarität nach wie vor ein Schlagwort, das sowohl als Zielstellung wie auch als propagiertes praktisches Prinzip gilt (Kehrbaum 2021, insb. S. 42–66; Allespach 2012, S. 6, S. 20). Aber auch in diesem Fall stellt sich die Frage, ob es sich dabei nicht um eine ‚Identitäts- und/oder Feiertagsparole‘ handelt, deren Ausdeutung an der Oberfläche verharrt und letztlich die gesellschaftlichen Grundstrukturen außer Acht lässt; zumal sich auch die gewerkschaftliche Arbeit unter dem Regime des Neoliberalismus und gemäß der eigenen widersprüchlichen Konstitutionslogik von Kapital und Arbeit organisiert: „Sie [die Arbeiter*innen; L. E.] organisieren sich wegen und gegen die Verwertungslogik, aber zunächst sind sie in diese Logik verwickelt“ (Bürgin 2021, S. 3; Hervorhebungen im Original). Praktisch werdende, solidarische Kritik, als Erfüllung der eigenen Ziele, wäre somit gleichbedeutend mit ihrer eigenen Abschaffung.

Vor diesem Hintergrund ist es meines Erachtens sinnvoll, den impulsgebenden Faden hinsichtlich eines „Lernziel[s] Solidarität“ (Richter 1999) aufzunehmen, den Begriff der Solidarität zu erörtern und nach seinem Potenzial als kritischem Maßstab und Zielsetzung für Erwachsenenbildung zu fragen, m. a. W.: Welchen Aufschluss geben Reflexionen zu Solidarität in Bezug auf die politische Dimension der Erwachsenenbildung? Nur die ‚Anstrengung des Begriffs‘ kann auch erwachsenenbildnerischem Handeln eine emanzipative Orientierung geben und einen Ausgang aus der ‚Mühsal‘ unverstandener, naturwüchsig erscheinender Kräfteverhältnisse weisen (Heydorn 2004/III, S. 8). Ohne eine solche Theoriearbeit droht jeglicher Widerstand den bestehenden gesellschaftlichen Kräften hilflos gegenüberzustehen: „In der Theorie erhält Bewusstsein, was bisher unerkannt und daher blind in der Welt waltete“ (Feltes 2021, S. 39).

1. Solidarität – ‚Wer wäre nicht dafür‘?

In derzeitigen öffentlichen Diskussionen (Corona-Pandemie), aber auch generell in Krisen- und Umbruchzeiten, ist Solidarität in aller Munde: So können zahlreiche Publikationen in den letzten Jahren vermerkt werden, aber auch politische Diskussionen um und Appelle an Solidarität in der Bevölkerung als ‚Gebot der Stunde‘ sind zu vernehmen, die nachdrücklich auf deren Notwendigkeit als soziale Ressource hinweisen. Auch der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) machte sie 2021 zur ‚Feiertagsparole‘ des 1. Mai („Solidarität ist Zukunft“), allerdings ohne auf die konstitutive Bedeutung von Solidarität für  die eigene Organisationsgeschichte hinzuweisen, nämlich als das den Zusammenschluss der lohnabhängig Beschäftigten leitende Prinzip, um der ‚Gewalt des Eigentums‘ entgegenzutreten und somit ‚praktische Kritik‘ am Herrschaftsverhältnis von Kapital und Arbeit zu üben (Neumann 1978[1935], S. 150–152).1

Dabei soll gleich zu Beginn angemerkt werden, dass Solidarität oder die Forderung nach selbiger, nach einem solidarischen Miteinander keineswegs unproblematisch sein muss, gar in Gewalt nach innen und außen umschlagen kann. Gerade essentialistisch gedachte, ‚Naturwüchsigkeit‘ beanspruchende Gemeinschaften, deren soziale Bindekräfte bei Durkheim als „mechanische Solidarität“ (Durkheim 2019[1893], S. 181–182)2 gefasst werden, verstellen den Raum für Individualität, wirken nach innen repressiv und lassen sich durch schroffe Abgrenzung gegenüber oder gar Bekämpfung des Anderen/Fremden kennzeichnen. Solidarität kann leicht – bleibt sie gesellschaftskritisch unterbelichtet – zu einer „exklusive[n] Ressource“ werden, als Solidarität „unter Seinesgleichen“ (bspw. Nation, Volks- und sog. Wertegemeinschaften, Stammbelegschaft eines Betriebes etc.) (Dörre 2018, S. 58). Der Soziologe Richard Sennett lehnt den Begriff der Solidarität ganz ab, da er diesem per se eine Unterwerfungslogik unterstellt: „Schon der Wunsch nach Solidarität lädt dazu ein, die Menschen zu beherrschen und von oben zu manipulieren“ (Sennett 2019, S. 273).

Entgegen einer instrumentellen, affirmativen oder eben ‚exklusiven‘ Verwendungsweise, wie sie in Zeiten der Corona-Pandemie vielfach zu beobachten ist, und entgegen dem von Sennett vorgebrachten Verständnis, bringen emanzipative soziale Bewegungen – also grundsätzlich und potenziell auch Gewerkschaften – Solidarität als gegenhegemoniale Antwort in Bezug auf wahrgenommene, strukturelle Problemlagen in Stellung. In diesem Sinne üben sie Solidarität untereinander bzw. mit Betroffenen angesichts kritikwürdiger gesellschaftlicher Verhältnisse (z. B. für bessere Lohn- und Arbeitsbedingungen, bezahlbaren Wohnraum, das gute Leben, Genderrechte, gegen Klimawandel, Rassismus und Autoritarismus etc.) und kämpfen gegen ökonomische, politische und soziale ‚Grenzziehungen‘.3

So intuitiv verständlich die Verwendung von Solidarität in verschiedenen Kontexten erscheint – vermutlich hat jede*r eine eigene Vorstellung von ihr und dies beschränkt sich auch nicht auf den deutschen Sprachraum, denn in zahlreichen (außer-)europäischen Sprachen hat der Begriff ebenfalls Eingang in den Alltag gefunden –, lässt sich dennoch festhalten, dass Solidarität, auch im wissenschaftlichen Kontext, meist im Modus des Ungefähren verbleibt. Kurt Bayertz stellt daher einen „ungeklärte[n] theoretische[n] Status“ fest, der schnell zur Worthülse verkommt und der möglicherweise gerade deshalb eine gewisse Attraktivität und Anerkennung aufweist (Bayertz 2019, S. 9; auch Zoll 2000, S. 11). Solidarität gehört folglich zu denjenigen Begriffen, die Eindeutigkeit suggerieren, solange sie nicht befragt werden. Die Melange aus Containerwort und emotionaler Botschaft macht sie zu einer „sozialen Wohlfühlkategorie“ – denn: „wer wäre nicht dafür?“4 (Lessenich 2019, S. 96) – und einer geeigneten, identitätspolitischen Zauberformel; als solche macht sie auch vor Gewerkschaften nicht halt. Die „dunkle Seite des Mondes“ (Heydorn 2004/II, S. 47), die bewusstlose Affirmation des Bestehenden – trotz eines ggf. intendierten kritischen Impulses – fällt dadurch leicht aus dem Sichtfeld.

1 Beim Herrschaftsverhältnis von Kapital und Arbeit handelt es sich primär um ein soziales Verhältnis, in dem die ökonomischen Fragen von Produktion und Reproduktion gesellschaftlichen Lebens zentral ver­handelt werden, sich aber nicht darauf reduzieren lässt. Ellen M. Wood (2010) weist in ihrer instruktiven Studie „Demokratie vs. Kapitalismus“ nachdrücklich darauf hin.
2 Emile Durkheim diskutiert in seiner soziologischen Studie „Über die soziale Arbeitsteilung“ (2019[1893]) erstmalig systematisch den Begriff der Solidarität und unterscheidet zwischen mechanischer, ‚naturwüch­siger‘ und organischer Solidarität. Letztere gewinnt „fortschreitendes Übergewicht“ (Durkheim 2019[1893]) im Zuge der vollen Herausbildung moderner Gesellschaften. Die Studie wird hier nicht verhandelt, weil in ihr Solidarität im heutigen Sinne von sozialer Integration bestimmt wird (Scherr 2019, S. 11).
3 Carina Book, Nikolai Huke, Sebastian Klauke und Olaf Tietje machen darauf aufmerksam, dass „alltäg­liche Grenzziehungen […] einen elementaren Grundbestandteil der gesellschaftlichen Gegenwartsordnung aus[machen]. Imperiale Lebensweisen, exklusive Solidaritäten, Externalisierungsstrategien sowie ihre (alltäg­lichen) Rechtfertigungspraktiken erweisen sich als zentrale Problemfelder für die Frage emanzipatorischer Politik“ (Book et al. 2019, S. 9).
4 Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier verlieh im März 2021 einen Orden „Gelebte Solidarität“ an Menschen, „die wirklich Großes geleistet haben“ (Steinmeier 2021). Auch Olaf Scholz, Parteikollege und ebenso wie Steinmeier einer der Architekten der Agenda 2010, sieht in seiner Rede auf dem Kongress der Steuerberater einen engen Zusammenhang von „Leistungsfähigkeit und Solidarität“ (Scholz 2020) – ohnehin ein beliebter neoliberaler Konnex – als Bedingung des Bestehens ‚Deutschlands‘ auf dem Welt­markt. Selbst der neoliberal-totalitäre Thinktank Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM) legt Wert auf Solidarität: Auf dessen Ökonomieblog schreibt der Autor Gerd Maas, Solidarität bedeute „Vertrauen auf reziproken Altruismus“ und sei eine „Bürgerpflicht“ (Maas 2021). Diese habe sich in der Wirtschafts­ordnung Deutschlands, der sog. ‚Sozialen Marktwirtschaft‘, rechtlich institutionalisiert und daher sei die „Solidargemeinschaft als Schicksalsgemeinschaft“ [sic!] zu verstehen (Maas 2021).

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