von Ulrich von Alemann, Nina Basedahl, Gernot Graeßner und Sabrina Kovacs
Über das Buch
Von Sokrates bis Chantal Mouffe: Dieses Buch bietet eine umfangreiche Übersicht politischer Ideen aus verschiedenen Epochen von der Antike bis hin zur Gegenwart. Im Einklang mit dem Lebensweg der Denker*innen werden ihre Theorien ebenso wie ihre Wirkung in ihrem ideengeschichtlichen Kontext aufgezeigt und miteinander verglichen. Zudem werden Bezüge zu aktuellen politischen Diskursen hergestellt: Demokratietheorie, Identitätspolitik, Freiheit und Gerechtigkeit sowie Toleranz und Streitkultur. Durch die didaktische Aufbereitung des Materials mit Kästen, Übungen und Reflexionsfragen ist dieses Buch ein optimaler Begleiter für den Einstieg in die politische Theorie.
Leseprobe aus den Seiten 245 bis 249
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3 Aktuelle Diskurse und Perspektiven: Demokratietheorie heute
Ulrich von Alemann
3.1 Demokratie ist überall, ist überall auch Demokratie?
Alle Politik erscheint uns heute als Demokratie. Schon die ersten Denker in diesem Band, die griechischen Philosophen der Antike, besonders Platon und Aristoteles, setzten sich mit der Demokratie auseinander. Schließlich haben die Griechen den Begriff Demokratie erfunden (von demos, Volk, und kratein, herrschen). Aber sie entwickelten nicht nur die ersten Theorien dazu, sondern setzten sie auch in die Praxis um. In der direkten Demokratie auf dem Athener Marktplatz (agora) konnten alle Vollbürger ihre Stimme abgeben. Tatsächlich war die Partizipation auf eine kleine Schicht der männlichen vermögenden Vollbürger begrenzt und alle Frauen, Sklaven, Ausländer und Abhängigen wurden ausgegrenzt. Trotz dieser drastischen Einschränkungen: Geliebt haben die griechischen Philosophen die Demokratie nicht, eher befürchteten sie wohl, dass das einfache Volk – der Plebs, der Pöbel – durch Demagogen aufgewiegelt würde, denn die Tugenden der Klugheit, Weisheit und strategischen Weitsicht seien vom Volk nicht zu erwarten.
Dann wurde es fast 1000 Jahre still um die Demokratie – in Theorie und Praxis. Höchstens noch über die Republik (lateinisch res publica, die öffentliche Sache) stritt man sich, die der Monarchie gegenübergestellt wurde: ob im alten Rom oder in den italienischen Stadtstaaten der Renaissance. Fast ein Jahrtausend, nachdem die Griechen Demokratie versucht hatten, befasste man sich im Spätmittelalter erneut mit Volksherrschaft. Bei Marsilius von Padua tauchte indirekt Demokratie wieder im politischen Diskurs auf, nämlich durch den Ruf nach Volkssouveränität. Dieser Ruf schwoll über die nächsten Jahrhunderte an und brach sich Bahn zunächst in der amerikanischen und französischen Revolution Ende des 18. Jahrhunderts. Es brauchte noch weitere fast anderthalb Jahrhunderte, bis der Ruf nach Demokratie auch in Deutschland gehört und umgesetzt wurde, nämlich mit der Weimarer Reichsverfassung von 1918.
Im vergangenen 20. Jahrhundert erlebten wir – wie sich auch in den Texten dieses Buches widerspiegelt – eine Vielfalt von politischen Denkern und Denkerinnen, die Politik nicht mehr von Demokratie trennen können. Der Demokratiegedanke hat einen ungeahnten Siegeszug angetreten. Selbst autoritäre, faschistische oder totalitäre Regime reklamieren für sich in der Regel, eine „echte“ Volksdemokratie zu repräsentieren, die den wahren Volkswillen durch ihre Herrscher verwirklicht. Demokratie ist überall, aber nicht überall ist Demokratie, wo sie draufsteht.
So ist einer der ältesten politischen Diskurse auch eine der jüngsten: Wie hältst du es mit der Demokratie? Unsere Denker und Denkerinnen haben sich in diesem Buch vielfältig dazu geäußert – von Aristoteles bis Chantal Mouffe. In diesem abschließenden Kapitel wollen wir neue Diskurse diskutieren, die so noch nicht angesprochen wurden. Das ist im Fall der Demokratie allerdings eine unendliche Geschichte. Schlagen wir etwa unter Google Scholar „Demokratie“ nach, so erhalten wir nur von 2010 bis heute sage und schreibe 160.000 Fundstellen!
3.1.1 Neue Diskurse
Neben der Geschichte der Demokratie und der Demokratietheorie, die wir gerade im Sauseschritt rekapituliert haben, gibt es viele weitere Perspektiven auf die Demokratie: repräsentative und direkte Demokratie, parlamentarische und präsidentielle, Konkurrenz- und Konsensdemokratie und viele Formen mehr (ein kompakter Überblick bei Schmidt, 2006, ausführlich Schmidt, 2019). Diese können wir hier nur kurz erwähnen, aber natürlich keineswegs ausführlich erörtern (kompakt: Marschall, 2014 und Vorländer, 2003). Entscheiden wir uns also für zwei Diskussionsstränge. Erstens: Wie misst man Demokratie? Zweitens: Ist die Demokratie bedroht?
3.1.1.1 Wie misst man Demokratie?
Kann man Demokratie überhaupt messen? Das war in der Vergangenheit keine Frage: Demokratie hat man oder man hat sie eben nicht. Eine demokratische Verfassung, Volkssouveränität, Rechtsstaatlichkeit, Gewaltenteilung, Grund- und Menschenrechte sind die Voraussetzung und schon hat man eine Demokratie. So lautete die allgemeine Überzeugung in der Nachkriegszeit bis in die 1960er-Jahre im Kalten Krieg. Die Studenten- und die Bürgerbewegungen der 1968er-Jahre störten diesen Konsens. Demokratisierung war nun die Devise. Konservative Kräfte bekämpften das: Eine Demokratie könne man nicht demokratisieren. Progressive dagegen wollten die Gesellschaft überall demokratisch gestalten: Schulen, Hochschulen, Betriebe, Theater, sogar Justizvollzugsanstalten (vgl. von Alemann, 1978). Das ging zu weit. Aber auch der neue Bundeskanzler Willy Brandt propagierte 1969: „Wir wollen mehr Demokratie wagen.“ Konkret wurde allerdings nur das Wahlalter von 21 auf 18 Jahre herabgesetzt. Aber an der Entscheidungskompetenz von Parlament und Regierung wurde nicht gerüttelt.
Trotzdem blieb die Frage offen, nicht, ob der Staat demokratisch sei, sondern wie demokratisch er ist. Erst recht gilt dies seit den Demokratisierungsbewegungen der 1970er- bis 1990er-Jahre: von Spanien und Portugal bis zum gesamten Ostblock seit 1989. Seitdem entstanden immer neue Initiativen in der Wissenschaft, um Demokratie zu messen. Die einfachste Art Demokratie zu messen ist die Typologie, z. B. die Unterscheidung in parlamentarische und präsidentielle Demokratien (Steffani, 1979). Einige Typologien, die oft nur Dichotomien sind, wurden oben schon genannt. Dies ist recht grob, aber meist unmittelbar einleuchtend.
Wenn man eine Skala, die den Demokratiegehalt tatsächlich misst, erstellen will, muss man empirische, quantifizierbare Indikatoren einführen. Ein Pionier auf diesem Gebiet war der Amerikaner Robert A. Dahl. Er entwickelte sieben Merkmale von Demokratie: (1) die Wahl der Amtsinhaber, (2) freie, faire und regelmäßig stattfindende Wahlen, (3) ein inklusives Wahlrecht in dem Sinne, dass alle oder fast alle Erwachsenen bei der Auswahl politischer Ämter nahezu gleichberechtigt sind, (4) passives Wahlrecht für alle oder nahezu alle Erwachsenen, (5) Meinungsfreiheit, (6) Informationsfreiheit und (7) Organisations- und Koalitionsfreiheit sowie insbesondere die Freiheit zur Bildung unabhängiger Parteien und Interessengruppen (Dahl, 1989).
Wenn man nun jedem dieser Items Punkte für einen bestimmten Staat zuordnet – von voll gegeben (10) bis nicht vorhanden (0) –, dann kann man einen Index konstruieren, der ein Demokratie-Ranking der Staaten ergibt. Das ist durchaus ein Erkenntnisgewinn. Viele Autoren haben die Messung verfeinert und mal mehr institutionelle Faktoren, mal mehr gesellschaftliche Faktoren hinzugefügt. Aber das Grundprinzip blieb immer dasselbe: Indikatoren für Demokratie werden entwickelt und dann an der Wirklichkeit gemessen (Lauth, 2004). Zu den ältesten und wichtigsten Demokratie-Messungen gehören der Freedom-House-Index, der Vanhanen-Index und der Bertelsmann-Transformations-Index (vgl. Marschall, 2014, S. 69–78). Zu ihnen findet man reichhaltige Literatur im Internet.
Ergibt das aber eine „objektive“ Messung von Demokratie, so, wie wir Blutdruck oder Wahlbeteiligung messen? Nein, denn die Gewichtungen bleiben immer etwas subjektiv. Ob man der Meinungsfreiheit oder dem Koalitionsrecht, der Sozialstaatlichkeit oder der Rechtsstaatlichkeit (beide bei Dahl nicht vorhanden) mehr Raum gibt, bleibt offen. Deshalb kommen alle Indices auch zu leicht unterschiedlichen Rankings der gemessenen Länder. Insofern ist die Messung von Demokratie zwar wichtig, gerade für junge Demokratien, aber auch für ganz alte wie die USA. Aber es wäre eine Illusion, sich davon harte statistische Fakten und „Wahrheiten“ zu erwarten.
3.1.1.2 Wie bedroht ist die Demokratie?
Die moderne Geschichte der Demokratie entwickelt sich in Schwüngen. Samuel Huntington (1991) unterscheidet drei Wellen:
Die erste Demokratisierungswelle von 1828 bis 1926 etablierte den Kern der westlichen, liberalen, repräsentativen Demokratie in Europa, Nordamerika und Australien. Der Faschismus und der Nationalsozialismus in den 30er- und 40er-Jahren des vorigen Jahrhunderts warf die Demokratien zurück.
Die zweite Demokratiewelle ab 1943 bis 1960 überwand den Rückfall in Autoritarismus und Nationalismus und dehnte die Demokratie auf entkolonialisierte Länder in Afrika und Asien aus.
Die dritte Demokratisierungswelle seit den 1970er-Jahren begann in Portugal und Spanien, griff auf Südamerika über und breitete sich auf den europäischen Osten aus – nach dem Zusammenbruch des Kommunismus ab 1989. Nie zuvor in der Geschichte seien „so viele Länder unterschiedlicher Kultur und Entwicklungsstände“ von den Demokratieschüben erfasst worden (von Beyme & Nohlen, 1995, S. 636; vgl. Marschall, 2014, S. 80).
Konsolidierte Demokratien, die eine stabile Verfassung und beständige demokratische politische Kultur aufweisen, bestehen aus fünf miteinander verschränkten Teilregimen: erstens dem Wahlregime, zweitens den politischen Teilhaberechten, drittens den bürgerlichen Freiheitsrechten, viertens der Gewaltenkontrolle und fünftens der effektiven Regierungsgewalt (Marschall, 2014, S. 84). Wenn mehrere Kriterien nicht mehr gegeben oder garantiert sind, spricht man von „defekten Demokratien“ (Merkel, 2003). Leider haben in den letzten gut 15 Jahren Demokratiedefizite überall auf der Welt zugenommen: in Europa (Polen und Ungarn), in den USA (unter Trump), aber auch in Russland und Belarus, China oder auf den Philippinen.
Schäfer und Zürn haben jüngst ein Buch veröffentlicht mit dem programmatischen und pessimistischen Titel „Die demokratische Regression“ (Schäfer & Zürn, 2021). Sie sprechen von einer doppelten Entfremdung: „Die abstrakte Entfremdung der Praxis vom demokratischen Ideal und die konkrete Entfremdung der Bürgerinnen von den demokratischen Institutionen […]. Im Ergebnis führt die doppelte Entfremdung dazu, dass die Demokratie an Strahlkraft verliert“ (Schäfer & Zürn, 2021, S. 11). Und dies gelte auch für die Kernbereiche der liberalen demokratischen Wohlfahrtsstaaten mitten in Europa: Soziale Ungleichheit und Armut nähmen zu, Rechtspopulismus gewinne in Frankreich und Italien an Bedeutung, in den Benelux-Ländern und der Schweiz, in Skandinavien und eben auch in Deutschland. Erstmals seit 1949 ist hierzulande eine rechtspopulistische Partei im Bundestag und seit 2017 in allen Landtagen vertreten.
Erklärungen für diese Entfremdungen werden in sozioökonomischen Gründen gesucht, in wachsender Ungleichheit und Armut, aber auch in soziokulturellen Faktoren: Die Liberalisierung und Globalisierung der Gesellschaft (Migration) würden von vielen als Bedrohung wahrgenommen. Schäfer und Zürn sind diese beiden Erklärungen zu vordergründig. Auch politisch-selektive Tendenzen müssten ins Auge gefasst werden: sinkende Integrationsfähigkeit der Volksparteien, Kartellierung der Parteien (Große Koalitionen), Abwanderung der Kompetenzen von Parlamenten in nationale und supranationale Exekutiven und so weiter (Schäfer & Zürn, 2021, S. 17ff.).
Ziehen wir ein Resümee mit Schäfer und Zürn: „Der gegenwärtige Rückzug der Demokratie scheint mehr als nur eine vorübergehende Delle. Die optimistische Erzählung, wonach sich die Demokratie in Wellen ausbreitet, zwischen denen lediglich kurze Perioden partieller Rückschritte liegen, deckt sich kaum mit der tatsächlichen Entwicklung. Vielmehr hat sich im Nachhinein vor allem die Zeit von 1945 bis zum Ende des 20. Jahrhunderts als eine Phase der weltweiten Demokratisierung erwiesen. Dieses halbe Jahrhundert war allerdings durch positive Rahmenbedingungen gekennzeichnet, die heute nicht in derselben Weise bestehen. Die demokratische Progression war weniger das Resultat einer unausweichlichen Fortschrittslogik, sondern vielmehr einer spezifischen historischen Konstellation geschuldet. Die Veränderung dieser historischen Konstellation, […] ermöglicht nun die demokratische Regression. Gesellschaften gleiten nicht auf einer vorgezeichneten Trasse auf das Ziel der liberalen Demokratie zu, sondern entwickeln sich durch politische Konflikte und Kämpfe um die Ausweitung sozialer und demokratischer Rechte – und diese Konflikte können die Fahrt nicht nur verlangsamen, sondern auch zu einem Wechsel des Zielbahnhofs führen“ (Schäfer & Zürn, 2021, S. 12).
3.1.2 Ausblick
Das klingt sehr pessimistisch. Immerhin haben die Autoren an den Schluss ihres Buches einige Reformvorschläge gestellt, die zeigen, dass sie nicht einfach Schwarzseher sind. Am Ende dieses Kapitels soll ein positiver Ausklang stehen. Deutlich optimistischer sind die Schlusssätze des Buches von Hedwig Richter Demokratie. Eine deutsche Affäre. Vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart (2020), die als Historikerin 200 Jahre der deutschen Demokratieentwicklung Revue passieren lässt: „Demokratie hat eine wunderbare und wunderliche Geschichte. Sie ist eine Affäre voller Krisen, aber auch voller Glück und Neuanfang, gerade für die Deutschen. Die Affäre geht weiter. Die Zukunft ist offen, und vermutlich ist sie hell“ (Richter, 2020, S. 326).
Die Wahrheit liegt wahrscheinlich in der Mitte. Demokratien wie die deutsche sind nicht so leicht zu erschüttern. Aber die Gefahr, dass sogar in einem Kernland Europas rechtspopulistische Kräfte eine Mehrheit erringen, ist nicht von der Hand zu weisen. Deshalb müssen Defizite der Repräsentation aktiv mit Reformagenden angepackt werden. Demokratie ist nie etwas Selbstverständliches, sondern ein labiles Gut.
Nun noch einige Hinweise für Interessierte, die weiterlesen möchten. Einen guten historischen Überblick über Demokratietheorien bieten Massing und Breit (2002). Der systematische Klassiker ist Sartori (2006) und der einflussreiche Dahl (1956) immer noch aktuell. Den besten umfassenden Einblick gibt Schmidt (2019), sehr tiefschürfend Raschke (2020). Zwei kurze Schnellinformationen kann man sich bei Vorländer (2003) und Marschall (2014) holen.
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