Jenseits unbefristeter Professuren – inmitten der Sorge um das wissenschaftliche Feld?
Stefanie Leinfellner & Stephanie Simon
Debatte. Beiträge zur Erwachsenenbildung, Heft 1-2021, S. 30-42.
Zusammenfassung
Im Beitrag werden Arbeitsverhältnisse jenseits von unbefristeten Professuren im Licht von Befristung, Prekarisierung, Leistungsorientierung und Selbstoptimierung thematisiert, um Strukturen und Bedingungen des deutschen Wissenschaftssystems im Kontext aktueller Diskurse in den Blick zu nehmen. Entlang dessen werden machtvolle Ungleichheitslinien und Praktiken im Wissenschaftsfeld beleuchtet und auf die Bedingungen von wissenschaftlichem Diskurs und Wissensproduktion bezogen.
wissenschaftliche Arbeits- und Beschäftigungsverhältnisse · Prekarisierung · #IchBinHanna · soziale Ungleichheiten · Wissensproduktion
1. Einführung
Prekarisierte Arbeitsverhältnisse können hierzulande für die Arbeits- und Lebensform Wissenschaft als Standard bzw. Normalfall bezeichnet werden, wobei mit dem Begriff der Prekarisierung auf gesamtgesellschaftliche und damit strukturell verankerte Prozesse der schleichenden Entsicherung von Arbeits- und Lebensverhältnissen verwiesen wird (Castel & Dörre 2009; Motakef 2015).
An einer deutschen Hochschule in Forschung und Lehre jenseits einer unbefristeten Professur1 angestellt zu sein, bedeutet heute – gesetzlich geregelt – bis zur Promotion bzw. Habilitation für ein Maximum von jeweils sechs Jahren beständig sachgrundlos befristet beschäftigt zu werden. Zugleich finden sich die im Wissenschaftsbetrieb Angestellten zumeist in wechselnden Beschäftigungsverhältnissen wieder – ggf. mit Unterbrechungen (auch solche ohne Anstellungsverhältnis), an verschiedenen Institutionen und in unterschiedlichen Aufgabenfeldern. Das 2016 reformierte Wissenschaftszeitvertragsgesetz (WissZeitVG) koppelt dabei mittlerweile die Befristung an Qualifikationsmöglichkeiten (zur Kritik Bahr, Eichhorn & Kubon 2021). In bestimmten Fällen ermöglicht das WissZeitVG auch ein Ausdehnen der maximalen Beschäftigungsdauer über die vorgeschriebenen zwölf Jahre hinaus, z. B., wenn Kinder geboren werden und zu betreuen sind oder Vertragslaufzeiten aus Drittmitteln finanziert wurden (Domke 2020). Im Folgenden wird daher ein wechselndes, unsicheres und hochgradig prekarisiertes2 Arbeitsverhältnis in den Blick genommen, das sich seit Ende der 1970er Jahre immer weiter zuspitzt (Bultmann 2008, S. 8) und mittlerweile rund 92 Prozent der im Mittelbau Beschäftigten tangiert (BuWin 2021). Gewerkschaften sowie weitere Initiativen, z. B. das Netzwerk für gute Arbeit in der Wissenschaft (NGAWiss), weisen seit Jahren bzw. Jahrzehnten auf die Problematik hin, die insbesondere durch die neoliberale Umstrukturierung der Hochschulen – und damit politisch – erzeugt wurde (Jongmanns 2011; Scheller 2015). Who cares? Und was zieht das nach sich?
2. Sorgen von #IchBinHanna
Derzeit, so ließe sich mit Blick auf einige Twitter-Posts oberflächlich resümieren, scheinen die Sorgen um die eigene wissenschaftliche Beschäftigung in den aktuellen Debatten rund um den Hashtag #IchBinHanna unterschiedlich konturiert im Fokus der Aufmerksamkeit zu stehen (Bahr, Kubon & Eichhorn 2021; Sellner, Fritz, Kallenbach & Klevemann 2021; Simon 2021). Die Namensgeberin des Hashtags, die Protagonistin des 2018 veröffentlichten und mittlerweile gelöschten Erklär-Videos des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF), ist die Biologin Hanna, die sich erst noch qualifizieren muss, um anerkannt forschen zu können. Ihre Forschungsarbeit an der Hochschule wird als individuelle Qualifizierung dargestellt und es wird erläutert, dass das WissZeitVG einer „Verstopfung“ des Wissenschaftssystems durch längerfristig im Betrieb tätige Wissenschaftler*innen vorbeuge und dadurch Innovationen3 fördere.
Dem Engagement auf Twitter zufolge, welches sich seit Juni 2021 dagegen regt, sind es überproportional viele Frauen*, die das Thema prekäre4 Beschäftigung in der Wissenschaft artikulieren und damit kritische Blicke auf eine tendenziell prekarisierte Lebensplanung in den Diskurs einpflegen (Mauer 2021; siehe darüber hinaus Notz 2008). Aber auch beim Blick auf vorliegende Publikationen zum Thema fällt dieser Bias ins Auge. Ferner ist auffällig, dass es einen disziplinbezogenen Bias in Richtung Kultur- und Sprach- bzw. Geistes- und Sozialwissenschaften zu geben scheint. Während etwa im hegemonialen Teil der Wirtschaftswissenschaften ein Infragestellen von neoliberalen Optimierungs- und Leistungsparadigmen eine ganze Disziplin auf den Kopf stellen würde, so ist eine kritische Betrachtung gesamtgesellschaftlicher Umstände den Kultur-, Geistes- und Sozialwissenschaften immanent – ein Fächerkontext, in dem Frauen* in der Gruppe des wissenschaftlichen Personals zumeist überproportional beschäftigt sind (vgl. z. B. für NRW die Daten der Gender-Reporte: Kortendiek, Hendrix, Hilgemann, Niegel, Bünnig, Conrads & Mauer 2016, Kortendiek, Mense, Beaufaÿs, Bünnig, Hendrix, Herrmann, Mauer & Niegel 2019). Who cares? Diese Frage ließe sich vorschnell klar beantworten.
Wieso aber sind Frauen* aus den Geistes-und Sozialwissenschaften diejenigen, die sich überproportional sorgen bzw. überproportional ihre Sorge artikulieren? Einerseits sicherlich, weil Frauen* im Fächervergleich und qua Geschlecht eine schlechtere bzw. keine dauerhafte Perspektive in Forschung und Lehre in Aussicht gestellt wird – noch immer liegt der Anteil von Frauen* unter neuberufenen Professor*innen trotz strukturell verankerter Gleichstellungsprogramme insgesamt gerade einmal bei knapp 35 Prozent (BuWiN 2021; Paulitz & Braukmann 2020). Und auch im akademischen Mittelbau sind Frauen* als wissenschaftliche und künstlerische Mitarbeiter*innen „anteilig häufiger befristet beschäftigt“ (Kortendiek et al. 2019, S. 42). Entgegen der in der Wissenschaft verbreiteten These, dass sich Leistung und Leistungsbereitschaft und somit Exzellenz an einem rein sachlichen respektive objektiven Kriterienkatalog messen lassen, ist die ‚gläserne Decke‘ für Frauen* in der Wissenschaft weiterhin wirkmächtig (Paulitz & Wagner 2020). Strukturelle Diskriminierungserfahrungen auch auf professoraler Ebene machen deutlich, dass Meritokratie eher einen Mythos als ein gerechtes Prinzip darstellt.
An Universitäten wird, diesen strukturelle Ungleichheiten hervorhebenden Befund ignorierend, nicht selten Unterstützung und Beratung beim Finden von Karrierewegen und Jobkontexten außerhalb der Wissenschaft offeriert (Wagner 2019) – Dienstleistungen, die auch Hanna im Video des BMBF nahegelegt werden. Hier handelt es sich z. B. um Workshops, Mentoringtools, Weiterbildungen und Angebote des Career Center, die Förderprogramme für unternehmerische Talente und Ausgründungsideen (Stichwort Entrepreneurship) bereithalten. Im Wissenschaftsbetrieb selbst und an der sog. „entrepreneurial university“ (z. B. Riegraf & Weber 2013) – sich reformierende Universitäten, die sich in den letzten Jahren (mit der Implementierung effizienzsteigernder New-Public-Management-Instrumentarien) schließlich vermehrt als unternehmerisch denkende und agierende Hochschulen etabliert haben – verbleiben final die vermeintlich Exzellentesten, Produktivsten und Innovativsten. Sie werden sich mit einer vielversprechenden Liste peer-reviewter Publikationen, Citations und eigens eingeworbener Drittmittel – dem Punktekatalog auf dem wissenschaftlichen Karriereweg5 – in Berufungsverfahren auf eine Professur durchsetzen, so die Annahme. Oder doch diejenigen, die z. B. das größte finanzielle Polster aufweisen und daher einen höchst prekarisierten Weg längerfristig in Kauf nehmen konnten?
3. #IchBinReyhan und intersektionale Betrachtungsweisen
Die ,anderen‘ Wissenschaftler*innen, vielfach Frauen*, Care-Arbeit Leistende, Nicht-Akademiker*innenkinder, People of Color, Menschen mit Migrationsgeschichte, Nicht-Muttersprachler*innen, Be_hinderte und chronisch Beeinträchtigte, werden entlang der ihnen nicht zugeschriebenen adäquaten Performance und/oder mangels gefragtem Habitus den Wissenschaftsbetrieb früher oder später verlassen, so eine vielfach geteilte Analyse (dazu auch Möller 2018; Rausch 2020; Şahin 2019). Die undichte Pipeline ermöglicht ungesehen ein fließendes Herauströpfeln bzw. eher ein Herausströmen aus der Wissenschaft als Lebensform und verhindert selbstläufig das vom BMBF gefürchtete ‚Verstopfen‘ des Systems.
Was das u. U. ungewollte Verlassen der wissenschaftlichen Laufbahn jedes einzelnen Drop-Outs (Metz-Göckel, Schürmann, Heusgen & Selent 2016) bedeutet, wird selten thematisiert. Ebenso wenig wird den strukturellen Ursachen dieses Drop-Outs – Klassismus, Ableismus, Rassismus im Wissenschaftsbetrieb – ausreichend Aufmerksamkeit geschenkt (Altieri & Hüttner 2020; Brown & Leigh 2020; Gutiérrez Rodríguez 2018). Ferner sind es auch hegemoniale Wissenschafts- und Leistungsideale, die sich insbesondere für Frauen* dahingehend negativ auswirken, dass die für Familie und Sorgearbeit eingeräumten Zeitkontingente als Hemmnis gewertet werden und den Drop-Out aus dem deutschen Wissenschaftssystem verstärken (Metz-Göckel, Heusgen, Möller, Schürmann & Selent 2014). Zu wenig geraten die exkludierenden Strukturen, Mechanismen und Praktiken in den Blick der Kritik, zu oft werden die Gründe der Exklusion bzw. der vermeintlichen Selbstexklusion auf Seiten derjenigen, die herausgedrängt werden, fokussiert.
Unter #IchBinHanna und #IchBinReyhan6 wurde ebenfalls geteilt, dass sich die jeweilige (vermeintlich verdiente) Position im Feld der Wissenschaft nicht mit der (vermeintlich) objektiv messbaren (Eigen-)Leistung erklären lässt, sondern mit dem ausdauernden Aushalten einer höchst prekarisierenden und prekarisierten Lage einhergeht. Wer hält aufgrund welcher externen Umstände und welcher internen Unterstützung in der Wissenschaft am längsten durch? Selbstredend kommen in diesem Zusammenhang gesamtgesellschaftliche soziale Ungleichheitslinien ins Spiel: Eine sehr wirkmächtige scheint o. g. finanzielle Aspekte zu tangieren. Wer mit dem Bafög-Höchstsatz, ggf. einem Studienkredit und einer 50 Prozent-Stelle ins Arbeitsleben der Universität gestartet ist, keinerlei Ersparnisse oder Erbschaften vorzuweisen hat, für die*den ist unabhängig von Interesse und Kompetenz der Weg in die Wissenschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit verstellt.7 Hinzu kommen die o. g. intersektionalen strukturellen Aspekte sowie Fremdheitserfahrungen und von Unsicherheiten geprägte Sozialisationsprozesse im Wissenschaftsbetrieb bei denjenigen, die keine akademisch-bürgerliche Sozialisation im Elternhaus und/oder im Schul- respektive Freund*innenkontext erfahren haben (siehe Beiträge in Reuter, Gamper, Möller & Blome 2020). Einen weiteren Stolperstein – im Speziellen für Frauen – stellen die bekannten Wirkweisen sog. old boy networks dar, die in wissenschaftlichen Kreisen in Punkto ‚Karriereförderung‘ (z. B. in der Promotionsphase, bei Stellenbesetzungen, Publikationen, Vortragsangeboten, im Hochschulmarketing usw.) weiterhin eine Rolle zu spielen scheinen (Krais 2000). Die habituelle klassistische Passungsdifferenz ist wohlmöglich der größte Effekt und entscheidendste Faktor (dazu auch Beiträge in Altieri & Hüttner 2020; Reuter et al. 2020), der dazu führt, dass sich das Feld der Wissenschaft, polemisch formuliert, eher durch Starr- und Trägheit denn durch progressiven (Forschungs-)Fortschritt auszeichnet.
1 Die Autor*innen verweisen mit der Bezeichnung „Jenseits von unbefristeten Professuren“ (Jens* von P.) auf die Strukturen des Wissenschaftsbetriebs, die ein ‚jenseits‘ und ein ‚diesseits‘ und damit eine Positionierung im wissenschaftlichen Feld erzeugen und zählen zu dieser Gruppe Promovierende, Habilitierende, Lehrkräfte für besondere Aufgaben, Mittelbauler*innen, akademische Rät*innen, Vertretungsprofessor*innen, sog. ‚Juniorprofessor*innen‘, Drittmittelbeschäftigte, Wissenschaftliche Mitarbeiter*innen, Stipendiat*innen und weitere, dem Feld eigene Positionsbezeichnungen, die für eine wissenschaftliche Tätigkeit befristet angestellt sind.
2 Zugleich wird an den weiten sozialwissenschaftlichen Diskurs um Prekarisierung angeknüpft, der Prekarisierung ‚überall‘ verortet (Bourdieu 2004), sowie davon ausgeht, dass sich diese Prozesse auch in den Lebenszusammenhang einschreiben (Lorey 2012).
3 Das Narrativ ist keineswegs neu (Kubon 2021), sondern bereits vom Deutschen Bundestag 1984 formuliert worden: „Ohne den laufenden Zustrom junger Wissenschaftler[*innen] und neuer Ideen würde die Forschung erstarren. […] Zeitverträge sind kein Ausnahmefall, sondern ein unentbehrliches Regelinstrument zur Absicherung der Funktions- und Erneuerungsfähigkeit der Forschung“ (Deutscher Bundestag 1984, S. 6, zitiert nach Scheller 2015, S. 1).
4 Als prekär gelten die Arbeitsverhältnisse, da sie zwar überwiegend tarifrechtlich geregelt sind, jedoch durch die stark begrenzte Laufzeit und einen teilweise sehr geringen Stellenumfang als atypisch und unsicher bezeichnet werden können.
5 Die Quantifizierung der eigenen wissenschaftlichen ,Leistung‘ wurde in den Anfängen von #IchBinHanna unter dem Hashtag zunächst geteilt, dann kritisiert und erhielt kurzzeitig u. a. durch #HannaInZahlen wieder Aufwind. Auch der Hirsch- oder researchgate Index nähren weiterhin die Vorstellung, wissenschaftliche Leistung ließe sich messen, geben jedoch lediglich Aufschluss über die Sichtbarkeit im Feld.
6 Der Hashtag #IchBinReyhan verweist auf genau die oben genannten marginalisierten und unterrepräsentierten Stimmen in diesem Diskurs (Şahin 2019).
7 Wobei bei diesem sich im Bildungstrichter abzeichnenden Zusammenspiel von Klasse und Bildungstitel (siehe bspw. Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft 2020) gerne auf die Chiffren „Bildungsherkunft“ (Jaksztat 2014) oder „Habituskonstruktionen“ (z. B. Lenger 2008; Lange Vester 2015) zurückgegriffen wird.
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