Integration historischer Ansätze in die soziologische Rechtsextremismusforschung

ZRex – Zeitschrift für Rechtsextremismusforschung 1-2025: Eine Soziologie rechter Vergangenheit? Geschichte und Erinnerung als interdisziplinäre Anknüpfungspunkte einer soziologischen Rechtsextremismusforschung

Eine Soziologie rechter Vergangenheit? Geschichte und Erinnerung als interdisziplinäre Anknüpfungspunkte einer soziologischen Rechtsextremismusforschung

Moritz Golombek

ZRex – Zeitschrift für Rechtsextremismusforschung, Heft 1-2025, S. 119-133.

 

Zusammenfassung: Der Artikel plädiert für einen historisch fundierten Ansatz in der soziologischen Rechtsextremismusforschung. Während meist zeitgenössische Phänomene in den Vordergrund gestellt werden, bleiben historische Kontexte des Phänomens oft unberücksichtigt. Die doppelte Bedeutung von Geschichte und Erinnerung wird als Ausgangspunkt genommen und aus einer Perspektive der Holocaust- und Genozidstudien für eine soziologische Rezeption der Analysen des historischen Faschismus genutzt. Dabei werden die Debatte um den Begriff des Rechtsextremismus, aber auch Verbreitungsdynamiken des historischen Faschismus als Anknüpfungspunkte herausgestellt. Es wird ein Begriff der Erinnerung hergeleitet, der politisch und gesellschaftlich wirkmächtige kollektive Formen des Vergangenheitsbezugs und deren Fragmentierung durch spezifisch rechtsextreme Bezüge auf Vergangenheit einbezieht. Ein Ansatz der Memory Studies wird genutzt, um die legitimatorische Funktion rechtsextremer Vergangenheitsbezüge und die Bedeutung historischer Massengewalt für den kontemporären Rechtsextremismus aufzuzeigen.

Schlüsselbegriffe: Massengewalt, Rechtsextremismus, kollektive Erinnerung, Faschismus, soziale Erinnerung

 

A sociology of right-wing past? History, memory and the sociological approach to right-wing extremism

Summary: The article advocates for a historically grounded approach to sociological research on right-wing extremism. While contemporary phenomena are often emphasized, historical contexts of frequently remain unexamined. The dual significance of history and memory serves as a starting point, incorporating a Holocaust and genocide studies perspective to encourage a sociological study of historical fascism. The article highlights the debate surrounding the term right-wing extremism as well as the diffusion dynamics of historical fascism as key points of reference. It develops a concept of memory that encompasses politically and socially potent collective forms of relating to the past, as well as the fragmentation of these forms through specific right-wing extremist references to history.AMemory Studies approach is employed to illustrate the legitimizing function of right-wing extremist references to the past and the importance of historical mass violence for contemporary right-wing extremism.

Keywords: mass violence; right-wing extremism; collective memory; fascism; social memory

 

1 Einleitung

Die soziologische Rechtsextremismusforschung befasst sich mit einem Thema, das gesellschaftlich hochaktuell ist. Zugleich sind wichtige Grundfragen nicht abschließend geklärt und ‚weiße oder graue Flecken‘ auf ihrer Karte bestehen fort. Einer dieser Flecken zeigt sich in der Fokussierung der Rechtsextremismusforschung auf zeitgenössische Erscheinungsformen und Akteur:innen, während historische Kontexte oft in den Hintergrund treten. Dieser Beitrag argumentiert dementgegen für eine vertiefte Integration historischer Ansätze in die soziologische Rechtsextremismusforschung. Geschichte kommt dabei eine doppelte Bedeutung zu: Zum einen kann der Rechtsextremismus als historischer Gegenstand verstanden werden. Zum anderen stellt der aktuelle rechtsextreme Bezug auf Geschichte ein wichtigstes ideologisches Element dar. Dieser doppelten Bedeutung der Vergangenheit für den Rechtsextremismus und seine Erforschung als faktisch Geschehenes einerseits und Erinnertes andererseits wird sich im Folgenden angenähert. Die Relevanz eines solchen Ansatzes zeigt sich zum einen in rechtsextremen Vergangenheitsdiskursen, die historische Narrative gezielt als Mobilisierungsstrategien und Vehikel für Ideologie einsetzen. Das zeigt sich an zahlreichen Beispielen – von der Identitären Bewegung bis zu Telegram-Kanälen während der Corona-Pandemie. Historische Ereignisse und Erinnerungsfiguren werden von rechtsextremen Akteur:innen zunehmend instrumentalisiert, um gegenwärtige Ideologien zu legitimieren und zu verstärken. Zum anderen liegen – neben der Geschichte des Rechtsextremismus nach 1945 – mit dem historischen Faschismus Erscheinungsformen des Rechtsextremismus in der Geschichte vor. Der vorliegende Beitrag plädiert dafür, etablierte disziplinäre Grenzen zu überwinden und die Synergien zwischen Disziplinen und Forschungsfeldern zu nutzen, um das Verständnis gegenwärtiger rechtsextremer Phänomene zu verbessern. Durch die Integration historischer Perspektiven und interdisziplinärer Ansätze können neue Erkenntnisse gewonnen und bestehende Forschungslücken erschlossen werden. So soll eine geschichtsbewusste soziologische Rechtsextremismusforschung gewährleistet werden, die einem „Rückzug auf die Gegenwart“ (Elias 1983) entgeht. Diesem Vorhaben wird sich aus einer Perspektive der Holocaust- und Genozidstudien genähert; einer Disziplin, die in erster Linie Ursachen, Mechanismen und Auswirkungen von Genoziden und systematischer Massengewalt erforscht. Sie zielen darauf ab, sowohl ein tiefes Verständnis vergangener Gewalt und Unterdrückung zu entwickeln als auch ihr Fortwirken in der Gegenwart aufzuzeigen. Dadurch weisen die Holocaust- und Genozidstudien wichtige Gemeinsamkeiten mit der Rechtsextremismusforschung auf, bieten aber auch neue Perspektiven. Sie arbeiten unter Einbezug der Geschichtswissenschaft ebenso wie sozialwissenschaftlicher und psychologischer Forschung. Im Folgenden wird daher zunächst, auf die Holocaust- und Genozidstudien Bezug nehmend, ein Argument von Botsch (2017) aufgegriffen, um die Notwendigkeit historisch-sozialwissenschaftlicher Forschung zu Rechtsextremismus zu begründen. Anschließend wird ein Geschichtsbegriff hergeleitet, der im Sinne Walter Benjamins vor dem Hintergrund des historischen Faschismus Geschichte als Ausnahmezustand begreift und dadurch besonders für die Betrachtung des historischen Faschismus geeignet ist. Der historische Faschismus wird anschließend angeführt, um Anknüpfungspunkte der historischen zur kontemporären Rechtsextremismusforschung aufzuzeigen. Die Begriffe Geschichte, Erinnerung und Vergangenheit in Bezug zueinander setzend, wird in einer kritischen Diskussion des Begriffs der Kollektiven Erinnerung ein Ansatz im Sinne der Memory Studies vorgeschlagen, der den Vergangenheitsbezug rechtsextremer Akteur:innen adäquat konzeptualisiert. Dieser wird sodann anhand verschiedener Forschungsbeispiele expliziert. Dabei wird auf rechtsextreme alternative Vergangenheitsnarrative eingegangen, die genutzt werden, um Ideologie zu stärken und Anhänger: innen zu mobilisieren, aber auch um gesellschaftliche Diskurse zu beeinflussen. Die Funktion der Vergangenheitsnarrative liegt oft darin, die Schuld der eigenen Nation oder Gruppe an historischer Massengewalt zu leugnen oder positiv umzudeuten und so historische Fakten zu verzerren. Abschließend folgt ein Fazit, das die Bedeutung von Geschichte für die Rechtsextremismusforschung betont.

2 Vom „Rückzug auf die Gegenwart“ zu historisch fundierten Ansätzen

Die Soziologie hat sich mit der Geschichte des Rechtsextremismus zweifelsohne befasst. Jedoch liegt der Fokus soziologischer Forschung allgemein auf kontemporären Phänomenen. Schon auf dem Deutschen Soziologentag 1982 attestierte Norbert Elias:

„Der Rückzug der Soziologen auf die Gegenwart […] wurde zum vorherrschenden Trend in der Entwicklung der Soziologie in den Jahren nach dem zweiten Weltkrieg […]. Man wird erst gewahr, daß es sich dabei um einen Rückzug handelt, wenn man sich daran erinnert, wie viele Soziologen früherer Tage Probleme der menschlichen Gesellschaft, auch jeweils zeitgenössische, mit Hilfe von Wissen über die Vergangenheit der eigenen Gesellschaft oder über frühere Phasen anderer Gesellschaften […] zu erhellen suchten.“ (Elias 1983: 519)

Die Aktualität von Elias‘ Bestandsaufnahme bekräftigen Rosenthal und Worm am Beispiel der Biografieforschung, indem sie „[…] HistorikerInnen eine Tendenz zur Vernachlässigung der Rekonstruktion der Gegenwartsperspektive“ zuschreiben, während die Soziologie der Illusion unterliege „[…] man könne die Gegenwart ohne Bezug auf die Vergangenheit erklären“ (Rosenthal/Worm 2018: 155). Ein verstärkter historischer Bezug soziologischer Rechtsextremismusforschung könnte dementgegen die historische Genese von kontemporären rechtsextremen Phänomenen in den Blick nehmen, indem sie disziplinäre Grenzen aufbricht. Bestehende Forderungen nach einer stärkeren Interdisziplinarität zeigen deren Notwendigkeit: Gideon Botsch (2017) plädiert beispielsweise aus einer politikwissenschaftlichhistorischen Perspektive für eine Rückkehr zu akteurszentrierten Ansätzen, die den Rechtsextremismus als ein historisch gewachsenes politisches Phänomen betrachten. In seinem Artikel Rechtsextremismus als politische Praxis betont Botsch (2017), dass die Erforschung des Rechtsextremismus sich – insbesondere in den 1980er-Jahren – systematisch mit den Akteur:innen der extremen Rechten auseinandergesetzt hat. Damalige Studien zeichneten sich durch eine methodisch fundierte Analyse aus, die historische, soziologische und politikwissenschaftliche Ansätze miteinander verknüpfte und auf Primärquellen zurückgriff. So wurde der Rechtsextremismus als eine spezifische politische Kultur verstanden, die in der demokratischen Bundesrepublik einen festen Platz einnahm (Botsch 2017: 132). Ab den 1990er-Jahren gerieten die politischen Akteur:innen und ihre Strategien jedoch zunehmend aus dem Blick. Diese Entwicklung kritisiert Botsch, indem er feststellt: „Der originär politische Charakter des Phänomens“ werde oft vernachlässigt, was zu einem unvollständigen Bild des Rechtsextremismus führe (Botsch 2017: 136). Er fordert daher eine verstärkte empirische Forschung, die sich auf Primärquellen wie Parteiprogramme, Publikationen und andere Materialien stützt, die von den rechtsextremen Akteur:innen selbst erzeugt werden. Besonders hebt er hervor, dass es angemessen sei, die politischen Handlungen und Strategien der extremen Rechten als eigenständige, zielgerichtete Prozesse zu verstehen (Botsch 2017: 137). Was Botsch aus einer politikwissenschaftlichen Perspektive anmahnt, lässt sich um Forderungen aus einer Perspektive der Holocaust- und Genozidstudien ergänzen: Ihrem Gegenstand folgend erscheint eine Betrachtung des Rechtsextremismus im Hinblick auf historische Massengewalt gewinnbringend. Ergänzend kann ihr Nachwirken im Sinne des gesellschaftlichen Bezugs auf historische Ereignisse sowie historische und ideologische Kontinuitäten sowie ihre Genese und den damit einhergehenden ideologischen Grundlagen und historischen Erscheinungsformen des Rechtsextremismus betrachtet werden. Die Shoah als ein Ereignis historischer Massengewalt findet in der Forschung bereits viel Beachtung, ist der Nationalsozialismus doch ein zentraler Bestandteil rechtsextremer Diskurse. Die Bedeutung anderer Formen historischer Massengewalt tritt jedoch in den Hintergrund. Über die historische Genese rechtsextremer Phänomene hinausgehend erscheint es ferner erhellend, aktuelle rechtsextreme Diskurse über Vergangenheit einzubeziehen. Historisch fundierte Analysen derartiger Diskurse können diese nicht nur in sich geschlossen betrachten, sondern historische Fakten, auf die sie sich beziehen, stärker in die Analyse einschließen. Ein möglicher Anknüpfungspunkt ist eine soziologische Rezeption der historisch orientierten Forschung zum Faschismusbegriff, wie er in den Geschichtswissenschaften diskutiert wird. Gängige Rechtsextremismusbegriffe sind primär normativer Natur und definieren ihren Gegenstand anhand einer Ablehnung zentraler Elemente der Verfassung (Mannewitz 2018; Fischer et al. 2022). Entsprechend kann der Begriff oft nur schwer historisch verankert werden und der Diskurs um Begriffe wie Rechtsextremismus, Far-Right, extreme Rechte, um nur einige zu nennen, bleibt eine Debatte der soziologischen Rechtsextremismusforschung, die den historischen Kern ihres Gegenstands bisher unzureichend konzeptualisiert. Diese Debatte weist folglich einen doppelten Geschichtsbezug auf: in historischen Erscheinungsformen ihres Gegenstandes und in den Geschichtsbezügen des Rechtsextremismus selbst. In dem Verhältnis von Geschichte und Vergangenheitsbezug liegt ein Erkenntnismoment, das stärker betrachtet werden könnte. Sich dem anzunähern, macht eine Definition von Geschichte erforderlich, die den normverschiebenden, außergewöhnlichen Aspekten des Rechtsextremismus und der geforderten Interdisziplinarität Rechnung trägt. Es kann hilfreich sein, dabei eine Perspektive der Holocaust- und Genozidstudien einzunehmen, da sie durch ihren interdisziplinären Ansatz erlauben, historischen und kontemporären Rechtsextremismus gleichermaßen in den Blick zu nehmen, indem sie Gesellschaft vor dem Hintergrund extremer Ausnahmezustände und deren Ursachen als Gegenstand haben. Allerdings waren sie hierzulande noch vor wenigen Jahren deutlich weniger bekannt als etwa im angelsächsischen Raum. Seit dem sogenannten „Historikerstreit 2.0“ – der längst kein Streit innerhalb akademischer Disziplinen mehr ist – ändert sich dies zunehmend. Werke wie Multidirektionale Erinnerung von Rothberg (2021) und eine Vielzahl feuilletonnaher Veröffentlichungen bringen Akteur:innen der Genozidstudien in die breitere wissenschaftliche und sogar gesellschaftliche Debatte. Obwohl die Legaldefinition der Vereinten Nationen (United Nations 1948) Bezugspunkte schafft, gibt es keinen umfassenden Konsens über den Begriff des Genozids. Das ist ein Grund, warum die Holocaust- und Genozidstudien ihren Gegenstand nicht eng fassen und Forschung sich oft Konzepten wie systematischer Massengewalt oder mass atrocities bedient (Wendt 2010; Bellamy 2009). Oft werden Holocaust- und Genozidstudien in Nachbardisziplinen praktiziert und sind von jenen nicht scharf zu trennen. Sie integrieren daher historische, sozialwissenschaftliche und psychologische Perspektiven. Dies führt auch zur Untersuchung von Phänomenen, die zunächst nicht strikt zum definierten Gegenstand gehören. So werden auch gesellschaftliche Ursachen, Mechanismen und Auswirkungen systematischer (Massen‐)Gewalt untersucht.

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