Zur skeptisch-transzendentalkritischen Pädagogik

Pädagogische Korrespondenz Heft 67 (1-2023): Skeptische Pädagogik und skeptische Bildung

Skeptische Pädagogik und skeptische Bildung

Andreas Gelhard

Pädagogische Korrespondenz, Heft 67 (1-2023), S. 23-41.

 

In der neuzeitlichen Philosophie ist der Begriff der Skepsis eng mit erkenntnistheoretischen Fragen verbunden. Epochemachende Autoren wie Descartes oder Kant verwenden skeptische Argumentationsfiguren, wenn es um die Untersuchung unserer Erkenntnisvermögen geht, stützen sich in der Ethik aber eher auf stoisches Gedankengut. Wer programmatisch von einer skeptisch-transzendentalkritischen Pädagogik spricht, der setzt sich daher schnell dem Verdacht aus, er dehne eine Denkweise, die eigentlich auf Erkenntnisfragen zugeschnitten ist, auf den Bereich der pädagogischen Praxis aus. Wolfgang Fischer, der als Gründer der skeptisch-transzendentalkritischen Pädagogik angesehen werden kann, hat daher immer versucht, den Einzugsbereich seiner Untersuchungsmethoden auf theoretische Fragen einzuschränken. Er sah schon bei Kant das Problem, dass er den Dogmatismus, den er in seiner Erkenntniskritik mit skeptischen Mitteln vertrieben hatte, durch die „praktische Hintertür“ wieder hineinlässt (Fischer 1982, S. 52). Wenn man Kants strenge Unterscheidung zwischen theoretischer und praktischer Philosophie akzeptiert, ist diese Befürchtung auch sehr gut nachvollziehbar. Im Rahmen von Kants Aufteilung bedeutet der Schritt in die Praxis immer eine Distanzierung von dem Feld, das sich sinnvoll mit skeptischen Mitteln untersuchen lässt. Diese kantianische Sicht ist aber nicht alternativlos. Jörg Ruhloff hat, in engem Austausch mit Fischer, eine Spielart der skeptisch-transzendentalkritischen Pädagogik entwickelt, die die Grenzen zwischen Theorie und Praxis anders zieht. Dazu reaktiviert er andere, antike Traditionen des skeptischen Denkens, die von vornherein an praktischen Fragen orientiert sind: vor allem die Sophisten und den Sokrates der frühen platonischen Dialoge. Schon Fischer bezieht sich an zentralen Stellen seiner Überlegungen auf die Lehrpraxis des Sokrates (ebd., S. 60 f.). Er hält aber am Primat der theoretischen Perspektive fest. Erst Ruhloff begreift Theorie und Praxis als Erscheinungsformen eines pädagogischen Untersuchungsfeldes, das uns in verschiedenen Gestalten begegnen kann: „in Form wissenschaftlich-skeptischer Analysen einerseits, in Gestalt elenktisch-skeptischer Bildungspraxis andererseits“ (Ruhloff 1990/92, S. 38). Das unverwechselbare Profil von Ruhloffs skeptischem Programm verdankt sich dieser entschiedenen Erweiterung des Blickwinkels – bei konsequenter Konzentration auf pädagogische Fragestellungen. Das ist aus einer philosophischen Perspektive sehr auffallend. Wenn Ruhloff einen Widerstreit zwischen unterschiedlichen Auffassungen der pädagogischen Aufgabe erörtert, bleiben es unterschiedliche Auffassungen der pädagogischen Aufgabe. Das Eigenrecht und die Eigenlogik des Pädagogischen bilden den unüberschreitbaren Horizont seines Denkens.1

Ich bin gebeten worden, etwas zur skeptisch-transzendentalkritischen Pädagogik zu sagen, weil ich ein Buch mit dem Titel Skeptische Bildung geschrieben habe (Gelhard 2018a). Der dort entwickelte Bildungsbegriff ist Produkt einer negativistischen Lektüre Hegels, die sich vor allem auf die Phänomenologie des Geistes stützt. Das macht die Auseinandersetzung mit den Schriften Ruhloffs interessant, aber auch schwierig, weil man sich ihnen aus einem eher entfernten philosophischen Universum nähert. Hegels Rezeption des antiken Skeptizismus und die daraus entspringende Bildungskonzeption sind für Ruhloffs skeptisch-transzendentalkritisches Programm ohne jede Bedeutung.2 Das ist einerseits gut nachvollziehbar, weil Hegels Bildungsbegriff kein pädagogischer Bildungsbegriff ist.3 Es ist andererseits aber auch erstaunlich, weil Hegel einer der wenigen modernen Autoren ist, die skeptische Figuren auf dem Gebiet der praktischen Philosophie verwenden. Sein Rückgriff auf die antike pyrrhonische Skepsis ist immer mit dem Hinweis verbunden, dass diese Form des skeptischen Denkens dem Primat des Praktischen folgt.4 Das ist der Grund, weshalb die transzendentalkritisch-skeptische Pädagogik Ruhloffs und die negativistische Bildungsphilosophie Hegels nicht nur äußerlich verglichen, sondern aus einem gemeinsamen Anliegen verstanden werden können. Es handelt sich um Spielarten praktischer Skepsis.

I

Das skeptische Denken hat sehr unterschiedliche Spielarten hervorgebracht. Hegel beginnt seine Auseinandersetzung mit der philosophischen Skepsis im Jahr 1802 mit einer langen Rezension, in der er die Überlegenheit des antiken Skeptizismus über moderne, im weitesten Sinne cartesianische Spielarten betont (Hegel 1986a). Er stellt sich so in eine skeptische Traditionslinie, die ich hier provisorisch als Isosthenie-Skeptizismus bezeichnen möchte. Mit dem Begriff der Isosthenie bezeichnet Sextus Empiricus in seinem Grundriss der pyrrhonischen Skepsis das Gleichgewicht der Gründe, das den Skeptiker zur Zurückhaltung seines Urteils zwingt.5 Damit bringt er ein Verfahren der antilogischen Konfrontation von Gegensätzen auf den Begriff, das sich schon in der Sophistik findet. Die Traditionslinie der Isosthenie-Skepsis lässt sich von Protagoras und Sextus über Kant und Hegel bis zu Marx und Adorno verfolgen. Sie verbindet sich seit Kant und Hegel mit den Schlagworten Antinomik und Dialektik. Das vorletzte Stück von Adornos Minima Moralia beginnt mit dem Satz: „Die Dialektik ist der Sophistik entsprungen“ (Adorno 2003, S. 280).

Auch Ruhloff stellt sich in die Tradition der antiken Skespsis. Dabei bezieht er sich aber nicht auf Sextus, sondern auf den Sokrates der frühen platonischen Dialoge. Die pyrrhonische Skepsis wird in Ruhloffs Schriften zwar gelegentlich erwähnt, in seinem programmatischen Aufsatz „Sokratische Skepsis in der Pädagogik“ (1999) kommt sie aber kein einziges Mal zur Sprache. Stattdessen behandelt Ruhloff ausführlich Wolfgang Fischers Auseinandersetzung mit Kants skeptischer Methode, die den Anschluss an die pädagogische Theoriebildung ebenfalls über die skeptischen Momente der sokratischen Prüfungspraxis sucht. Fischers Auseinandersetzung mit Kant ist, aus der Sicht der oben skizzierten Isosthenie-Skepsis, sehr ungewöhnlich. Er entnimmt Kants kritischer Philosophie das Motiv der Analyse von Möglichkeitsbedingungen, löst die skeptische Methode aber aus ihrem Bezug zur Antinomik. Für die skeptisch-transzendentalkritischen Pädagogik ist das Antinomische, so lautet die wohl wichtigste programmatische Aussage von Fischers Text, „unwesentlich geworden“ (Fischer 1982, S. 59). Bei Fischer bildet sich so schon eine spezifische Spielart skeptischen Denkens heraus, die ich hier, erneut provisorisch, Bedingungs-Skeptizismus nennen möchte.

Ruhloff nimmt Fischers Programm auf und bestimmt das Projekt der skeptisch-transzendentalkritischen Pädagogik als Untersuchung der „Konstitutionsvoraussetzungen“ pädagogischer Theoriebildung (Ruhloff 1990, S. 63). Seine Beziehung zur Traditionslinie des Isosthenie-Skeptizismus ist aber weniger leicht zu bestimmen als im Falle Fischers. Das zeigt sich zum Beispiel in seinem wichtigen Aufsatz „Widerstreit – eine architektonische Konstante im Aufbau der Pädagogik“ (Ruhloff 1991). In diesem Aufsatz adaptiert Ruhloff mit Lyotards Begriff des Widerstreits ein Konzept, das man als besonders radikale Variante des Isosthenie-Skeptizismus betrachten kann. Denn anders als Kant, der die Antinomien der Vernunft aus der Perspektive eines unparteiischen Richters auflöst, untersucht Lyotard einen Widerstreit zwischen Diskursarten, der ohne Unparteiischen auskommen muss.6 Es bedeutet daher keinen Rückfall in dogmatische Darstellungsformen, sondern eine Radikalisierung des skeptischen Zugriffs, wenn Ruhloff seinen Text als Erläuterung einer These anlegt, der keine Gegenthese entspricht. Mit der Idee eines Gerichtshofs der Vernunft verschwindet auch die Möglichkeit einer philosophischen Vogelperspektive, aus der sich These und Antithese vor dem Leser ausbreiten lassen. Ruhloffs These lautet:

„Die pädagogische Aufgabe schließt einen unauflöslichen Widerstreit ein, der das Gelingen aller Versuche, eine homogene pädagogische Theorie oder Wissenschaft aufzubauen, ebenso vereitelt wie eine homogene Erziehungs- und Bildungspraxis“ (ebd., S. 81).

In der Erläuterung seiner These lässt Ruhloff keinen Zweifel, dass es sich bei dem genannten Widerstreit um keine der bekannten „Antinomien“ handelt, die der pädagogische Diskurs des 20. Jahrhunderts hervorgebracht hat. Die Rede von einem inneren Widerstreit der pädagogischen Aufgabe bezieht sich nicht auf die bekannten Gegensätze zwischen Sachlichkeit und Mitmenschlichkeit, zwischen Führen und Wachsenlassen, zwischen formaler und materialer Bildung oder zwischen Fremdaufforderung und Selbsttätigkeit (Ruhloff 1991, S. 81). Alle diese Gegensätze sind nach Ruhloff noch in dem Sinne antinomisch bestimmt, dass sie sich als Teil einer übergreifenden Ordnung verstehen lassen, die es erlaubt, den Streit „zu vermeiden, im Vorfeld zu schlichten, gesetzesentsprechend zu entscheiden oder in einen gütlichen Vergleich zu überführen“ (ebd., S. 82). Die Diskussion, in welchem genauen Verhältnis Führen und Wachsenlassen, formale und materiale Bildung oder Selbstbestimmung und Fremdaufforderung stehen, lässt sich, aus Ruhloffs Perspektive, endlos führen, ohne den unauflöslichen Widerstreit, der die pädagogische Aufgabe kennzeichnet, auch nur zu berühren.

In der Ausarbeitung seines Arguments geht Ruhloff auf die antike Sophistik zurück, die auch für Lyotards Spielart des Isosthenie-Skeptizismus nicht ohne Bedeutung ist.7 Laut Ruhloff tritt der Widerstreit der noch heute die pädagogische Aufgabe spaltet, erstmals in der pädagogischen Praxis der Sophisten zutage (ebd.). Protagoras setzt, Ruhloffs Darstellung zufolge, der „gewöhnlichen Paideia“, die auf den Erhalt der Polis und die Einweisung in ihren „Kulturbestand“  ausgerichtet ist, eine pädagogische Praxis entgegen, die zeigt, dass man Sachverhalte prinzipiell „aus zwei entgegengesetzten Gesichtspunkten“ betrachten und beurteilen kann (ebd., S. 83). Bestimmt man diese Abspaltung einer neuen von einer normalen Paideia mit Lyotard als Widerstreit, so kann dieses Verhältnis prinzipiell nur perspektivisch bestimmt werden.

1 Andreas Gruschka hat Ruhloffs Treue zur pädagogischen Aufgabe jüngst in der Pädagogischen Korrespondenz hervorgehoben (Gruschka 2020, S. 81).
2 Nur so ist seine These zu erklären, in die „klassischen Erziehungs- und Bildungstheorien der Moderne“ seien keine „skeptischen Tendenzen“ eingedrungen (Ruhloff 1999, S. 23).
3 Theodor Ballauff behandelt Hegel in seinen Philosophischen Begründungen der Pädagogik nicht, weil er sich mit seiner Darstellung „im engeren Rahmen des Pädagogischen“ halten will (Ballauff 1966, S. 152). Komplementär dazu betont Birgit Sandkaulen in ihrer philosophischen Auseinandersetzung mit Hegels Bildungsbegriff, dieser Begriff sprenge „den pädagogischen Rahmen“ (Sandkaulen 2014, S. 430).
4 In einem programmatischen Text der Jenaer Zeit schreibt er, die pyrrhonische Skepsis lasse sich am angemessensten als „Erziehung zu einer Lebensweise“ verstehen (Hegel 1986a, S. 242).
5 „Die Skepsis ist die Kunst, auf alle mögliche Weise erscheinende und gedachte Dinge einander entgegenzusetzen, von der aus wir wegen der Gleichwertigkeit der entgegengesetzten Sachen und Argumente zuerst zur Zurückhaltung, danach zur Seelenruhe gelangen“ (Sextus Empiricus 1985, S. 94).
6 Ein Widerstreit zwischen zwei Parteien liegt, laut Lyotard, dann vor, wenn „sich die ‚Beilegung‘ des Konflikts, der sie miteinander konfrontiert, im Idiom der einen vollzieht“ (Lyotard 1989, S. 27). Mit einem Beispiel, das Ruhloff eher fern liegt, erläutert er: „[Das] Wirtschafts- und Sozialrecht kann zwar den Rechtsstreit zwischen den Wirtschaftspartnern schlichten, nicht aber den Widerstreit zwischen Arbeitskraft und Kapital“ (ebd., S. 28).
7 Vgl. vor allem den Exkurs zu Protagoras in Lyotard 1989, S. 21-36.

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