Rassismus(kritik) in der superdiversen Klassengesellschaft. Dynamiken, Widersprüche, Perspektiven
Aladin El-Mafaalani
Zeitschrift für erziehungswissenschaftliche Migrationsforschung (ZeM), Heft 1-2023, S. 23-39.
Zusammenfassung: Der folgende Beitrag unternimmt den Versuch, Bedingungen und Formen der Artikulation von Rassismus und Rassismuskritik vor dem Hintergrund aktueller gesellschaftlicher Dynamiken in einen theoretischen Rahmen der Soziologie sozialer Ungleichheit zu setzen. Hierfür werden zunächst anhand einer Heuristik die sich wandelnden Konstellationen in einer zunehmend superdiversen Klassengesellschaft abgebildet und analysiert, um vor diesem Hintergrund exemplarisch für die Mikro-, Meso- und Makroebene Wechselwirkungen und Widersprüche zu rekonstruieren. Abschließend wird eine rassismuskritische Analyseperspektive in Anschluss an Vertovec und Bourdieu vorgeschlagen.
Schlüsselwörter: Gesellschaftstheorie, soziale Ungleichheit, Pierre Bourdieu, Steven Vertovec, Rassismusforschung
Title: (Criticizing) Racism in the Super-Diverse Class Society
Summary: The following article attempts to establish conditions and forms of the articulation of racism and racism critique within the theoretical framework of sociology of social inequality against the backdrop of current societal dynamics. For this purpose, changing constellations in an increasingly super-diverse class society are first depicted and analyzed using a heuristic to reconstruct interactions and contradictions on the micro, meso, and macro levels. Finally, a racism-critical analytical perspective is proposed in connection with Vertovec and Bourdieu.
Keywords: Social Theory, Social Inequality, Pierre Bourdieu, Steven Vertovec, Racism Research
1. Einleitung
Die Rassismusforschung in Deutschland ist ein vielfältiges, wachsendes, aber noch nicht (institutionell) etabliertes Forschungsfeld. Gleichzeitig ist Rassismus als Thema in relativ kurzer Zeit in den Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit gerückt und regelmäßig Gegenstand kontroverser Diskussionen. Dieser Relevanzzuwachs lässt sich auf eine Vielzahl von Ereignissen und Debatten, aber insbesondere auf sich verändernde gesellschaftliche Verhältnisse zurückführen. Die Rassismusforschung steht entsprechend vor der besonderen Herausforderung, sich in Zeiten gesellschaftlicher Transformationen zu etablieren und diese Transformationen zugleich zu berücksichtigen, während für Deutschland kaum auf wissenschaftliche Bestandsaufnahmen, etablierte Traditionen oder eine breite Basis empirischer Befunde zurückgegriffen werden kann.1
Widersprüchliche Dynamiken bilden die zentralen Charakteristika der Gegenwart: Auf der einen Seite stehen enorme Öffnungsprozesse, eine zunehmende Sensibilisierung für Rassismus weiter Teile der Bevölkerung, eine größere Sichtbarkeit von Diversität und von rassismuskritischem Aktivismus, auf der anderen Seite stehen die Persistenz rassistischer Diskriminierung, die Verstärkung populistischer und rassistischer Widerstände sowie erregte öffentliche Diskussionen. Der folgende Beitrag versucht, diese dynamischen und widersprüchlichen Entwicklungen zu systematisieren, indem sie gesellschaftstheoretisch reflektiert werden, hier am Beispiel der Gesellschaftstheorie Pierre Bourdieus.2 In einer solchen Analyse muss darüber hinaus Berücksichtigung finden, dass Rassismus in Deutschland eine besonders starke Verankerung im Kontext von Migration bzw. Migrantisierung hat (vgl. Nwabuzo/ Schaeder 2017; El-Mafaalani 2021).
Zunächst wird eine Heuristik zur allgemeinen Einordnung gesellschaftlicher Verhältnisse und Diskurse skizziert, an der sich die vielschichtigen Wandlungs- und Transformationsprozesse darstellen lassen (2). Vor diesem Hintergrund erfolgt dann die Analyse neuerer Phänomene und Entwicklungen exemplarisch für die Mikro-, Meso- und Makroebene (3). Anschließend werden die besonderen Stärken der Bourdieuschen Gesellschaftstheorie für rassismuskritische Gegenwartsanalysen und gesellschaftliche Einordnungen herausgearbeitet (4). Aus diesen theoretischen Reflexionen lassen sich abschließend Herausforderungen für die erziehungswissenschaftliche Forschung und Praxis skizzieren.
2. Gesellschaftliche Öffnungs- und Schließungsdynamiken
Die gesellschaftlichen Dynamiken der vergangenen Jahrzehnte haben neue Konflikt- und Diskursfelder hervorgebracht, die für die erziehungswissenschaftliche und rassismuskritische Forschung von besonderer Relevanz sind. Dabei handelt es sich um vielschichtige Entwicklungen, die ohne Berücksichtigung von Gesellschaftstheorie und interdisziplinärer empirischer Forschung kaum adäquat, also in ihren Zusammenhängen und ihrer Widersprüchlichkeit, erfasst werden können. Eine in den Sozialwissenschaften mögliche Form der Darstellung hochkomplexer dynamischer Konstellationen sind Metaphern, die als Heuristik zum Verständnis der veränderten Konstellationen dienen.3 Hier folgt eine solche heuristische Metapher zur Beschreibung fortgeschrittener gesellschaftlicher Öffnungsprozesse (vgl. El- Mafaalani 2020b):
Stellen wir uns die Weltgesellschaft vor als ein Gebäude und die nationale Gesellschaft als einen großen Raum innerhalb des Gebäudes. Menschen betreten den Raum (Einwanderung) oder verlassen ihn (Auswanderung). In der Mitte des Raums steht ein Tisch. Vor einigen Jahrzehnten saßen ausschließlich (ältere) Männer am Tisch, die meisten Menschen saßen in der zweiten und dritten Reihe, viele sogar auf dem Boden. Dann nahmen Frauen am Tisch Platz. Kurz darauf folgten Menschen mit internationaler Geschichte, meist der zweiten Generation, sowie LSBTIQ+, behinderte Menschen und Ostdeutsche. Am Tisch wird es dadurch immer enger, was nicht immer gemütlich ist. Immer mehr und unterschiedlichere Menschen wollen einen schönen Platz am Tisch und ein Stück vom Kuchen. Eine Weile geht es also um Verteilung, um Positionen und Ressourcen. Es entsteht eine gewisse Dynamik, deren positive Seiten für viele erkennbar sind. Tisch und Kuchen werden größer, es gibt mehr gute Plätze, die Bevölkerungsstagnation begünstigt die Teilhabezuwächse weiter. Zwar steigert sich auch die Konkurrenz amTisch, aber es gibt enorm viele Gewinner und relativ wenige Verlierer.
Im Laufe der Zeit fangen immer mehr neu am Tisch Sitzende an, Fragen zu stellen. Ist das eigentlich der richtige Kuchen? Sind die Tischregeln noch zeitgemäß? Manche wollen die Rezeptur des Kuchens, die Tischordnung und die Esskultur grundlegend verändern. Andere wiederum fordern ein „Leitrezept“. Man fragt sich: Was ist bei all dieser Diversität denn noch die Identität der Tischgesellschaft? Einige schlagen vor, mehrere Tische in den Raum zu stellen, andere wollen die gesellschaftliche Einheit bewahren, dann fordern die Ersten, die Tischgesellschaft wieder zu schließen – und zwar, bevor Gleichstellung erreicht ist. Denn noch immer sitzen verhältnismäßig weniger Frauen, LSBTIQ+, behinderte Menschen, Menschen mit internationaler Geschichte, PoC und Ostdeutsche am Tisch, und sie haben seltener die guten Plätze. Es entsteht also eine neue Konfliktlinie, in der es um Kultur und Identität, um Zugehörigkeit, um Offenheit und Geschlossenheit geht, ohne dass die Verteilungskonflikte überwunden wären. Gleichzeitig gibt es aber nach wie vor Menschen, die noch immer auf dem Boden sitzen, also nicht von den Öffnungsprozessen profitiert haben. Für sie hat sich die Lage in mehrfacher Hinsicht verschlechtert. Die Gruppen, die am Tisch unterrepräsentiert sind, sind auf dem Boden überrepräsentiert.
In dieser Metapher kommen drei Ebenen zum Vorschein: Die Tür, also nationalstaatliche Grenzen, der Boden, also die Realität der Ausgrenzung, und der Tisch, also die Zone der sozialen Teilhabe. Diese drei Ebenen ermöglichen wiederum die Beschreibung von drei Konfliktlinien, die die Realität der Migrationsgesellschaft zeigen: Migration als Konfliktfeld, soziale Mobilität und damit zusammenhängende Konflikte um Ressourcen und Positionen, sowie symbolische Anerkennungs- und Zugehörigkeitskonflikte (Rezeptur des Kuchens/Esskultur, Tischordnung).4 Die zentrale Analyseeinheit dieser Heuristik ist zwar der Nationalstaat, allerdings mit dem zentralen Ziel, innerstaatliche Globalität bzw. globalen Wandel innerhalb nationaler Gesellschaften abzubilden. Entsprechend erfüllt die hier vollzogene Analyse zumindest potenziell die Kriterien einer Gesellschaftsanalyse „jenseits des methodologischen Nationalismus“ (Beck/Grande 2010: 204f.).5
Abgebildet werden hier also Diskurskontexte im Kontext umfassender gesellschaftlicher Öffnungsprozesse: Offenheit nach außen, also Ein- und Auswanderung, und Offenheit nach innen, also Offenheit der „Tischgesellschaft“ im Hinblick auf multiple Teilhabe. Multiple Teilhabe bezieht sich zum einen auf alle Kapitalsorten im Sinne Bourdieus (1983), also auf ökonomische Teilhabe, auf kulturelle Teilhabe sowie auf soziale Zugehörigkeiten verstanden als soziale Netzwerke und solidarische Strukturen. Dadurch bezieht sich die Teilhabe hier vom Grundsatz her (also mindestens indirekt) bereits auf alle gesellschaftlichen Subsysteme bzw. Felder (Wirtschaft, Politik, Wissenschaft, Kunst usw.). Zum anderen bezieht sich multiple Teilhabe auch auf die Mitgestaltung und Veränderung der Teilhabe-Ordnung selbst und zwar nicht nur indirekt über längere Zeithorizonte, sondern insbesondere auch durch direkte und intendierte Neuaushandlungsprozesse. Wenn Bourdieu (2001: 311) an einer Stelle symbolisches Kapital als Ergebnis von Kämpfen um die Wertigkeit der drei eigentlichen Kapitalsorten beschreibt, kann hier ergänzt werden, dass symbolische Neuaushandlungen heute nicht nur den Wert von und das Verhältnis zwischen Kapitalien, sondern auch ihr Wesen meinen. Hierbei handelt es sich nicht nur um die Verteilung von Ressourcen, sondern auch um die Ressourcen selbst, und um in der Metapher zu bleiben: nicht nur um die Verteilung des Kuchens, sondern um seine Rezeptur. Aber um genau darüber verhandeln zu können, werden auch Sprecherpositionen selbst verhandelt, also Tischordnung und -kultur. Die Sprache erscheint hier nicht mehr nur als Medium der Konfliktaustragung, sondern als Konfliktfeld selbst. Sichtbarkeit und Repräsentanz werden zum Thema gemacht und damit die vorherrschenden (impliziten) Prinzipien der Zugehörigkeit, Erinnerungskultur usw. irritiert.
Gleichzeitig ist die Teilhabe für viele prekär. Weiterhin sitzen Menschen auf dem Boden, sind also mehrfach ausgeschlossen von der Teilhabe an Ressourcen und Diskursen, sind bestenfalls Zuschauer. Die Fluktuation in unteren Milieus, die sowohl durch soziale Mobilität als auch durch Migration angetrieben wurde, lässt ehemals stabile solidarische Milieustrukturen erodieren. Und auch der viel beschworene „Trickle-Down-Effekt“, also das Versprechen, dass wenn der Kuchen wächst, mehr und größere Krümel auf den Boden fallen und die Benachteiligten von der Wohlstandsmehrung zumindest teilweise mitprofitieren, ist nicht (mehr) gegeben (vgl. u.a. Stiglitz 2012). Auch die Verbindung zwischen Tisch und Boden erweist sich als wenig stabil, soziale Mobilität im sozialen Raum stagniert bzw. nimmt langsam ab (vgl. u.a. Pollak 2021). Mehr noch, die offene Gesellschaft transformiert ihr Verständnis von Solidarität. Aus „wenn du fällst, helfen wir dir auf“ wird „sieh zu, dass du nicht hinfällst, damit wir dir nicht helfen müssen“. Es geht hier weniger darum, dass der Sozialstaat abgebaut wird, vielmehr wird er umgebaut, das Soziale der Sozialpolitik verändert seine Gestalt (vgl. insbesondere Lessenich 2008; Bude 2019). Die prekäre Lage, die im letzten Jahrhundert noch als kollektives Schicksal gedeutet werden konnte, wird eher als persönlich zurechenbares Scheitern umgedeutet (vgl. Beck 1986). Zusammen mit der Erfahrung, dass man von den allgemeinen Teilhabezuwächsen selbst nicht profitiert hat und dementsprechend den Anschluss verliert, begünstigt dies einerseits resignative Tendenzen, andererseits Abschottung und die Etablierung eigener solidarischer Strukturen. Letzteres wird im öffentlichen Diskurs als „Parallelgesellschaft“ gedeutet. Diese benachteiligten Milieus bewegen sich unterhalb der Grenze der Respektabilität und leben zunehmend sozialräumlich segregiert (vgl. El-Mafaalani/Strohmeier 2015; Vester 2009).
Ein Leitmedium für die Öffnungs- und Mobilisierungsprozesse war und ist Bildung. Die Bildungsexpansion, also die Ausweitung von höherer Bildung, die sich seit den 1960ern bis heute vollzieht, hat enorm vielen Menschen den Zugang zur Teilhabe ermöglicht. Die Schließungstendenz innerhalb der offenen Gesellschaft lässt sich zum Teil auf Sättigungseffekte zurückführen, denn über die Jahrzehnte der Bildungsexpansion blieb die Reproduktion sozialer Ungleichheiten relativ stabil (überblicksartig El-Mafaalani 2020a). Einerseits wurde also die Bildungsteilhabe derart ausgeweitet, dass die pyramidenförmige Hierarchie umgedreht wurde: Heute weisen Gymnasium und Hochschulreife die quantitativ größten Anteile auf, Hauptschule und einfache Abschlüsse die geringsten. Andererseits bleiben die Bildungschancen tendenziell vom sozioökonomischen Status der Eltern abhängig. Die Folge dieser Kombination: Wer jetzt „unten“ steht, erlebt objektiv eine gänzlich andere Situation, früher war der Durchschnitt „unten“, heute ist er oben.
1 Parallelen zur Fluchtforschung in Deutschland sind hier deutlich zu erkennen (vgl. Kleist u.a. 2019; El-Mafaalani/Massumi 2019).
2 Zur Abkoppelung bzw. Parallelität zwischen sozialer Ungleichheitsforschung auf der einen und Diskriminierungsforschung auf der anderen Seite, vgl. Scherr 2014. Zudem hat Scherr (2017) weitere Skizzen der Kontextualisierung soziologischer Theoriebildung mit (rassismuskritischer) Diskriminierungsforschung entwickelt.
3 Solche Metaphern sind etwa der „Fahrstuhleffekt“ (Beck 1986) oder die vielen Analogien zum Theater bei Goffman (1959, zu der Funktion der Metapher bei Goffman, vgl. Knoblauch 1994). In ähnlicher Form auch Bourdieu, wenn es um Felder, Spiel und Chips (Kapital) geht. Metaphern ermöglichen also mindestens eine Heuristik zur Beschreibung und Analyse von Akteurskonstellationen und Dynamiken, können aber darüber hinaus auch Grundlage für Theoriebildung sein.
4 In ihrer empirischen Untersuchung zeigen Mau u.a. (2020), dass diese drei Konfliktfelder, die sie „Arenen der neuen Ungleichheitskonflikte“ nennen und die sie mit „Unten-Oben“, „Wir-Sie“ und „Innen-Außen“ bezeichnen, jeweils relativ eigenständige Dimensionen darstellen, ohne dass es zu sozialstrukturellen Lagerbildungen in den Einstellungsmustern kommt.
5 Diese Metapher weist dennoch Lücken auf, insbesondere an zwei Stellen: Erstens treten Menschen als lose erwachsene Individuen in Erscheinung, nicht als Familien, als Kinder usw., wodurch aus dem Blick gerät, dass etwa ein behindertes Mädchen in einer wohlhabenden Familie indirekt mit am Tisch sitzt und dennoch (wenn auch weniger als andere) benachteiligt und behindert wird; zweitens sind Institutionen, die de facto maßgeblich die Teilhabe in der Gesellschaft ermöglichen oder einschränken, aus dieser Perspektive nicht ohne Weiteres abgebildet. Allerdings lässt sich die Metapher durch einen verschobenen Fokus auf die Mikro- oder Mesoebene übertragen. So können etwa die Verhältnisse innerhalb einer Familie oder einer Organisation abgebildet werden, indem Familie oder Organisation als Raum gedacht werden und u.a. gefragt wird: Wer trifft Entscheidungen, wo sind Familien- oder Organisationmitglieder ausgegrenzt, welche Effekte haben Veränderungen der Positionierungen? Hier wird nochmal deutlich, dass es sich um eine Heuristik zur Beschreibung und Analyse von Konstellationen und Dynamiken in sozialen Systemen bzw. Feldern handelt. Zugleich ist die Heuristik nur dann funktional, wenn der Fokus spezifiziert und das aus dem Fokus Geratene expliziert wird. Im Folgenden wird etwa die rechtliche Ungleichheit – etwa durch Duldungen oder durch die praktische Aussetzung der Schulpflicht bei bestimmten Neuzugewanderten im schulpflichtigen Alter – nicht berücksichtigt (hierzu etwa El-Mafaalani/Massumi 2019).
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