Religiöse Vielfalt im Hamburger Religionsunterricht für alle (RUfa)

Zeitschrift für erziehungswissenschaftliche Migrationsforschung (ZeM) 1+2-2024: Religiöse Vielfalt als Herausforderung für die Schule – Schule als Herausforderung für ‚religiös Andere‘? Erfahrungen und religionspädagogische Überlegungen nicht-christlicher Religionslehrkräfte im Religionsunterricht für alle in Hamburg

Religiöse Vielfalt als Herausforderung für die Schule – Schule als Herausforderung für ‚religiös Andere‘? Erfahrungen und religionspädagogische Überlegungen nicht-christlicher Religionslehrkräfte im Religionsunterricht für alle in Hamburg

Janne Braband

Zeitschrift für erziehungswissenschaftliche Migrationsforschung (ZeM), Heft 1+2-2024, S. 107-121.

 

Zusammenfassung: Der Artikel thematisiert den Umgang mit Religion und religiöser Vielfalt im schulischen Kontext als Transformationsanforderung, die nicht zuletzt auch den Religionsunterricht betrifft. Während dort versucht wird, mit interreligiös-dialogischem Lernen auf die wachsende Heterogenität einzugehen, zeigen Studien aus einer macht- und differenzanalytischen Perspektive, wie im schulischen Kontext (zugeschriebene) Religionszugehörigkeit neben Merkmalen wie Sprache, Hautfarbe, Herkunft als wirkmächtige Differenzkategorie (re)konstruiert wird. Der Beitrag zeigt vor diesem Hintergrund, wie auch nicht-christliche Religionslehrkräfte Positionierungen als ‚religiös Andere‘ erleben, und beleuchtet ihre religionspädagogischen Überlegungen zum Umgang mit religiöser Vielfalt im Hamburger Religionsunterricht für alle (RUfa). In einer exemplarischen und explorativen Herangehensweise werden dazu Ergebnisse aus drei Expert:inneninterviews mit Religionslehrkräften vorgestellt, die u. a. Hinweise darauf geben, wie religiöse Bezüge in der Schule jenseits von dominanten Zuschreibungs- und Ausgrenzungspraxen aufgegriffen werden können.

Schlüsselwörter: Religiöse Vielfalt, Differenzkategorie Religion, Religiöses Othering, interreligiös-dialogisches Lernen, Religionsunterricht für alle (RUfa), antimuslimischer Rassismus

 

Title: Religious Diversity as a Challenge for School – School as a Challenge for ’Religious Others’? Experiences and Religious Pedagogical Considerations of Non-Christian Teachers in Religious Education for All in Hamburg

Summary: The article focuses on dealing with religion and religious diversity in the school context as a transformational challenge that also affects religious education. While attempts are being made to respond to growing heterogeneity with interreligious-dialogical learning, studies from a power and difference analysis perspective show how (ascribed) religious affiliation is (re)constructed as a powerful category of difference in the school context alongside characteristics such as language, skin colour and origin. Against this backdrop, the article shows how non-Christian religious education teachers experience positionings as ‘religious others’ and sheds light on their religious education considerations for dealing with religious diversity in Religious Education for All (RUfa) in Hamburg. In an exemplary and explorative approach, results from three expert interviews with religious education teachers are presented, which, among other things, provide indications of how religious references can be addressed in school beyond dominant practices of attribution and exclusion.

Keywords: Religious Diversity, Religion as a Category of Difference, Religious Othering, Interreligious Dialogue-Based Learning, Religious Education for all (RUfa), Anti-Muslim Racism

 

1 Einleitung1

Der Umgang mit Religion und religiöser Vielfalt im schulischen Kontext stellt in verschiedenerlei Hinsicht eine beträchtliche Herausforderung dar. Zwar nimmt die Zahl der Mitgliedschaften in christlichen Kirchen stetig ab, von einem allgemeinen Bedeutungsverlust der Religion(en) kann jedoch nicht ausgegangen werden. Stattdessen wird in der Einwanderungsgesellschaft eine zunehmende Pluralisierung und Vervielfältigung religiöser Kontexte festgestellt (vgl. Berger 2015) und für viele Schüler:innen und ihre Familien spielen Religion und religiöse Praxen eine zentrale Rolle. Für die Schule, die dieser Entwicklung in weiten Teilen mit einem monoreligiösen Habitus gegenübersteht (vgl. Karakaşoğlu/Klinkhammer 2016: 299), kann die Pluralisierung religiöser Bezüge als beträchtliche Transformationsanforderung gelesen werden, die nicht zuletzt den Religionsunterricht betrifft.

Dieser geht mittlerweile zunehmend auf die wachsende Heterogenität ein und entwickelt Organisationsformen und Konzepte, mit denen religiöse Vielfalt einbezogen und interreligiöse Kompetenzen gefördert werden sollen (vgl. Knauth/Vieregge 2018). Das weitreichendste Modell ist hier der Hamburger Religionsunterricht für alle (RUfa), in dem die Schüler:innen nicht nach Konfessionen getrennt, sondern gemeinsam im Klassenverband unterrichtet werden und dessen Gestaltung von verschiedenen Religionsgemeinschaften zusammen verantwortet wird.

Forschungen zum Verhältnis von Religion und Schule aus einer macht- und differenzanalytischen Perspektive zeigen indes, dass im schulischen Kontext (zugeschriebene) Religionszugehörigkeit neben Merkmalen wie Sprache, Hautfarbe, Herkunft im Sinne eines religiösen Otherings als wirkmächtige Differenzkategorie (re)konstruiert wird (vgl. Mecheril/Thomas-Olalde 2018). Vor diesem Hintergrund zeigt der vorliegende Beitrag einerseits, wie auch nicht-christliche Religionslehrkräfte aus dem Hamburger RUfa Positionierungen als ‚religiös Andere‘ erleben, und beleuchtet andererseits ihre religionspädagogischen Überlegungen zum Umgang mit religiöser Vielfalt. Empirische Grundlage sind drei Expert:inneninterviews, die im Rahmen des BMBF-Forschungsprojekts „Religiös codierte Differenzkonstruktionen im schulischen Religionsunterricht“2 entstanden sind, und die hier in einer exemplarischen und explorativen Herangehensweise analysiert werden.

In Kapitel 2 wird zunächst das Verhältnis von Religion und Schule in der Migrationsgesellschaft skizziert, indem Forschungen zur Relevantmachung von Religion als Differenzkategorie (2.1), das Konzept des religiös-dialogischen Lernens und der Hamburger RUfa (2.2) sowie Erkenntnisse zum Dilemma interreligiösen Religionsunterrichts (2.3) vorgestellt werden. Daraufhin werden in Kapitel 3 das Sample und die Methodik des hier thematisierten Studienausschnitts erläutert (3.1), bevor Ergebnisse zu drei Themenfeldern präsentiert werden (3.2 bis 3.4). Schließlich komme ich im Fazit (Kapitel 4) vor dem Hintergrund der empirischen Ergebnisse noch einmal auf die Transformationsanforderungen zurück, die für die Schule angesichts der Pluralisierung religiöser Bezüge bestehen.

2 Zum Verhältnis von Religion und Schule in der Migrationsgesellschaft

2.1 Religion als Differenzkategorie in migrationsgesellschaftlichen Zugehörigkeitsdiskursen

Religion ist in der erziehungswissenschaftlichen Migrationsforschung sowohl in Bezug auf subjektive Bildungs- und Erziehungsvorstellungen als auch als Differenzkategorie in den letzten 20 Jahren zunehmend in den Blick geraten (vgl. Diehm 2017). Für den schulischen Kontext stellen Diehm et al. (2022) fest, dass hier durchaus Fragen „religionsbezogener sowie religiöser Fremd- und Selbstpositionierungen“ verhandelt werden, bei denen immer auch „Konzepte von Zugehörigkeit, Normen und Werten ebenso wie die Frage nach dem Verhältnis von Mehrheit und Minderheiten und nach der Konstitution nationalstaatlich verfasster Gesellschaften“ mitschwingen (ebd.: 134). Karakaşoğlu und Klinkhammer (2016) betonen dementsprechend, dass „Religion und Religionsverhältnisse […] eine entscheidende Rolle […] für den pädagogischen Diskurs um ‚die Anderen‘“ (ebd.: 299) spielen, und Religion ähnlich wie Hautfarbe, Herkunft oder Sprache im schulischen Kontext als wirkmächtige Differenzkategorie (re)konstruiert wird. Mecheril und Thomas-Olalde (2018) verwenden hierzu unter Rückgriff auf postkoloniale Theoriebildung den Begriff des religiösen Otherings. Er beschreibt kolonialisierende Praktiken der Subjektivierung, in denen Individuen und Gruppen diskursiv zu religiös ‚Anderen‘ gemacht werden, wodurch gleichzeitig ein kollektives und den ‚Anderen‘ überlegenes Selbstbild erzeugt wird.

Vor dem Hintergrund migrationsgesellschaftlicher Zugehörigkeitsdiskurse lässt sich jedoch nicht nur beobachten, wie (zugeschriebene) Religiosität zunehmend als Differenzmerkmal herangezogen wird, sondern auch, dass dies vor allem in Bezug auf Muslime geschieht. Während Zugehörigkeit bis zur Jahrtausendwende noch überwiegend anhand ‚nationaler‘ oder ‚kultureller‘ Kategorien bestimmt wurde, ist heute vor allem ‚der Islam‘ als Differenzmarker bedeutsam. So stellt Schiffauer bereits 2015 „eine deutliche Verschiebung in der Komplexitätsreduktion“ (ebd.: 25) fest: Während z. B. Gewaltprobleme oder Verweigerung im schulischen Kontext in den 1980er Jahren noch als „soziale Probleme“ und in den 1990er Jahren als „Ausländerprobleme“ gehandelt wurden, würden sie heute „auf den Islam“ zurückgeführt (ebd.). Spielhaus (2013) bringt den Bedeutungszuwachs der Differenzkategorie Religion bzw. Islam mit der Änderung des Staatsangehörigkeitsrechtes in Zusammenhang, durch die Zugewanderte aus muslimischen Ländern und ihre Nachkommen anhand der Staatsangehörigkeit nicht mehr unterscheidbar waren, und durch religionsbezogene Zuschreibungen wiederum von der ‚Mehrheitsgesellschaft‘ unterschieden werden konnten. Somit habe sich hier in der Aushandlung migrations- und integrationsbezogener Themen „eine religiöse gegen die vormals ethnische Terminologie“ durchgesetzt (ebd.: 172).

Im Zuge dessen wird laut Karakaşoğlu und Klinkhammer (2016) islamische Religiosität in medialen und dominanten wissenschaftlichen Diskursen als ‚die Andere‘ markiert, die an „vormodernen Traditionen und kollektivistischen Orientierungen“ festhalte, wohingegen die „christliche Religiosität als individualisiert und damit den säkularen Anforderungen der Gesellschaft angepasst dargestellt“ wird (ebd.: 294). Im Rahmen eines dichotomen Modernisierungs-Paradigmas, das die deutsche Gesellschaft als säkular und individualisiert vorstelle, würden die religiös ‚Anderen‘ vor allem als „Nicht-Moderne“ identifiziert (ebd.: 295).

Diesen Einschätzungen liegen u. a. Erkenntnisse von Attia (2009) zugrunde, die in ihren Untersuchungen zum antimuslimischen Rassismus als spezifischer Form des Kulturrassismus in der Migrationsgesellschaft zeigt, wie in Alltagsdiskursen Wissensordnungen transportiert werden, die ‚die Muslime‘ als Andere konstruieren. Grundlegend sind auch die Ergebnisse von Shooman (2014), die in einer Medienanalyse sichtbar macht, wie Muslim:innen im öffentlichen Diskurs „aus einer dominanten gesellschaftlichen Position heraus […] unabhängig von einem individuellen Glaubensbekenntnis als eine homogene und quasi-natürliche Gruppe in binärer Anordnung zu weißen christlichen/atheistischen Deutschen bzw. Europäern konstruiert und mit kollektiven Zuschreibungen versehen“ werden (ebd.: 64). Dabei würde der Islam als nicht integrierbar, rückständig, irrational und gewaltbereit dargestellt (vgl. ebd.: 100).

Für die Schule gibt es mittlerweile zahlreiche Studien, die zeigen, wie der Islam hier zum „Störfaktor“ konstruiert wird (Karakaşoğlu 2009: 289) und Schüler:innen, Eltern und (angehende) Lehrkräfte anhand zugeschriebener muslimischer Religiosität als ‚religiös Andere‘ positioniert und diskriminiert werden. So zeigen Karakaşoğlu und Wojciechowicz (2017) anhand von Interviews mit Lehramtsstudierenden und Dozierenden, wie im Rahmen der praxisorientierten Teile der Lehramtsausbildung versucht wird, „sichtbare religiöse Ausdrucksformen von Muslim_innen, […] aus dem schulischen Alltag zu verbannen“ (ebd.: 524). U. a. wird hier das Tragen des Kopftuchs „zum Symbol für Rückschritt“ gemacht und für unvereinbar „mit der als modern, demokratisch und aufgeklärt bewerteten gegenwärtigen gesellschaftlichen Ordnung“ erklärt (ebd.: 514).

Auch die Studie von Fereidooni (2020) zu Diskriminierungs- und Rassismuserfahrungen von Lehrkräften und Referendar:innen ‚mit Migrationshintergrund‘ zeigt, dass die Mehrzahl der Befragten muslimischen Glaubens bzw. solche, denen dieser zugeschrieben wird, in der Schule antimuslimischenRassismus erleben und entsprechende Diskriminierungserfahrungen machen, die mehrheitlich von Kolleg:innen und Vorgesetzten und seltener von Eltern oder Schüler:innen ausgehen (vgl. ebd.: 108). Im qualitativen Teil der Studie arbeitetet er unterschiedliche Bewältigungs- und Dethematisierungsstrategien der von antimuslimischem Rassismus Betroffenen heraus (vgl. ebd.: 112).

Riegel (2011) untersucht den Blick von Jugendarbeiter:innen auf als muslimisch gelesene Jugendliche und stellt in Gruppengesprächen mit den Pädagog:innen fest, dass sie Jugendliche, die sie ‚dem Islam‘ zuordnen, als ‚kulturell‘ abweichend und als ‚Andere‘ markieren, wobei im Sprechen über Differenzen Kultur stark mit Religion vermischt werde (vgl. ebd.: 321). Die Verbindung der Differenzkategorie Religion bzw. muslimische Religiosität mit weiteren Differenzkategorien und die daraus entstehenden Zuschreibungen und Diskriminierungserfahrungen finden sich auch in einer Studie von Mühe (2020). Sie beschreibt anhand einer Interviewstudie mit Jugendlichen, dass diese als ‚Migrationsandere‘ im schulischen Bereich ohnehin Diskriminierungserfahrungen machen, die sich jedoch durch das Sichtbarmachen religiöser Praxis (Kopftuch, Gebete) noch verschärfen und den Bildungsverlauf negativ beeinflussen können (vgl. ebd.: 123).

Auch in der ethnologischen Aktionsforschung zur Bildungspartnerschaft zwischen islamischen Gemeinden und Schule von Schiffauer (2015) wird die Verschränkung religiös codierter Stigmatisierungen mit anderen Differenzlinien deutlich. In Beobachtungen und Gesprächen mit migrantisch gelesenen Eltern zeigt sich, dass gerade diejenigen Eltern das Verhältnis zur Schule als belastet beschreiben, die nicht nur als praktizierende Muslim:innen diskriminierenden Zuschreibungen ausgesetzt sind, sondern zusätzlich über eine geringe Schulbildung und geringe Deutschkenntnisse verfügen und einen niedrigen sozioökonomischen Status aufweisen. Sie beschreiben, wie sie sich von den Lehrkräften ihrer Kinder anhand äußerer Merkmale als Muslim:innen gelesen und deshalb als zurückgeblieben und an Bildung nicht interessiert eingestuft fühlen (vgl. Ucan 2015: 72).

Schließlich zeigt auch Kahle (2022) anhand qualitativer Interviews mit Lehrkräften, dass diese mit Blick auf ihre Schüler:innen „Grenzen entlang religiöser Linien, insbesondere des Islams“ ziehen (ebd.: 598). Das Merkmal ‚muslimisch‘ werde dabei als religiös-kulturelles mit nationalen Zuschreibungen vermischt und es werden daran bestimmte Unterschiede manifestiert und Zuschreibungen vorgenommen, vor allem im Zuge von Erzählungen über Konflikte zwischen Lehrkräften und Schüler:innen. Auf die Verunsicherung, die bei Lehrkräften durch (vermeintlich) religiös motivierte Konflikte entsteht, reagieren diese häufig mit einem verstärkten Rückgriff auf Klassifizierung, Grenzziehung und Disziplinierung (vgl. ebd.: 603).

Die hier vorgestellten Studien zeigen aus der Perspektive von muslimisch gelesenen (angehenden) Lehrkräften, Jugendlichen und Eltern sowie von ‚mehrheitsangehörigen‘ Pädagog:innen und Lehrkräften, wie Religion bzw. speziell (zugeschriebene) muslimische Religiosität in dominanzgesellschaftlichen Zugehörigkeitsdiskursen als Differenzmerkmal herangezogen wird und Zuschreibungspraxen legitimiert, die auch und gerade im schulischen Kontext Ungleichheit und Diskriminierung hervorrufen. Wie die Schule andererseits inhaltlich und didaktisch mit religiöser Vielfalt umzugehen versucht, zeigt sich im folgenden Abschnitt am Beispiel des Hamburger RUfa.

1 Ich danke den Gutachter:innen und dem Redaktionsteam für die hilfreichen Rückmeldungen zu früheren Versionen des Artikels.
2 Das Projekt ist Teil des Forschungsverbundes „Antisemitismus in pädagogischen Kontexten. Religiös codierte Differenzkonstruktionen in der frühen und mittleren Kindheit (RelcoDiff)“ (BMBF-Fördernummer 01UG2149C).

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