von Merle Dyroff, Sabine Maier, Marlene Pardeller und Alex Wischnewski (Hrsg.)
Über das Buch
Seit einiger Zeit werden in Deutschland zunehmend die Begriffe Femizid oder Feminizid benutzt, um auf strukturelle Ursachen von Tötungsdelikten an Frauen und Queers zu verweisen. In Lateinamerika hingegen haben schon in den frühen 2000er Jahren zivilgesellschaftliche Gruppen und feministische Wissenschaftler*innen damit begonnen, den Zusammenhang von tödlicher Gewalt gegen Frauen und einer hierarchischen Zweigeschlechtlichkeit zu betrachten und zu kritisieren. Sozialwissenschaftler*innen, Anthropolog*innen und Jurist*innen von Mexiko bis Argentinien haben sich genauer mit den Erscheinungsformen, Ausmaßen, Ursachen und Kontexten von Feminiziden auseinandergesetzt und politische Antworten gesucht. Die Herausgeberinnen machen in diesem Band eine Auswahl an übersetzten Texten zugänglich, die von oft zitierten Standardwerken zum Feminizid-Begriff bis hin zu aktuellen Debatten mit einer stärker intersektionalen Perspektive reichen.
Leseprobe aus den Seiten 11 bis 14
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Einleitung: Zur Relevanz der Feminizid-Forschung aus Lateinamerika
von Merle Dyroff, Sabine P. Maier, Marlene Pardeller und Alex Wischnewski
Die Debatte um Feminizide in Deutschland ist relativ jung, doch das übergeordnete Thema geschlechtsbezogener Gewalt gegen Frauen wird schon seit mehreren Jahrzehnten von feministischen Aktivist*innen und Forscher*innen bearbeitet. Wir unternehmen daher zunächst einen Versuch, die explizite Thematisierung tödlicher Gewalt gegen Frauen in (West-)Deutschland nachzuzeichnen. Dann wenden wir uns den lateinamerikanischen Kontexten zu, um zu zeigen, wie das Konzept femicide aus dem englischsprachigen Werk von Russell/Radford (1992) aufgegriffen, übersetzt, weiterentwickelt und ausdifferenziert wurde. Zuletzt geben wir einen kurzen inhaltlichen Überblick über die im Buch abgedruckten Texte.
1) Die Thematisierung tödlicher Gewalt gegen Frauen in der (west-)deutschen Frauenbewegung
Wir sind als Herausgeberinnen der Frage nachgegangen, inwieweit bislang in Deutschland tödliche männliche Gewalt gegen Frauen von feministischen Bewegungen und Wissenschaftler*innen thematisiert wurde. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit haben wir versucht, eine Entwicklung nachzuzeichnen. Ausgangspunkt war dabei die sogenannte zweite Welle der Frauenbewegungen in der BRD in den 1970er und 1980er Jahren, in der die Problematisierung männlicher Gewalt gegen Frauen eine zentrale Rolle spielte. Dieser Teil des Textes schließt mit den ersten wissenschaftlichen Forschungsarbeiten, die sich mit Feminiziden auch unter Bezugnahme auf den Begriff auseinandersetzen. Eine Untersuchung der Thematisierung von männlicher Gewalt in der DDR konnten wir leider nicht leisten.
Der Drang, aus der Beschränkung des privaten Raums auszubrechen, war im Westdeutschland der Nachkriegszeit zumindest in Hinsicht auf die Gewalt im Geschlechterverhältnis groß. Die Geschlechterarrangements der Zeit müssen sich erdrückend angefühlt haben. Frauen war der Zugang zu Öffentlichkeit, Politik und Selbstbestimmung größtenteils verwehrt und ihre Unterordnung unter das männliche Geschlecht auf rechtlicher Ebene abgesichert – Beispiele hierfür sind etwa die rechtlichen Bestimmungen zur Notwendigkeit der Zustimmung des Ehemannes zum Abschluss eines Arbeitsvertrags für verheiratete Frauen oder zum Besitzen von Bankkonten (Gekeler 2019), die fehlende Anerkennung der Vergewaltigung in der Ehe als Straftat (Pizzey 1976: 171) oder die Pathologisierung von trans Personen (Markwald 2020: FN 38).
Ein entscheidender Schritt für die westdeutschen feministischen Bewegungen in den 1970er und 1980er Jahren war vor diesem Hintergrund das Heraustreten aus der Isolation der eigenen vier Wände und die Erkenntnis, dass die erfahrene Unterdrückung und Gewalt kein Einzelschicksal, sondern im Gegenteil ein strukturelles Problem darstellten. In ihren zunächst privaten Gesprächen stellten Frauen – die meist weiß, verheiratet, hetero oder lesbisch, katholisch oder protestantisch und cis und zudem Angehörige der Mittelschicht waren – bald fest, dass viele von ihnen durch Ehemänner, in Partnerschaften oder in der Familie alltäglich psychische und physische Gewalt erlebten. Der Austausch über die erlebte Gewalt, ebenso wie die Analyse der gesellschaftlichen Zusammenhänge und das Entwickeln von Gegenstrategien fand dabei zu großen Teilen in sogenannten Selbsterfahrungsgruppen statt. Sie agierten autonom jenseits von staatlichen Institutionen und in ihnen politisierten sich viele Frauen (zu den Selbsterfahrungsgruppen der autonomen Frauenbewegung in Deutschland siehe Gerhard 2009: 110ff, Lux 2022: 215ff). In diesen Zusammenhängen trieben sie den Prozess der feministischen Bewusstseinsbildung wesentlich voran. Als die Feminist*innen ihren Angriff auf die Grenzen zwischen öffentlichem und privatem Bereich begannen, standen ihnen jedoch nur wenige Begriffe und Erklärungen für die männliche Gewalt und deren gesellschaftliche Legitimation zur Verfügung – sie mussten erst erarbeitet werden (vgl. Lenz 2010: 284).
Der Kampf gegen Vergewaltigung stellte zusammen mit der Forderung nach Abschaffung des § 218 StGB, der Schwangerschaftsabbruch kriminalisiert, und dem Kampf um die Entkriminalisierung von Homosexualität (§ 175 StGB) das zentrale Politikum in der Frauenbewegung der 1970er Jahre dar (vgl. FFGZ-Doku zum 20-jährigen Bestehen 1998). Den sich organisierenden Frauen war in ihren Auseinandersetzungen jedoch durchaus bewusst, dass sie in ihren Kämpfen auch Fragen des Lebens und Überlebens verhandelten. Fragen des Lebens, da sie ihre Lebenszeit selbst bestimmen wollten, und Fragen des Überlebens, weil sie sich gegen die angedrohte oder konkrete männliche Gewalt, die nicht selten die Reaktion auf ihre selbstbestimmte Form zu leben darstellte, zur Wehr setzten.
Das in dieser Zeit erarbeitete Wissen und die Skandalisierung der Gewaltförmigkeit einer Gesellschaft, die nach dem Prinzip männlicher Verfügungsansprüche und der Anforderung weiblicher Unterordnung strukturiert ist, zog jedoch bis heute keinen fundamentalen gesellschaftlichen Wandel nach sich. Statt die aufkommende Kritik der gewaltvollen Normalität aufzugreifen, waren die öffentlichen und privaten Reaktionen zumeist antifeministisch und misogyn. Statt die Gewalt und die Männer, die sie ausüben, ins Visier zu nehmen, wurden einzelne Frauen als Täterinnen diffamiert. So gab es eine auffällige Fokussierung auf lesbisch lebende Frauen, die aus Notwehr Tötungen begingen. Ein prominentes Beispiel ist der Fall Itzehoe im Jahr 1972, bei dem das lesbische Paar Marion Ihns und Judy Anderson Marions Ehemann ermorden ließ, nachdem dieser sie jahrelang vergewaltigt und physisch misshandelt hatte. Die Täterinnen wurden öffentlich bloßgestellt, als blutrünstige Mörderinnen inszeniert und damit „die Lesbe“ zu einer Art gesellschaftlichem Feindbild gemacht. Die lebensbedrohlichen Angriffe des gewalttätigen Ehemanns hingegen wurden kaum erwähnt, geschweige denn problematisiert (Dennert et al. 2007: 43). Bei einem jährlich stattfindenden internationalen Treffen lesbischer, hauptsächlich cis Frauen auf der dänischen Insel Femø (Dennert et al. 2007: 43) wurde über diese medialen und gesellschaftlichen Darstellungen diskutiert, die in ähnlicher Weise auch in den USA anzutreffen waren (siehe dazu auch Feministische Projekte in Berlin 1974–78; Women in Transition 1975). Angesichts des Ausmaßes männlicher Gewalt gegen Frauen und der die Tatsachen verzerrenden gesellschaftlichen Reaktionen wurde ausgehend vom Treffen in Femø entschieden, im Jahr 1976, das die Vereinten Nationen zum Internationalen Jahr der Frau ausriefen, in Brüssel ein unabhängiges internationales Treffen zum Thema Gewalt gegen Frauen zu organisieren. Die Entscheidung für den Zeitpunkt des Treffens kam nicht zuletzt zustande, da es als Verhöhnung empfunden wurde, vor dem Hintergrund der weltweiten männlichen Gewalt und Aberkennung weiblicher Selbstbestimmung, ein Jahr der Frau feiern zu sollen (Internationales Tribunal zu Gewalt gegen Frauen o.J.).
Das internationale Tribunal zu Verbrechen gegen Frauen in Brüssel (i.O.: International Tribunal on Crimes Against Women) 1976 wurde von unabhängigen lesbischen und heterosexuellen, vor allem cis Frauengruppen in 112 Ländern vorbereitet. Am Tribunal nahmen Frauen und feministische Gruppen aus 40 Ländern teil, um sich über ihre Erfahrungen und ihr Wissen zum Thema männliche Gewalt gegen Frauen auszutauschen. Das Treffen in Brüssel stärkte die internationale Vernetzung. Von der Präsenz von trans Frauen ist in den Protokollen nichts zu lesen. Auch die Agenda des Treffens umfassten keine Punkte zu den Anliegen von trans Frauen. Die auf dem Tribunal präsenten Themen waren sexuelle/sexualisierte Gewalt, Freiheitsentzug in psychiatrischen Einrichtungen, Zwangssterilisierungen sowie erzwungene Mutterschaft und tödliche Gewalt (vgl. Russell/Van de Ven 1976). Es war die südafrikanische, in den USA lebende Sozialwissenschaftlerin und Aktivistin Diana E. H. Russell, die in diesem Zusammenhang erstmalig von femicides (Femiziden) sprach. Der Begriff wurde im deutschsprachigen Raum vorerst jedoch nicht aufgegriffen, auch wenn die Existenz des Phänomens sowohl im Kontext der feministischen Frauenbewegung als auch in der feministischen Theoriebildung erkannt wurde.
Bei Demonstrationen und auf Flugblättern, in Reden und Zusammenkünften wurden die auch damals stattfindenden Feminizide skandalisiert und in einen Zusammenhang mit anderen patriarchalen Gewaltformen gebracht (Lenz 1975–1993a, Lenz 1975–1993b, Lenz 1968–1972, Ohl 1974–1978). Die Rede war von Morden und die Ermordeten waren in den Anklagen präsent. Die Künstlerin Sarah Haffner formuliert es auf einer Großdemonstration gegen Vergewaltigung in Berlin 1977 so:
Eine Frau ist ermordet worden, und die Zeitung spricht von einem vermutlichen Verbrechen gegen die Sittsamkeit. […] Susannes Tod soll uns alle treffen, und er trifft uns alle. Das, was uns heute zusammenführt, ist Wut. […] Laßt uns für unsere Freiheit kämpfen! (Haffner 1977: 4f, zit. nach Lenz 2010, Herv.i.O.)
In wissenschaftlichen Publikationen kam, nicht selten in den Einleitungen, das Töten von Frauen als eine Form männlicher Gewalt zur Sprache. So schreiben beispielsweise Erica Fischer, Brigitte Lehmann und Kathleen Stoffl im Vorwort ihres 1977 herausgegebenen Bands Gewalt gegen Frauen:
Fälle von Gewalt gegen Frauen werden als Ausnahmeerscheinung dargestellt. […] Nirgendwo werden so viele Frauen zusammengeschlagen und ermordet wie in der Privatheit der Kleinfamilie –, dennoch wird die Gewalt auf Minderheiten projiziert, auf Kriminelle, Abartige, Perverse. (Fischer et al. 1977: 3, Herv.d.Hg.)
Auch Sarah Haffner spricht von Morden, wenn sie sich in ihrem Buch Frauenhäuser. Gewalt in der Ehe und was Frauen dagegen tun die Frage stellt, warum ihr das Thema Frauenmisshandlung lange nicht bewusst war:
Hätte ich es nicht trotzdem wissen müssen, gab es nicht Anzeichen genug? Z.B. Zeitungsberichte über Morde oder schwere Mißhandlungen von Frauen „nach einem Ehestreit“? (Haffner 1976: 6)
Anette Dröge ist die einzige Autorin, die wir gefunden haben, die in den 1970er Jahren die von trans und cis Frauen erlebte Gewalt miteinander verknüpft (Dröge 1977). Tötungen von Frauen durch Männer wurden also benannt, wenn auch nicht mit dem Begriff Feminizid. Die entstehenden Hilfsangebote waren stets an den Bedarfen der Frauen orientiert und trugen durch eigens durchgeführte Analysen und Erhebungen zur Generierung eines breiteren Wissens über die patriarchalen Gewaltverhältnisse bei (vgl. Hagemann-White 2002: 32f). Angestoßen durch die Proteste der zweiten Frauenbewegung entstanden in den 1970er und -80er Jahren etliche Forschungsarbeiten zu männlicher Gewalt gegen Frauen (z.B. Benard/Schlaffer 1978, Brückner 1983, Hagemann-White et al. 1981).
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