Eine Leseprobe aus Rekonstruktive Sozialforschung. Einführung in qualitative Methoden (10. Auflage) von Ralf Bohnsack, Kapitel „2.3 Zur Methodologie rekonstruktiver Verfahren“, S. 24-28.
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2.3 Zur Methodologie rekonstruktiver Verfahren
Die interpretativen oder rekonstruktiven Verfahren gehen den entgegengesetzten Weg, nach dem Motto: Weniger Eingriff schafft mehr Kontrollmöglichkeiten. Durch weniger Eingriffe des Forschers soll mehr methodische Kontrolle erreicht werden. Das klingt paradox.
Die Fragestellung soll – wenn wir beim Interview bleiben – möglichst offen sein, sodass die Befragten die Kommunikation weitestgehend selbst strukturieren und damit auch die Möglichkeit haben, zu dokumentieren, ob sie die Fragestellung überhaupt interessiert, ob sie in ihrer Lebenswelt – man sagt auch: ihrem Relevanzsystem – einen Platz hat und wenn ja, unter welchem Aspekt sie für sie Bedeutung gewinnt. Die Befragten sollen selbst offen legen, wie sie die Fragestellung interpretieren, damit die Art und Weise, wie sie die Fragen übersetzen, erkennbar wird; und zugleich wird ihnen die Gelegenheit gegeben, das Thema in ihrer eigenen Sprache zu entfalten. Je umfassender dies geschieht, desto geringer ist die Gefahr, dass die Interviewenden oder auch diejenigen, die das Interview auswerten, die Befragten missverstehen.
Methodische Kontrolle bedeutet hier also Kontrolle über die Unterschiede der Sprache von Forschenden und Erforschten, über die Differenzen ihrer Interpretationsrahmen, ihrer Relevanzsysteme. Und diese Kontrolle gelingt nur, wenn ich den Erforschten Gelegenheit gebe, ihr Relevanzsystem zu entfalten, und dann darauf aufbauend – rekonstruierend – mir die Unterschiede der Interpretationsrahmen vergegenwärtige.
In einem Aufsatz zur Gegenüberstellung von offenem und geschlossenem, also standardisiertem Interview führt Kohli (1978, S. 11) ein Beispiel aus einer eigenen Untersuchung an. Es geht um die Frage, wie Filme über Arbeiter von Arbeitern selbst wahrgenommen und interpretiert werden: „In unserer ‚Arbeiterfilm‘-Untersuchung lautete die Eingangsfrage: ‚Wie hat Ihnen der Film gefallen?‘ Damit sollte ermittelt werden, welche Beurteilungsdimensionen und -kriterien die Befragten von sich aus an den Film anlegen; erst danach sprach der Interviewer einzelne davon selber an, z.B. mit der Frage ‚Beschreibt der Film die Wirklichkeit so, wie sie ist? Oder gibt es Dinge darin, die nicht so sind wie in der Wirklichkeit?‘ – mit Nachfragen hinsichtlich spezifischer Aspekte (Arbeiter, Betriebsrat, Geschäftsleitung, Konfliktlösung etc.). Der Befragte wird also im offenen Interview dazu gebracht, selber anzuzeigen, was für ihn in welcher Weise relevant ist. Die allgemeinen Fragen, mit denen der Interviewer beginnt, müssen von ihm konkretisiert werden. Der Interviewer beschränkt sich zunächst darauf, den Beiträgen des Befragten zu folgen und diese wo nötig durch ergänzende Nachfragen zu vertiefen, und kommt erst am Schluß auf die noch nicht behandelten Bereiche des Leitfadens zu sprechen.“
Im offenen Interview geht es, wie in allen offenen Verfahren, also darum, die Befragten ein Thema in deren eigener Sprache, in ihrem Symbolsystem und innerhalb ihres Relevanzrahmens entfalten zu lassen; nur so können die Interviewer(innen) oder Beobachter(innen) vermeiden, in die Einzeläußerung Bedeutungen hineinzuprojizieren, die ihr nicht zukommen. Wenn z.B. ein Befragter auf Fragen angibt, er sei streng erzogen worden, so kann der Forscher mit dieser Äußerung allein recht wenig anfangen; es sei denn, er projiziert seine eigenen Vorstellungen von strenger Erziehung dort hinein. Mehr erfährt er, wenn diese Äußerung im Kontext einer Erzählung des Befragten steht, dem Befragten mit seiner Erzählung Gelegenheit gegeben wird, die Erziehungsstile seines Elternhauses in seiner Sprache darzustellen. Dies kann dadurch geschehen, dass das Thema vorgegeben wird, hier also das Thema ‚Erziehungsstile‘. Im sog. narrativen Interview (siehe dazu Kap. 6) wird hier lediglich eine Zeitspanne vorgegeben, eben die Kindheit oder auch die gesamte bisherige Biographie. Letzteres hat den Vorteil, dass man nicht nur etwas über das Elternhaus erfährt, sondern zugleich etwas über den Stellenwert, den der oder die Einzelne der Erziehung im Elternhaus im Kontext der Gesamtbiographie beimisst.
Das Zauberwort heißt also Kontext: Im Einzelinterview kann ich die Einzeläußerung erst im Gesamtkontext einer Erzählung oder längeren Darstellung adäquat verstehen. In einer Gruppendiskussion (vgl. dazu auch Kap. 3 u. 7) kann mir dadurch vieles klarer werden, dass ich den Einzelnen in der Kommunikation mit denjenigen erlebe, mit denen er oder sie auch im Alltag kommuniziert, also innerhalb des gewohnten sozialen Kontextes, z.B. innerhalb der Clique, der Gruppe der Gleichaltrigen, mit denen er oder sie auch sonst zusammen ist. Dadurch, dass die Einzelnen wechselseitig aufeinander Bezug nehmen, bildet sich ein kommunikativer Kontext, durch den der Sinngehalt der je einzelnen Äußerung für mich deutlicher wird. Und gegenüber denjenigen, mit denen die Einzelnen auch in ihrem Alltag zusammen sind, werden sie die Symbole, die Sprache und vor allem auch die Metaphern, die Bilder verwenden, die für diese jeweilige Lebenswelt typisch sind.
Im Falle der teilnehmenden Beobachtung habe ich den Vorteil, dass ich die Äußerungen – seien es nun individuelle Äußerungen oder Gespräche, Diskussionen – auf den jeweiligen Handlungskontext beziehen kann, über den geredet wird. Das heißt, wenn ich z.B. eine teilnehmende Beobachtung in einem Ausbildungsbetrieb durchführe, kann ich mir ein Bild von dieser Ausbildungssituation machen und zugleich Gespräche, Diskussionen von Lehrlingen über diese ihre Wirklichkeit mitverfolgen.
Allen offenen Verfahren ist gemeinsam, dass sie denjenigen, die Gegenstand der Forschung sind, die Strukturierung der Kommunikation im Rahmen des für die Untersuchung relevanten Themas so weit wie möglich überlassen, damit diese ihr Relevanzsystem und ihr kommunikatives Regelsystem entfalten können und auf diesem Wege die Unterschiede zum Relevanzsystem der Forschenden überhaupt erst erkennbar werden.
Im Sinne eines derartigen methodisch kontrollierten Fremdverstehens wird dann methodische Kontrolle möglich. Christa Hoffmann-Riem nennt zwei methodische Prinzipien der interpretativen Verfahren: einerseits das Prinzip der Offenheit und andererseits das Prinzip der Kommunikation. Es heißt dazu bei ihr (1980, S. 343f.): „Das Prinzip der Kommunikation besagt, daß der Forscher den Zugang zu bedeutungsstrukturierten Daten im allgemeinen nur gewinnt, wenn er eine Kommunikationsbeziehung mit dem Forschungssubjekt eingeht und dabei das kommunikative Regelsystem der Forschungssubjekte in Geltung läßt“, und weiter unten (S. 346): „Das Prinzip der Offenheit besagt, daß die theoretische Strukturierung des Forschungsgegenstandes zurückgestellt wird, bis sich die Strukturierung des Forschungsgegenstandes durch die Forschungssubjekte herausgebildet hat.“
Um dem gerecht zu werden, bedarf es auch einer Überprüfung des Theorieverständnisses, wie es uns in den konventionellen, den standardisierten Verfahren begegnet.
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Ralf Bohnsack:
Rekonstruktive Sozialforschung. Einführung in qualitative Methoden
10., durchgesehene Auflage
Der Autor
Ralf Bohnsack, Dr. rer. soc., Dr. phil. habil., Dipl. Soz., Professor a.D. der Freien Universität Berlin
Über „Rekonstruktive Sozialforschung“
Im Zentrum des Lehrbuchs steht die vom Verfasser selbst als Forschungspraxis entwickelte dokumentarische Methode in ihren Anwendungsbereichen der Text- und Bildinterpretation mit einem Fokus auf der Gesprächsanalyse und der Gruppendiskussion. Die Gegenüberstellung von „qualitativ“ und „quantitativ“, die als zentrale Leitdifferenz die Auseinandersetzung in der empirischen Sozialforschung bestimmt, erscheint methodologisch wenig begründet. Das Buch stellt drei zentrale Wege der rekonstruktiven Sozialforschung mit ihren Unterschieden und Gemeinsamkeiten vor (narratives Interview, objektive Hermeneutik und dokumentarische Methode) und diskutiert grundlegende Anforderungen, die an Methodologie und Forschungspraxis der rekonstruktiven Sozialforschung gestellt werden.
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