Geblättert: Leseprobe aus „Das Frauen- und Mutterbild im Nationalsozialismus und seine Auswirkungen bis heute“

Cover "Das Frauen- und Mutterbild im Nationalsozialismus und seine Auswirkungen bis heute"

Das Frauen- und Mutterbild im Nationalsozialismus und seine Auswirkungen bis heute
Eine sozialpsychologische Untersuchung zu unbewussten Übernahmen

von Maike Wagenaar

 

Über das Buch

Wie hat der Nationalsozialismus unsere heutigen Vorstellungen von Frauen und Mutterschaft geprägt? Anhand von Gruppendiskussionen und des Rückgriffs auf Auswertungskonzepte der Psychoanalyse zeichnet die Autorin nach, wie Geschlechterbilder über drei Generationen fortgeführt werden. Die Studie beschäftigt sich eingehend mit Geschlechterkonstruktionen im Nationalsozialismus und zeigt dabei auf, dass auch Männer- und Väterbilder aus der NS-Zeit das Leben und die Einstellungen der lebenden Generationen beeinflussen.

Leseprobe aus den Seiten 11 bis 15

 

***

2 Grundlegende Einführung

Diese Arbeit widmet sich unbewussten Übernahmen in Bezug auf das Frauen- und Mutterbild. Dazu ist es nötig, zunächst einmal psychoanalytische und sozialpsychologische Grundlagen voranzustellen. Da es sich um eine Untersuchung zu unbewussten Übernahmen aus der Zeit des Nationalsozialismus und damit auch aus der Zeit des Zweiten Weltkrieges handelt, ist es darüber hinaus nötig, sich mit den Themen Schuld und Schuldgefühle, Schweigen und auch Traumata auseinanderzusetzen. Alle drei Themenbereiche stehen in einem Wirkzusammenhang mit dieser Zeit. Und sie haben einen Einfluss auf unbewusste Übernahmen bis heute, wie die Arbeit noch zeigen wird. Deshalb sollen diese Themenbereiche hier zunächst theoretisch fundiert werden.

 

2.1 Psychoanalytische Grundlagen

2.1.1 Lust – Unlust und die Objekte

Freud stellt in seiner Libidotheorie fest, dass „Sexualregungen nicht von den sogenannten Geschlechtsteilen allein, sondern von allen Körperorganen geliefert werden“ (Freud 1905, S. 118). Die Nahrungsaufnahme, als erste externe Sexualbefriedigung und die Mutterbrust als erstes externes Sexualobjekt sieht Freud in der oralen Entwicklungsphase (vgl. ebd. S. 123). Dabei gibt es keine Differenzierung zwischen der Sexualität und der Nahrungsaufnahme, die Befriedigung erfolgt durch die Einverleibung des Objektes (vgl. ebd.). In der sogenannten ‚oralen Phase‘ wird die Mundregion zum Hauptinteresse der autoerotischen Befriedigung, gefolgt von der ‚sadistisch-analen Phase‘, die durch den sadistischen Partialtrieb beherrscht wird und sich insbesondere auf die Befriedigung durch Bemächtigung fokussiert (vgl. Freud 1915, S 231).

Erst im Laufe der Zeit erfolgt eine immer stärkere Differenzierung zwischen „Subjekt (Ich)–Objekt (Außenwelt)“ (ebd. S. 226), mit der der Mensch sich zum eigenen Wesen entwickelt und sich seiner bewusst wird. Damit verliert sich zunächst auch die Befriedigung durch ein fremdes Sexualobjekt und die Befriedigung wird autoerotisch (vgl. Freud 1905, S 123). Mit der Pubertät und dem Ödipuskomplex wird dann nach einer Latenzzeit die eigentliche genitale Sexualität entwickelt und wieder auf das Objekt im Außen fokussiert (vgl. ebd. S. 135).

Freud führt 1915 in seinem Aufsatz Triebe und Triebschicksale den Begriff des Triebreizes ein, der aus seiner Sicht einen Reiz des Inneren darstellt. Diesen Triebreiz bezeichnet er als Bedürfnis, das durch die Befriedigung aufgehoben wird. Diese Befriedigung kann nur erlangt werden, wenn die Quellen des inneren Reizes entsprechend verändert werden. Bei Außenreizen ist eine Veränderung, also auch eine Reduktion des Reizes z.B. durch Flucht möglich, jedoch nicht bei inneren Reizen. So kann der Trieb als innerer Reiz verstanden werden, wobei auch ein innerer Reiz einen äußeren Auslöser haben kann (vgl. Freud 1915, S. 211ff.). Er geht davon aus, dass das Innere dem Lust-Unlust-Prinzip unterliegt, welches nach Lust strebt und danach, Unlust zu vermeiden oder zu verringern. Als Ziel des Triebes sieht er „die Befriedigung, die nur durch Aufhebung des Reizzustandes an der Triebquelle erreicht werden kann“ (ebd. S. 215).

Das Sexualleben ist beim Säugling zunächst vor allem auf die eigene Person bezogen und unverbunden auf Partialtriebe ausgerichtet (vgl. Freud 1905, S. 98). Das Ich ist also fähig, seine Triebe teilweise selbst zu befriedigen. Das Ich wird dabei als lustvoll erlebt, die Außenwelt als unlustvoll oder unbedeutend. Dies bezeichnet Freud als (primären) Narzissmus (vgl. Freud 1915, S. 227). Es werden jedoch aus der Umwelt Dinge aufgenommen, wie z.B. Nahrung, die wiederum als Lustquellen erlebt werden und andererseits Reaktionen der Unlust in Bezug auf das Ich auslösen.

Der ungarische Nervenarzt Sandor Ferenczi, der neben Karl Abraham wohl sein bedeutendster Schüler war (vgl. Balint in Ferenczi 1982, S. V), veröffentlicht erstmals 1909 eine psychoanalytische Studie mit dem Titel: Introjektion und Übertragung (Ferenczi 1910). Darin setzt er sich mit Freuds Überlegungen zum Unbewussten auseinander und führt den Begriff des ‚Introjizierens‘ ein:

„Es stellt sich heraus, daß im ‚Unbewußten‘ (im Sinne Freuds) alle im Laufe der individuellen Kulturentwicklung verdrängten Triebe aufgestapelt sind und daß deren ungesättigte, reizhungrige Affekte stets bereit sind, sich auf die Personen und Gegenstände der Außenwelt zu „übertragen“, dieselben mit dem Ich unbewusst in Beziehung zu bringen, zu ‚introjizieren‘“ (ebd. S. 18).

Freud bezieht sich explizit auf Überlegungen Ferenczis:

„Es nimmt die dargebotenen Objekte, insofern sie Lustquellen sind, in sein Ich auf, introjiziert sich dieselben (nach dem Ausdrucke Ferenczis) und stößt andererseits von sich aus, was ihm im eigenen Innern Unlustanlaß wird“ (Freud 1915, S. 228).4

Um diesem Spannungsfeld der inneren Unlust zu entgehen, wird sich mit dem, was hier unter Introjektion verstanden wird, die Lust einverleibt und dann als Teil des Ichs erlebt, während die Unlust ins Außen, also die Umwelt übertragen wird.

Den Hass sieht Freud als „uranfängliche […] Ablehnung der reizspendenden Außenwelt“ (ebd. S. 231) und als Reaktion auf durch die Außenwelt hervorgerufene Unlustgefühle. So kommt es immer wieder zu Ambivalenzen zwischen den Interessen des Ich nach Eigenliebe und denen nach Liebe im Außen. Dabei kommt es teilweise zu Regressionen auf die sadistisch-anale Phase, in der die Liebe zum Objekt sich in Hass wandelt und somit weiterhin eine erotische Komponente aufweist (vgl. ebd. S. 232).

Es bleibt also im ersten Schritt festzuhalten, dass nach Freud ein Spannungsverhältnis von Lust und Unlust besteht, das durch die Delegation der Unlust ins Außen und die Einverleibung lustvoller Objekte, um diese als dem Ich zugehörig zu erleben, in ein Gleichgewicht gebracht wird.

Im Gegensatz zu Freud sieht Fairbairn das Kind von Anfang an als eigenständiges, von der Mutter getrenntes Subjekt, das jedoch aufgrund der Abhängigkeit in der Versorgung auf enge Bezugspersonen angewiesen ist (vgl. Fairbairn 2007, S.70). Hensel und Rehberger sehen Fairbairns Verdienste vielfältig: „Er war der erste, der die Entwicklung des Selbst auf Objektbeziehungen zurückführte. Er stellte fest, daß primäre, nicht pathologische Beziehungen interpersonal sind. Im Gegensatz dazu werden primäre, pathologische Interaktionen introjiziert (internalisiert)“ (Hensel/Rehberger 2007, S. 7).

Fairbairn sieht in seiner Objektbeziehungstheorie in der Internalisierung von Objekten einen Abwehrmechanismus des Kindes, um die als unbefriedigend erlebte Beziehung zur frühen Bezugsperson zu regulieren (vgl. Fairbairn 2007, S. 275). Ermann beschäftigt sich in seinem umfassenden Lehrbuch zur psychosomatischen Medizin und Psychotherapie mit den Ansätzen Freuds und deren (Weiter-) Entwicklungen (vgl. Ermann 2007).

Darin beschreibt er den psychodynamischen Ansatz aus psychoanalytischer Sicht mit drei wichtigen Determinanten: Selbst-Repräsentanzen als Vorstellungen des Menschen von seiner eigenen Person, Objekt-Repräsentanzen als Vorstellungen von anderen Objekten, in diesem Fall von anderen Menschen, und als dritten Faktor Beziehungs-Repräsentanzen als Korrespondenz- Repräsentanzen zwischen der Person selbst und anderen Objekten. Objekt-Repräsentanzen werden, wie oben erörtert, in frühester Kindheit aufgebaut und dienen der Verarbeitung von Informationen, die an die Person (das Kind) herangetragen werden bzw. von Gefühlen, die sowohl Lust- als auch Unlustgefühle sein können (vgl. Ermann 2007, S. 35). Dabei werden die Objekte durch das Kind und seine Vorstellungen und Impulse verändert (vgl. Heimann 2016, S. 102). „Wir erfahren die Charakterzüge anderer Menschen in unserem Inneren. (Ich schlucke das hinunter, ich verleibe es mir ein.)“ (Kernberg et al. 2001, S. 75).

 

2.1.2 Das Ich und das Es

Freud spricht beim Ich „von einer zusammenhängenden Organisation der seelischen Vorgänge in einer Person“ (Freud 1923, S. 243). Von diesem Ich geht das Bewusstsein aus und auch die Kontrolle über alle seelischen Vorgänge. Dazu gehört auch die Abwehrfunktion, die es ermöglicht, Gegebenheiten, beispielsweise durch Verdrängung, vom Ich fernzuhalten. Die Abwehrfunktionen wie auch wichtige andere Anteile des Ich sind unbewusst. Freud sieht zwei Formen des Unbewussten: einerseits das Verdrängte, das in der Regel nicht ohne Weiteres ins Bewusstsein dringt, welches er als ‚unbewusst‘ bezeichnet, andererseits das Latente, das durchaus ins Bewusstsein dringt, das er als ‚vorbewusst‘ tituliert (vgl. ebd. S. 241). Neben den beiden Formen des Unbewussten sieht er noch das Bewusste bzw. das Bewusstsein, das, ebenso wie das Es, einen Teil des Ichs ausmacht und als Solches auch für die Verdrängung verantwortlich ist. So gibt es auch im Ich einen unbewussten Anteil, der sich als vom zusammenhängenden Ich abgespaltenes Verdrängtes darstellt (vgl. ebd. S. 244).

 

2.1.3 Inkorporation, Introjektion und Identifikation

In den vorherigen Ausführungen ist deutlich geworden, dass nach Freuds psychoanalytischem Verständnis Menschen einerseits danach streben, lustvolle Empfindungen zu haben, andererseits Unlust zu vermeiden. Überdies ist dabei deutlich geworden, dass Internalisierung, also die Hineinnahme von Äußerem in das eigene Innere, eine hohe Bedeutung hat. Seidler (2008) sieht Internalisierung als Oberbegriff für drei Formen der Verinnerlichung:

Inkorporation bezeichnet demnach eine Internalisierung im frühen Entwicklungsstadium mit Selbst- und Objekt-Repräsentanzen, die wenig differenziert ausgebildet sind. Es entsteht eine orale Phantasie der Zerstörung des Objekts durch die eigene Einverleibung.

Introjektion bezeichnet die differenziertere Inkorporation, bei der die Einverleibung als symbolhaft und nicht tatsächlich verstanden werden kann. Dabei können dann introjizierte Objekte auch „sowohl überwiegend aggressiv als auch überwiegend libidinös besetzt sein“ (ebd. S. 365).

Identifikation stellt nach Seidler die höchste Stufe der Aneignung dar. Dabei werden Funktionen und/oder Eigenschaften des Objektes der Identifikation übernommen (vgl. ebd. S. 364f.).

Freud sieht die Einverleibung auch als Vorbild der Identifizierung, die im späteren Lebensverlauf eine wichtige Rolle einnimmt (vgl. Freud 1905, S. 98).

In der Literatur wird diese Unterscheidung der Begriffe nicht immer trennscharf vorgenommen (vgl. Hirsch 2017, S. 103). Kernberg bezeichnet Introjektion, Identifizierung und Ichidentität als „drei Ebenen des Prozesses der Internalisierung von Objektbeziehungen im psychischen Apparat“ (Kernberg 1981, S. 20 f.) und fasst sie als „Identifizierungssysteme“ (ebd. S. 21) zusammen. Der Psychoanalytiker Mathias Hirsch bemüht sich um eine Differenzierung der Begriffe, indem er sich an Sandler anlehnt:

„Identifikation ist der Prozeß, in dem auf der Basis eines Aspekts einer Objektrepräsentanz eine Veränderung in der Selbst-Repräsentanz stattfindet. Man könnte in gewisser Weise sagen, daß ein Objekt in das Selbst hineingenommen worden ist. Introjektion ist sozusagen das Aufrichten eines inneren Begleiters, mit dem man im Dialog stehen kann, der aber nicht ein Teil der Selbst-Repräsentation ist. Das Introjekt ist so eher ein Beifahrer, jemand, der einem entweder freundlich oder unfreundlich erzählt, was man tun soll, und mit dem man einen unbewußten Austausch haben kann, genau wie er bewußt auch mit realen äußeren Objekten stattfinden kann.“ (Sandler 1987, S. 52; zit. nach Hirsch 2017, S. 104).

Folgt man diesem Gedanken, so ist ein Introjekt ein einverleibtes Objekt, das jedoch immer Anzeichen einer gewissen Fremdheit im eigenen Erleben aufweist. Introjekte sind somit im Verständnis für diese Arbeit einverleibte Objekte aus der Interaktion mit anderen Personen, die in das Über-Ich integriert werden, jedoch als Ich-dyston erlebt werden, während Identifikationen durch die Aufnahme von Anteilen aus dem Außen zu einer Selbst-Veränderung führen.5 Internalisierungen sind demnach einverleibte äußere Objekte in das seelische Innere, die auf unterschiedlichen Strukturebenen vorgenommen zu einem unterschiedlichen Grad der Integration in das eigene Ich führen.

Gehen wir nun davon aus, dass die ersten Beziehungserfahrungen äußerst prägend für die weitere Beziehungsgestaltung sind, so ist davon auszugehen, dass ein großer Teil der Internalisierung von Elternobjekten, also den Eltern als Bezugs- und Liebes-Objekten, vorgenommen wird. Um die Dynamik zwischen den Generationen näher in den Blick zu nehmen, soll im Weiteren der Generationenbegriff geklärt werden.

___

4 Zitate aus Werken vor der Rechtschreibreform werden in der Originalschreibweise wiedergegeben. Hervorhebungen in Zitaten sind, soweit nicht anders angegeben, immer aus dem Original übernommen.

5 Das Über-Ich bezeichnet nach Freud die stark strafende und kritisierende unbewusste Dimension des Selbst neben den beiden Aspekten des Ich und des Es (vgl. Freud 1933a, S. 29).

***

Sie möchten gern weiterlesen?

 

Jetzt versandkostenfrei im Budrich-Shop bestellen

Cover "Das Frauen- und Mutterbild im Nationalsozialismus und seine Auswirkungen bis heute"Maike Wagenaar:

Das Frauen- und Mutterbild im Nationalsozialismus und seine Auswirkungen bis heute. Eine sozialpsychologische Untersuchung zu unbewussten Übernahmen

 

 

© Titelbild: gestaltet mit canva.com